Inklusion braucht einen Perspektivwechsel – Dimensionen gelingender inklusiver musikkultureller Bildung
Abstract
Theorien und Konzepte zur Inklusion sind seit Jahren Gegenstand wissenschaftlicher Diskussionen, in denen sich die Inhalte und Formulierungen deutlich voneinander unterscheiden und aus den diversen Perspektiven bereits dargestellt und diskutiert wurden. Inklusion ist in jedem Fall ein Prozess, der sich auf alle Menschen und damit auch auf ihre potenziell gleichberechtigten Zugänge zu künstlerischen Bildungsprozessen bzw. ihre Teilhabe an kulturellen, künstlerischen Projekten bezieht, und als gesamtgesellschaftliche Aufgabe über die gesamte Lebensspanne zu verstehen ist.
„Jeder Mensch ist fähig, Musik zu erleben und zu produzieren und in diesem Sinne musikalisch.
Diese Musikalität und damit jede musikalische Anlage ist entwickelbar“ (Probst 2000)
Inklusion in Theorie und Praxis
Theorien und Konzepte zur Inklusion sind seit Jahren Gegenstand wissenschaftlicher Diskussionen, in denen sich die Inhalte und Formulierungen deutlich voneinander unterscheiden und aus den diversen Perspektiven bereits dargestellt und diskutiert wurden. Zwei unterschiedliche Sichtweisen sollen hier noch einmal skizziert werden. Im „Handlexikon Geistige Behinderung“ beschreibt Theunissen den Begriff Inklusion in Bezug auf die Behindertenarbeit. Der Begriff stehe für die Nicht-Aussonderung und gesellschaftliche Zugehörigkeit von Menschen mit Behinderung (vgl. Theunissen 2007:171). Hinz (2006) hingegen beschreibt Inklusion „als einen allgemeinpädagogischen Ansatz, der auf der Basis von Bürgerrechten argumentiert, sich gegen jede gesellschaftliche Marginalisierung wendet und somit allen Menschen“ unabhängig von Alter, Herkunft, Geschlecht, Behinderungserfahrungen, mit allen Fähigkeitsprofilen, mit kognitiven Einschränkungen ebenso wie mit Hochbegabungen „das gleiche volle Recht auf individuelle Entwicklung und soziale Teilhabe ungeachtet ihrer persönlichen Unterstützungsbedürfnisse zugesichert sehen will.“ (vgl. Tiedeken 2012:1) Inklusion ist in jedem Fall ein Prozess, der sich auf alle Menschen und damit auch auf ihre potenziell gleichberechtigten Zugänge zu künstlerischen Bildungsprozessen bzw. ihre Teilhabe an kulturellen, künstlerischen Projekten bezieht, und als gesamtgesellschaftliche Aufgabe über die gesamte Lebensspanne zu verstehen ist (siehe die Beiträge "Inklusion als Aufgabe und Chance für alle" von Barbara Brokamp und "Zur Diskussion der Begriffe Diversität und Inklusion - mit einem Fokus der Verwendung und Entwicklung beider Begriffe in Kultur und Kultureller Bildung" von Susanne Keuchel ).
Die Disability Studies, die in Deutschland ihre Wurzeln in der politischen Behindertenbewegung/ Krüppelbewegung in den 1980er Jahren hatten, wenden sich vehement gegen die Therapeutisierung ihres Alltags und jede Art von Bevormundung. Grundlage für erfolgreiche Mitwirkung und Teilhabe bildet im Feld der Disability Studies der Begriff Empowerment:
„ […] es geht um Prozesse der Selbst-Bemächtigung Betroffener, um das Auffinden eigener Ressourcen, um ein sich Bewusstwerden und die Mobilisierung von Selbstgestaltungskräften und eigenem Vermögen“ (Miles-Paul 2007:4). Auf der Basis der Disability Studies ist Inklusion verbunden mit dem Recht auf adäquate Bildung und dem Erreichen des individuell höchstmöglichen Bildungszieles sowie mit der Möglichkeit, ein selbstbestimmtes und eigenverantwortliches Leben zu führen. Dies erfordert eine Änderung der Grundhaltung in Bezug auf die Anerkennung von Verschiedenheit als Wert und Bereicherung. Es geht um Gleichberechtigung und Respekt vor dem Verschiedenen (vgl. Prengel 1993), um Teilhabegerechtigkeit bzw. Handlungsbefähigung und Verwirklichungschancen (vgl. Amartya Sen und Martha Nussbaum in: Otto/Ziegler 2010) und beinhaltet die Möglichkeit, eine Wahl treffen zu können. Bezogen auf die Teilhabe an Kultureller Bildung heißt das, dass Menschen ein Angebot brauchen, das sie trotz ihrer ungleichen Lebens- und Entfaltungschancen wahrnehmen können. Eine Entsprechung für die Praxis findet sich in einem der wenigen bisher veröffentlichten Lehrbüchern für Instrumentalpädagogik: Die Aufgabe des Lehrers besteht danach nicht darin, „beliebige Möglichkeiten vorzustellen und dann deren Umsetzung zu bewerten, sondern darin, gründend auf eine solide und belastbare Wahrnehmung des Schülers, diesem vor allem die Möglichkeiten der Teilhabe anzubieten, die im Spektrum seiner Handlungsmöglichkeiten liegen“ (Wagner 2016:14f.)
KünstlerInnen mit Behinderung, die es geschafft haben trotz vieler Hindernisse in der Öffentlichkeit auch als KünstlerInnen wahrgenommen zu werden, berichten immer wieder, dass ihre Professionalisierung in der Regel nicht durch die offiziellen Institutionen wie z.B. Musik(hoch-)schulen begleitet oder gar gefördert wurden, sondern nur aufgrund intensiver privater Förderung und Unterstützung möglich wurde.
Die Diskussion um das Thema Inklusion scheint in Politik und Gesellschaft angekommen zu sein und wird kontrovers und teils erbittert von GegnerInnen und BefürworterInnen geführt (vgl. u.a. Wocken 2015, Ahrbeck 2014, Korinek 2013). Die derzeitige theoretische Auseinandersetzung befasst sich immer wieder mit Fragen der Teilhabegerechtigkeit Aller an Kultureller Bildung und mit den Chancen, diese auch konkret zu verwirklichen (vgl. Fuchs 2008, Liebau 2015, Maedler 2008 u.a.). Und sie wird begründet mit dem Verweis auf die Menschenrechte und der auf ihrer Basis nachfolgend entstandenen rechtlichen Verankerungen, wobei der Verabschiedung der UN-Behindertenrechtskonvention 2009 durch die BRD eine besondere Bedeutung für die gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderung zukommt (vgl. Art. 26 Recht auf Bildung und Art. 30 Recht auf kulturelle Teilhabe; siehe auch Fuchs 2012).
Bemerkenswert ist die Tatsache, dass hier Menschen mit Behinderung ein kreatives, künstlerisches, intellektuelles Potential überhaupt zugesprochen wird. Kritisch betrachtet, widerspricht die UN-Behindertenrechtskonvention jedoch dem umfassenden Ziel inklusiver Bemühungen, wenn sie die kulturelle Teilhabe von Menschen mit Behinderung einfordert, da die bürgerrechtliche Perspektive (Hinz/Boban 2003) eigentlich wieder eingeschränkt und eine Zwei-Gruppen-Theorie erhalten wird.
Fakt ist, dass Menschen mit Behinderung in den meisten Projekten – hier Kultureller Bildung – gar nicht mitgedacht werden. Dennoch wird durch die Unterzeichnung der UN-Konvention 2009 und die Umsetzungspläne der jeweiligen Landesregierungen seit 2011 ein Recht postuliert, welches allmählich einen Bewusstseinswandel auch auf politischer Ebene zur Folge hat, der nicht reversibel ist und Prozesse auch im künstlerischen Bereich beschleunigt. „Trotz einer Unteilbarkeit der Leitidee der Inklusion erscheint es […] sinnvoll, Menschen mit Behinderung, Menschen mit Migrationshintergrund und Erwachsene und Senioren als verschiedene Zielgruppen mit jeweils spezifischen Bedürfnissen auf unterschiedliche Weise wahrzunehmen“(Potsdamer Erklärung des VdM 2014).
In der Praxis existiert eine Vielzahl gelungener inklusiver Projekte, die aus der Arbeit engagierter KünstlerInnen und PädagogInnen mit alters- und fähigkeitsgemischten Musik-, Musiktheater- Tanzensembles entstanden und entstehen und in denen Vielfalt und Verschiedenheit eine neue Qualität hervorbringen (siehe Beitrag "Im Zwischenraum: Kunst, Behinderung und Inklusion" von Sven Sauter u.a.). Sie sind bisher einer eher kleinen Öffentlichkeit bekannt. An ihnen lassen sich aber Gelingensbedingungen aufzeigen, die sich auf andere inklusiv zu gestaltende Kontexte übertragen lassen: Eine Tänzerin mit Downsyndrom, eine blinde Cellistin, die gehörlose Kinder unterrichtet, Jugendliche, die über „Streetart“ Spielräume für ihre Kreativität finden, SeniorInnen, die weiterhin in einem Chor oder Orchester spielen, auch wenn ihre Sing- und Spielfähigkeiten abnehmen, Jazz- und Worldmusic-Ensembles, Inklusive Soundfestivals in Dortmund, Fürth, Hannover ….: sie alle stehen für Beispiele gelungener Inklusion im Bereich Kultureller Bildung, weil sie TeilnehmerInnen mit den unterschiedlichsten Voraussetzungen aber einem Höchstmaß an Motivation, sich musikalisch künstlerisch auszudrücken, in einem gemeinsamen Gestaltungsprozess und für die Öffentlichkeit wahrnehmbar einbinden.
Wenn in den Kongressen „Europa InTakt“ - zuletzt 2010 an der TU Dortmund am Lehrstuhl Musik der Fakultät Rehabilitationswissenschaften das aufeinander abgestimmte Angebot von Workshops, Konzerten und Vorträgen MusikpädagogInnen und WissenschaftlerInnen einen Einblick in das Themenfeld Musik und Inklusion, vor allem mit dem Fokus auf Behinderung, vermittelt wurden, ging es immer um das Prinzip, die unterschiedlichen Ebenen der praktischen Erfahrung, der performativen Perspektive und der theoretischen Auseinandersetzung miteinander in Kontakt zu bringen, d.h. Theorie und Praxis miteinander zu verknüpfen, sodass die TeilnehmerInnen innere Bilder entwickeln konnten, wie eine gemeinsame musikalisch künstlerische Auseinandersetzung mit Allen gelingen kann.
Kulturelle Bildung als Motor für inklusive Entwicklung
(Musik-)kulturelle Bildung erhält für die Teilhabe Aller am Leben einer Gesellschaft einen besonderen Stellenwert. Es geht um die individuelle Bewältigung und Gestaltung des eigenen Lebens ebenso wie um die soziale Verortung.
Für Gieseke, Professionsforscherin im Bereich kultureller Erwachsenenbildung, (2005:30) umschreibt der Begriff Kulturelle Bildung „ … alle Angebote und Praktiken, die reflexiv-rezeptiv, kreativ-selbständig und interkulturell-kommunikativ mit Erschließung und Interpretation von Welt, Sinn und Ästhetik operieren“. Kulturelle Erwachsenenbildung „unterstützt kulturelle Handlungs- und biografische Gestaltungskompetenz. Kulturelle Bildung wirkt dabei im Dreiklang von historisch-systematischer Kunstaneignung, selbsttätig-kreativer Gestaltung und interkulturell-kommunikativer Beschäftigung mit Lebensstilen“ (Gieseke 2013). Diese Aspekte finden sich wieder in der geisteswissenschaftlichen Perspektive die das Kernanliegen betont zu verstehen, was Kultur dem Menschen bedeutet und wie er sich selbst durch kulturelle Hervorbringungen zu sich und zur Welt in Beziehung setzt. Merkmale des kulturpädagogischen Feldes sind Pluralität und Heterogenität; Bildung gilt als ein im Kern innerer Prozess des Menschen, der in einer reflexiven Thematisierung von Selbst- und Weltverhältnissen zum Ausdruck kommt (vgl. Klepacki 2012:27)
Im musikalischen Prozess lassen sich verschiedene Rollen übernehmen, in denen die genannten Aspekte konkret werden: die als Zuhörer, als Instrumentalist/Vokalist oder als Komponist. Darüber hinaus hat sich die Vorstellung entwickelt, dass jeder Mensch plurikulturelle Identitäten besitzt, d.h. dass er selbst in seiner Identitätsfindung nebeneinander unterschiedlichste kulturelle Stile nutzt, um sich sozial zu verorten (vgl. Claus-Bachmann 2007).
Maedler/Witt (2014) benennen darüber hinaus auch die nötigen Grundvoraussetzungen und Rahmenbedingungen: „Kulturelle Teilhabe ist elementarer Bestandteil gelingender Sozialisations- und Bildungsprozesse. Die Potenziale Kultureller Teilhabe kommen dort am besten zum Tragen, wo Häufigkeit und Intensität der Kontakte frühzeitig und vielfältig sind. Wenn die Grundvoraussetzungen professionelle Fachkräfte, ganzheitliches und schlüssiges Konzept, angemessene Rahmenbedingungen, künstlerische wie pädagogische Qualität, Relevanz des Themas, Freiwilligkeit, Partizipation, Stärkenorientierung und Fehlerfreundlichkeit erfüllt sind, kann kulturelle Bildungspraxis ihren Teilhabeanspruch einlösen. Auch ein Höchstmaß an Kultureller Teilhabe ist nicht dazu in der Lage, gesellschaftliche Ungleichheiten aufzuheben oder zu egalisieren. Doch die vielfache Kulturelle Teilhabe kann dem Einzelnen helfen, seine Potenziale zu entdecken und sich zu entwickeln. Kulturelle Teilhabe erhöht somit die Chancen des Einzelnen zur Selbstverwirklichung. In Hinblick auf das Bestreben des Individuums, ein gutes Leben zu führen, ist dies ein großes Ziel.“ Für den Kontext Behinderung gilt dies immer wieder neu ins Bewusstsein zu holen.
Zu hinterfragen bleibt im Diskurs um Kulturelle Bildung und Inklusion dezidiert auch das zugrunde liegende Kulturverständnis. „Den weitesten Horizont bilden ethnographisch-kulturanthropologische Perspektiven, die alle menschlichen Hervorbringungen symbolischer, praktischer oder dinglicher Art als Kultur verstehen. Wesentlich eingegrenzter ist der – im Kern semiotisch orientierte – Kulturbegriff, der sich ausschließlich auf die symbolischen Formen im engeren Sinne bezieht (Sprache, Kunst, Religion etc.). Beide Fassungen des Kulturbegriffs zielen auf Kulturanalyse; sie sind dafür unverzichtbar und international üblich.In der deutschen Tradition besonders bedeutsam ist jedoch eine dritte, normative Fassung des Kulturbegriffs, die die Perspektive der Wechselwirkung von Bildung und Kultur unter dem Aspekt der Perfektibilität beider betont. Sie ist eng mit den Traditionen des Bildungsbegriffs verbunden, von Shaftesbury über Kant, Schiller, Goethe, Humboldt, Hegel, Nietzsche bis zu Adorno: Adorno sieht schließlich Kultur als die objektive Seite von Bildung (Werke, Institutionen etc.), Bildung als die subjektive Seite von Kultur (Prozesse der Vermittlung und Aneignung)“. (Rat für Kulturelle Bildung 2014:7) In dem hier vom Rat für Kulturelle Bildung gebrauchten Begriff verbinden sich die drei Perspektiven auf Kultur, sodass sich Spielräume für Verschiedenheit öffnen können.
Gerade die normative Sicht macht es häufig schwierig, Veränderungen in Bezug auf gleichberechtigte musikalische Teilhabe anzustoßen, das sie von klaren Vorstellungen und Zuordnungen von richtig und falsch geprägt ist (s. Absatz Perspektivenwechsel).
Dimensionen Inklusiver musikkultureller Bildung
Das Themenfeld ist also enorm komplex. Es reicht von der Schaffung eines neuen Bewusstseins für die Wahrnehmung von Heterogenität und Vielfalt als Chance zu einer Veränderung der musikpädagogischen Praxis bis zur Weiterentwicklung kultureller Bildungsinstitutionen zu inklusiven. Diese Praxis befindet sich in einem Spannungsfeld zwischen Breitenbildung mit niedrigschwelligem Zugang und Spitzenförderung. Fragen von Professionalisierung und Qualitätssicherung in der Vermittlung spielen eine große Rolle ebenso wie die unterschiedlichen Sichtweisen der miteinander verbundenen Akteure: künstlerische VermittlerInnen, LehrerInnen, SchülerInnen, Eltern/BetreuerInnen, VertreterInnen der formalen und non-formalen Bildungsinstitutionen. Die unterschiedlichen Sichtweisen lassen sich nicht ohne weiteres für die einzelnen RollenvertreterInnen benennen. Sie hängen ab von der eigenen Sozialisation, der musikalischen Biografie oder dem pädagogischen Konzept. Eine große Sorge besteht jedoch darin, künftig nicht mehr so hohe Leistungsanforderungen stellen zu können wie bisher, wobei Inklusion keine Entwicklungsgrenze nach oben vorsieht, sondern jedem Menschen ein so umfassendes Angebot wie möglich bereitstellt. Diese Ansprüche und Erwartungen an ein tragfähiges inklusives Konzept lassen sich nur realisieren in einer ständigen Kommunikation mit den Beteiligten über ihre Zielsetzungen.
Als Instrumentarium der Evaluierung und Konzeptionierung der Entwicklung kultureller Bildungsinstitutionen zu inklusiven kann der „Index für Inklusion“ wertvolle Hilfestellungen leisten. Er wurde 2003 in Großbritannien für den schulischen Kontext entwickelt von Tony Booth und Mel Ainscow, um Lernen und Teilhabe in Schulen und Einrichtungen für Alle zu entwickeln, und auf deutsche Verhältnisse übertragen von Boban und Hinz (vgl. Boban/Hinz 2003). Die Montag-Stiftung Jugend und Gesellschaft übertrug in ihrer Arbeit wesentliche Aspekte dieses Indexes auf bundesrepublikanische Verhältnisse und veröffentlichte hierzu für außerschulische Einrichtungen und die kommunale Ebene die Arbeitshilfe „Inklusion vor Ort – ein Praxishandbuch“ (Montag-Stiftung 2011; vgl. auch Brokamp „Inklusion als Aufgabe und Chance für alle“ auf kubi-online). Der Index benennt drei entscheidende Dimensionen: Inklusive Kulturen schaffen (innere Haltungen verändern), Inklusive Strukturen etablieren und Inklusive Praktiken entwickeln. Alle Drei bedingen sich gegenseitig. Initiativen und Konzepte engagierter Einzelner scheitern daher häufig, wenn sie nicht strukturell gestützt werden. Bezeichnenderweise enthält der Index keine Handlungsanweisungen oder gar Rezepte, dafür aber viele Fragen, die es ermöglichen, von der eigenen Situation aus den Prozess zu beginnen. In allen Bereichen gilt Partizipation als Strukturmerkmal (http://www.csie.org.uk/resources/translations/IndexGerman.pdf).
Paradigmen- und Perspektivenwechsel
In der Erziehungswissenschaft wie in der Rehabilitationspädagogik hat theoretisch in den 1990er Jahren ein Paradigmenwechsel von der Defizitorientierung und der Erarbeitung von Hilfeplänen hin zu Ressourcenorientierung und Empowerment stattgefunden.
In der musikalischen Bildung verhindert das Paradigma des grundsätzlich musikalisch begabten Kindes, meist verknüpft mit der Orientierung am Lernen konventioneller Musikinstrumente und an sogenannter klassischer Musikkultur, die Öffnung von Unterrichtsangeboten für Alle, die unabhängig von ihren Voraussetzungen Musik machen wollen.. „Dies steht im Widerspruch zur Annahme, dass jeder Mensch eine „entwicklungsfähige und entwicklungswürdige Musikalität“ besitzt und diese –ähnlich der Intelligenz – normal verteilt ist (de la Motte-Haber 2005:399).
Inklusive Kulturelle Bildung, ob für RezipientInnen oder ProduzentInnen, meint dagegen die Entwicklung unterschiedlicher Musikpräferenzen in Bezug auf Musikstile und Hörgewohnheiten, damit der Einzelne auswählen und seine Musik finden kann, die in verschiedenen Situationen auch jeweils andere Funktionen übernimmt. Das Ziel liegt darin, ästhetische Erfahrungen zu vermitteln, die eng verknüpft sind mit dem eigenen Erproben der Stimme, des Körpers, von Instrumenten, und dem Entdecken unterschiedlichster Klänge und Sounds.
Konkret werden in diesem Prozess in der Musikvermittlung von Schulen und Musikschulen geltende Normen erweitert zugunsten individualisierter Angebote und Anforderungen. Vor allem im Instrumentalunterricht müssten mehrperspektivische Lösungen die Bewertung in Richtig und Falsch ersetzen. Nicht werkgetreues Reproduzieren, sondern improvisatorische Elemente stehen im Fokus einer inklusiven musikkulturellen Bildung und technische Fertigkeiten müssten von Anfang an in musikalische Kontexte eingebettet sein. Die individuelle Leistungsfähigkeit, also vorhandene Ressourcen sind der Maßstab für Entwicklung und nicht zeitliche Vorgaben der Curricula.
Die Heterogenität von Gruppen bedeutet eine große Herausforderung. Viele Faktoren, innerpsychische und physische Dispositionen, Sozialisationsfaktoren und kulturelle Hintergründe spielen ineinander. Diese Unterschiede müssen benannt werden, um sie dann als Wert anerkennen zu können und nicht als Distinktionsinstrument zu nutzen.
Hindernisse für eine umfassende Teilhabe
Die Hindernisse auf dem Weg zu umfassender Teilhabe sind immer noch vielfältig. Sie liegen zum einen in nicht bewussten oder vorhandenen rechtlichen, geografischen (Angebote in den Städten unterscheiden sich z.B. wesentlich von denen in ländlichen Regionen), ökonomischen und bildungsmäßigen Voraussetzungen.
Weitere Barrieren erschweren die Zugänglichkeit und Beachtung vorhandener bzw. zu mobilisierender Ressourcen vor allem für Menschen mit Beeinträchtigungen. Sie finden sich in Bezug auf bauliche, informationstechnische, persönliche Einschränkungen. Allein die Orientierung über ein Angebot, vom Konzerthinweis bis zum Unterrichtsangebot von Musikschulen z.B. erreicht Menschen mit Mobilitätseinschränkungen, Sinnesbehinderungen oder Lernschwierigkeiten gar nicht. Für Jugendliche aus sozialen Randgruppen oder mit unerwünschten Verhaltensdispositionen wird oft die vermeintlich soziale (Nicht-) Passung der Angebote zur Barriere. Dass eine Wichtelgruppe für Eltern und Kinder an der Musikschule auch Kindern mit Beeinträchtigung offensteht, wird von den betroffenen Eltern häufig nicht erkannt. Bisher braucht es in der Regel die Vermittlung durch AnsprechpartnerInnen, die selbst im Kontakt oder in Kooperation mit professionellen MusikerInnen oder MusikpädagogInnen stehen und diesen Kontakt zwischen ihnen und Menschen mit Behinderung herstellen.
Die eigentlichen Barrieren verfestigen sich aber vor allem in den Köpfen aufgrund fehlender Kontakte und einem fehlendem selbst-verständlichen Umgang. Irritationen und Konstruktionen sorgen für Ausschluss. Zu diesen Konstruktionen gehört in Bezug auf unterschiedliche Zielgruppen unter anderem die Auffassung über deren mangelnde Autonomie, Entscheidungs- , Reflexions- und Bildungsfähigkeit. Sie führt zu asymmetrischen Kommunikationsstrukturen. Die kategoriale Zuweisung zu einer sozialen Gruppierung verhindert häufig die eigensinnige Selbstkonstruktion und Selbsterprobung. Trotz der Anerkennung des Empowermentkonzeptes (s.o.) verhindert der Gedanke der Fürsorge häufig Selbstbestimmung und Gleichberechtigung.
Inklusion erzeugt darüber hinaus Ängste und Abwehr : auf der psychischer Ebene, weil man beim Anblick behinderter Menschen daran erinnert wird, dass es einem in Zukunft ebenso ergehen könnte; auf der normativen Ebene, weil eigene Normen und Werte sowie der Anspruch an musikalische Qualität und Professionalität in Gefahr zu geraten scheinen.
Inklusion verändert Normalität
in der Projektdokumentation eines Forschungsprojektes von Studierenden der Fakultät Rehabilitationswissenschaften, Lehrgebiet Musik, an der TU Dortmund mit dem Titel „Hauptsache, es groovt …!“ wurden 2014 Konzepte musikkultureller Arbeit bis hin zur künstlerischen Professionalisierung untersucht. Die Ergebnisse der Beobachtungen und Interviews bestätigen, dass Verwirklichungschancen inklusiver Teilhabe an der (Musik-) Kultur unserer Gesellschaft als HörerInnen oder ProduzentInnen abhängen von einer ressourcenorientierten Musikvermittlung, die die Heterogenität und Vielfalt der Gruppen berücksichtigt. Das Projekt „Music and (Dis-)Abilities“ fand bei seinen Recherchen bestätigt, dass das Gelingen inklusiver Gruppen oder Ensembles unter anderem davon abhängt, dass die MitspielerInnen unterschiedliche Ziele in Bezug auf die Entwicklung ihrer musikalischen Fähigkeiten und Fertigkeiten verfolgen können. Das ist unter anderem möglich, wenn unterschiedliche Lern- und Zugangsweisen berücksichtigt werden, z.B. in differenzierten Arrangements oder Spielmaterialien bzw. Stimmen. Als weitere Aspekte gelingender inklusiver Kulturarbeit sind Bedingungen zu nennen, unter denen Menschen mit und ohne Beeinträchtigung sich musikalisch künstlerisch entwickeln können. Dazu gehören die eigene Motivation, das Interesse für Musik und dafür in einer Gruppe zu spielen ebenso wie ausreichend Zeit für Prozesse. Instrumental- oder Vokalerfahrungen, soziale Kompetenzen, Talent bzw. eine grundsätzliche Musikalität, die Möglichkeit an Einzel- und Ensembleunterricht teilzunehmen, die Übernahme von Selbstverantwortung, ein ausreichendes Angebot an Wahlmöglichkeiten, um das eigene Genre zu entdecken, sind weitere Indikatoren. Die MusikerInnen sollten zudem gute PerformerInnen sein. Außerdem müssen die Interaktionen in musikalischen Vermittlungssituationen bewusst gestaltet und der Anspruch an künstlerische Vermittlungsprozesse eingehalten werden. Auf dem Weg zu inklusiver künstlerischer Vermittlung verändert sich der Blick auf die eigenen Normen und verändert sich Normalität selbst. MusikerInnen und PerformerInnen nehmen in anderer Weise als zuvor Möglichkeiten einerseits des Umgang mit dem musikalischen Material und andererseits der künstlerischen, musikalischen und persönlichen Entwicklung z.B. ihrer SchülerInnen oder Ensemblemitglieder wahr. In der offenen Museumsnacht 2016 in Dortmund strömten BesucherInnen in den Jazzclub domicil zum 5. Dortmunder Inklusiven Soundfestival. Dort erlebten sie zum Teil erstmalig MusikerInnen mit Behinderung auf der Bühne und erfuhren erstaunt kompetente MusikerInnen und starke Persönlichkeiten. Auch das verändert Normalität.
Die nachfolgenden Grafiken weisen auf weitere Aspekte gelingender inklusiver Kulturarbeit hin. Sie geben Auskunft darüber, unter welchen Bedingungen Menschen mit und ohne Beeinträchtigung sich musikalisch-künstlerisch entwickeln können, wie Interaktionen in musikalischen Vermittlungssituationen gestaltet werden und welchem Anspruch künstlerische Vermittlungsprozesse genügen müssten. Die Tabellen fußen auf den Erhebungen im Praxisforschungsprojekt (s.o.) zum Thema „Music and Ability – inklusive musikkulturelle Praxis zwischen Partizipation und Performance“ 2013/14.
Diese Prozesse gestalten sich nicht von allein. Sie brauchen die Neugier und Offenheit für Veränderungen auf der persönlichen wie auf der strukturellen Ebene. Inklusion verändert Normen und damit eine sicher geglaubte Normalität. Denn die entsprechenden Einrichtungen von der KiTa bis zur Werkstatt, von der Musikschule bis zum Konzerthaus müssen sich auf den Prozess struktureller Änderungen einlassen und eine neue Kultur des Miteinander entwickeln, in der Begegnung auf Augenhöhe selbstverständlich wird. Wie im Eingangszitat formuliert, sind Musikalität und musikalische Anlagen entwickelbar. Darin besteht die Aufgabe inklusiver Kultureller Bildung.