Gelingensbedingungen Kultureller Teilhabe
Jeder Mensch hat ein Recht auf Kulturelle Teilhabe. Das bedingt einen Begriff von Kultur, der Kultur sowohl als Lebensweise wie als menschlichen Lebensbereich versteht, zu dem der Mensch potentiell Zugang haben muss. Wer sich hierzulande über Kulturelle Teilhabe Gedanken macht, muss sich also auch die Frage stellen, wie es um die Zugänge zu Kunst und Kultur in Deutschland bestellt ist. Bezogen auf den hiesigen Sprachraum hat die Proklamation der „Kultur für alle“ Ende der 1970er Jahre weniger als intendiert bewirkt, um soziale Barrieren Kultureller Teilhabe zu beseitigen. „Sie hat andere Formen und Medien salonfähig werden lassen, neue Institutionen zugelassen, aber ihre schichtenspezifische Eingebundenheit hat sie nicht abstreifen können – oder wollen?“ (Kolland 2008:113)
Die später erfolgte Ausprägung einer kulturalistischen Theorie, in der beliebige soziale Gruppen eine eigene Kultur zugesprochen bekamen, führte zu einer klassifizierenden Festschreibung von Differenz. Diese Differenz legte die Rechtfertigung von sozial bedingten Unterschieden erst zugrunde, um sie dann zu Legitimationszwecken einzusetzen, die dann nur noch Teilhabe an der Kultur der eigenen Gruppe meinten. Davon unterscheidet sich grundsätzlich das Konzept kultureller Vielfalt, welches ein Recht auf Vielfalt und Unterschiedlichkeit einfordert, ohne den universellen Anspruch auf gesellschaftliche Teilhabe preiszugeben. „Kultur ist dabei nicht homogen; empirisch umfasst sie unterschiedliche Aktivitäten, systematisch gesehen stellt sie sich als Zusammenhang von Möglichkeiten, als „a matrix of possible permutations“ (Bauman 2000:29), als die – wenn man so will – fast unerträgliche Verbindung von Vielfalt dar“ (Winkler 2008:33). So betrachtet ist Kulturelle Teilhabe also ein Teil der Auseinandersetzung um gesellschaftliche Teilhabe und stellt das Grundrecht des Einzelnen dar, an der Schaffung, Nutzung und Verteilung von Kunst und Kultur beteiligt zu sein.
Um kulturelle Potentiale nutzen zu können, ist eine Aneignung durch Bildungsprozesse Voraussetzung – dies sind in Bezug auf die Kulturelle Bildung Aneignungsprozesse mit und in den Künsten. Deren Grundlage sind ästhetische Erfahrungen, die bei eigener künstlerischer Aktivität ebenso wie bei aktiver Rezeption möglich sind. Diese ästhetischen Erfahrungen sind ein Schlüssel, um Wirklichkeit aus neuen Blickwinkeln zu betrachten; sie ermöglichen Visionen, eröffnen alternative Wege und erweitern Handlungsspielräume.
Die Dimensionen Kultureller Teilhabe hat die Kultur-Enquetekommission des Deutschen Bundestages versucht aufzulisten: „Eine ganzheitliche Bildung, die Musik, Bewegung und Kunst einbezieht, führt[…] für den Lernenden zu höherer Allgemeinbildung. Gleichzeitig werden höhere Kreativität, bessere soziale Ausgeglichenheit, höhere soziale Kommunikationsfähigkeit […] und allgemein bessere Gesundheit erreicht.“ (Deutscher Bundestag 2007:377 ff.) Spezifischer und bezogen auf die Persönlichkeitsbildung fallen die Kompetenzzuschreibungen aus: „Durch Kulturelle Bildung werden grundlegende Fähigkeiten und Fertigkeiten erworben, die für die Persönlichkeitsentwicklung des jungen Menschen, die emotionale Stabilität, Selbstverwirklichung und Identitätsfindung von zentraler Bedeutung sind: Entwicklung der Lesekompetenz, Kompetenz im Umgang mit Bildsprache, Körpergefühl, Integrations- und Partizipationskompetenz und auch Disziplin, Flexibilität, Teamfähigkeit. Mit Kultureller Bildung werden Bewertungs- und Beurteilungskriterien für das eigene und das Leben anderer sowie für die Relevanz des erworbenen Wissens gewonnen. Kulturelle Bildung ist vor allem Selbstbildung in kulturellen Lernprozessen. Sie fördert soziale Handlungskompetenz und Teilhabe und qualifiziert den Menschen für neue gesellschaftliche Herausforderungen.“ (Deutscher Bundestag 2007:377 ff.)
Bei dieser Auflistung an attestierten positiven Persönlichkeitsausprägungen, Kompetenzzuwächsen und quasi Mitnahmeeffekten nimmt es nicht wunder, dass die Akteure der Kulturellen Kinder- und Jugendbildung ein Mehr an Teilhabemöglichkeiten für alle Kinder und Jugendlichen in das Zentrum ihrer gesellschaftspolitischen Agenda stellen. „Kulturelle Bildung ermöglicht Teilhabe und Mitgestaltung. […] Sie trägt zur Herstellung von Bildungsgerechtigkeit bei. Indem sie bei den Stärken jedes einzelnen Menschen ansetzt, eröffnet sie allen die Chancen zur Teilhabe an Kultur und Bildung und damit zu gesellschaftlicher Teilhabe.“ (BKJ 2011a:8) Wer Gelegenheit hat, guten Projekten und Angeboten beizuwohnen, wird aus vollem Herzen zustimmen.
Doch ist festzustellen, dass es Zugangsschranken zur Kulturellen Bildung gibt und Kulturelle Teilhabe für viele Kinder und Jugendliche erprobt doch längst nicht flächendeckend realisiert wird. „Kulturelle Bildung wurde in Deutschland lange aus dem selbstverständlichen Bildungskanon verdrängt in ein Mittelschichtsghetto“ (Kolland 2008:133). Herkunft – Bildung – Einkommen bestimmten und bestimmen die Teilhabe von Kindern und Jugendlichen an Kunst und Kultur. Der Armutsbericht der Bundesregierung und die Ergebnisse des Jugend-Kultur-Barometers machen deutlich, dass der Zugang zu Kultureller Bildung stark vom Einkommen und dem allgemeinen Bildungsniveau abhängig ist; je höher das Bildungsniveau, desto intensiver werden auch kulturelle Bildungsangebote wahrgenommen (vgl. Keuchel 2012:82).
Naiv wäre es zu glauben, die Künste, kulturelle Praxis und die auf sie bezogene Kulturelle Bildung hätten in unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit keine Abgrenzungs- und Exklusionsfunktionen. Kennerschaft der Künste und kulturelle Aktivitäten sind spätestens seit der Renaissance bewährte Mittel der Distinktion, wie Bourdieu in seiner Schrift „Die feinen Unterschiede“ beschreibt. „Von allen Produkten, die der Wahl der Konsumenten unterliegen, sind die legitimen Kunstwerke die am stärksten klassifizierenden und Klasse verleihenden [...]“ (Bourdieu 1982:36). Ob ein Mensch die Möglichkeit hat, am kulturellen Leben teilzunehmen, ist nicht zu trennen von gesellschaftlicher Teilhabe im Allgemeinen.
Kunst und Kultur ebenso wie die Teilnahme an kulturellen Bildungsangeboten werden auch dazu genutzt, soziale und gesellschaftliche Unterschiede zu markieren und zu verstärken. In bestimmten gesellschaftlichen Kreisen gehört der Musikschulbesuch zum guten Ton, gerne wird der weibliche Nachwuchs zusätzlich noch in die Ballettschule geschickt. Um nicht falsch verstanden zu werden: Es ist sinnvoll, wenn bereits kleine Kinder die Gelegenheit haben, mit Klängen, Bewegungen und Instrumenten zu spielen, gemeinsam mit anderen. Es geht hier also nicht um die Angebote an sich, sondern um die habituellen Motive, mit denen sie ausgewählt werden. Tatsache ist, dass es (genauso, wie es im Sport eben nicht beliebig ist, ob Fußball oder Golf gespielt wird) eine Hierarchie der Angebotsformen und Sparten Kultureller Bildung gibt, was ihren Distinktionsfaktor angeht.
Selbst ambitionierte Programme wie „Jedem Kind ein Instrument“ (JeKi) beinhalten einen den gesellschaftlichen Distinktionsgehalt Kultureller Bildung: „Liebe Kinder des Prekariats, ihr dürft jetzt auch mal musizieren!“ Allein warum sollte jedes Kind musizieren wollen? Manch eines möchte vielleicht lieber Theater spielen, Geschichten erfinden, malen, filmen oder auf dem Einrad brillieren. Und: Was ist, wenn die in der Grundschule geweckten musikalischen Talente nach vierjähriger Förderung durch das Projekt auch weiterhin Musikunterricht nehmen möchten? Selbst wenn die Finanzierung, dem Bildungspaket zum Trotz, stünde: Die Kapazitäten an Lehrenden, Instrumenten und Angeboten reichen bei weitem nicht aus, um auch nur einem Bruchteil der JeKi-Kinder Unterricht anbieten zu können. Schon jetzt gibt es lange Wartelisten an den Musikschulen. So führt die formale Gleichheit offenbar nicht zur Aufhebung von ungleichen Bildungs- und Selbstverwirklichungschancen. Vielmehr trägt dieses Postulat unter unveränderten gesellschaftlichen Bedingungen dazu bei, soziale Ungleichheit zu reproduzieren.
Was bei JeKi nur zu erahnen ist, spricht manch anderer ganz offen aus. Der Intendant des Wiener Konzerthauses, Bernhard Kerres, begreift seine Rolle in der Kulturellen Bildung so: „Wir bildungsbürgerlichen Eltern lieben unsere Kinder mehr als Eltern in sozial schwachen Gegenden. Entsprechend wachsen unsere Kinder ganz natürlich mit Musik auf, während Kinder rund um den Brunnenmarkt keine Gelegenheit finden, Musik zu erfahren. Da müssen wir einspringen.“ (Wimmer 2012, o. S.) Hier wird deutlich, dass Kulturvermittlung mitunter eine spezifische gesellschaftspolitische Funktion zukommt, nämlich bestehende Formen der Ungleichheit zu bestätigen.
In der Regel laufen kulturelle Distinktionsprozesse subtiler, quasi als kulturell-habituelle Unterströmung, ab. In einer (Medien-)Wirklichkeit, in der der Zugang zu Kunst- und Kulturproduktionen prinzipiell fast allen möglich ist, ebenso die Gelegenheiten, sich kulturell zu informieren, um mitreden zu können, ist nicht so leicht zu greifen, wodurch sich Eliten vom gemeinen Volke abheben. Was Dazugehören heute zu einer so herausfordernden Aufgabe macht, ist, dass kulturelle Szenen und Gruppen nicht nur hochkomplex ausdifferenziert sind; ebenso wie ihre komplizierten kulturellen Codes verändern sie sich auch rasant. Es sind überdies die harmlosen Dinge des Lebens wie Geschmack, Kultureller Background, Vorlieben und Abneigungen, die soziale Herrschaft ausmachen und sie reproduzieren.
Wenn wir uns vergegenwärtigen, wie viele junge Menschen ihre berufliche Zukunft im Medien- oder Kreativbereich sehen, macht dies deutlich, wie groß die Verantwortung der Kulturellen Bildung ist, hier für mehr Chancengerechtigkeit zu sorgen. Denn auch jenseits der multioptionalen, effizienzorientierten Konsum- und Stilavantgarde findet subtile Distinktion im Sinne des Bourdieu‘schen Habitus statt: Wie wir uns ausdrücken, wie wir agieren, wie wir mitgestalten (oder eben nicht) – dies ist nicht nur sozial sondern eben auch kulturell geprägt. Und niemand kann sich dem entziehen, weder was den Blick auf andere noch das eigene Einsortiert werden betrifft.
Dabei ist zu konstatieren, dass die Potenziale Kultureller Bildung und ästhetischer Erfahrung sich nicht automatisch entfalten, wenn jemand einen Pinsel zur Hand nimmt, den Nussknacker tanzt oder lernt, einer Posaune Töne zu entlocken. Der Fachkraft, egal ob es sich um einen Kulturpädagogen, eine Bildhauerin, einen Instrumentallehrer oder eine Choreografin handelt, sollten nicht nur die möglichen künstlerischen Bildungspotenziale gegenwärtig sein, sondern auch diejenigen, die den Menschen im Ganzen betreffen. Doch ist noch immer bei manch Künstler/in eine nahezu allergische Reaktion zu beobachten, wenn sie aufgefordert werden, über „Bildungswirkungen“ oder „persönlichkeitsbildende Potenziale“ ihrer Arbeit nachzudenken: Reicht es nicht, wenn Kunst einfach Kunst ist, keinen weiteren Sinn hat? Einfach nur fasziniert, wenn der vielbeschworene flow eintritt, wenn sie in den Bann zieht, fesselt, bewegt und berührt?
Kulturelle Bildungspraxis, wenn sie sich ihrer Verantwortung bewusst ist, kann Zusammenhänge von Habitus und Macht erkennbar machen, Bewusstsein schaffen für gesellschaftliche Wirkungsmechanismen. Sie kann im Sinne des Empowerment Selbstwirksamkeitserfahrungen ermöglichen, Handlungsspielräume sichtbar machen, die sonst vielleicht nicht im Blick wären. Es gibt Praxis- und Angebotsformen Kultureller Bildung, die eröffnen, wie gesellschaftliche Prozesse funktionieren und damit auch zeigen, wie das Individuum zum Mit-Gestalter wird. Dies ermöglicht ein Bewusstsein dafür, die eigene Position und Rolle besser einordnen und erfassen zu können, sie bewusst zu bestimmen und zu verändern. Wichtig dabei ist die Erfahrung und Erkenntnis, dass Kunst und Kultur ebenso wie unser gesellschaftliches Leben etwas Gemachtes und fortwährend zu Gestaltendes ist.
Über mangelnde Erwähnung in visionären Reden kann sich die Kulturelle Bildung nicht beschweren. Doch sie leidet unter einem veritablen Umsetzungsproblem. Es fehlt an Reichweite, Angebotsvielfalt, Zukunftssicherheit, verlässlichen Infrastrukturen (vgl. BKJ 2011a:4) und wahrscheinlich auch daran, dass einige Entscheidungsträger mit der Förderung Kultureller Bildung vor allem selbst glänzen möchten. Jenseits struktureller Defizite ist ein Manko auf der Prozessebene auszumachen. „In den letzten zwanzig Jahren hat der Kulturbereich pauschaliert ausgedrückt den Fehler begangen, das Publikum und seine Interessen zu vernachlässigen und statt dessen eine sehr stark angebotsorientierte Programmplanung gemacht (Max Fuchs 2008g:16). So erhält eine Kultureinrichtung bei entsprechender Evaluation zwar einen guten Überblick über das Nachfrageverhalten seines Publikums. Doch wirkt auch hier eben der Teufel im Detail, das Publikum wird mit der generellen Zielgruppe gleichgesetzt und damit die Abgrenzung vom Nichtpublikum noch verstärkt.
Es kann nicht das Ziel einer Einrichtung sein, ein beliebiges Angebot, zusammengestückelt aus diffusen Bedürfnissen vermuteter Besucher- und Nutzergruppen, zum Maßstab für die Teilhabe aller zu erheben. Zu existentiell ist die Profilierung für Kultureinrichtungen, und das nicht nur in der Förderungslogik kommunaler Kämmerer. Professionalität, künstlerischer Anspruch und Ausdruck münden in Unterscheidbarkeit und sind Qualitätsmerkmale kultureller Institutionen. Warum Einrichtungen aber in ihrem Grundverständnis nicht die gleichen qualitativen und monetären Maßstäbe anlegen, wenn es um ihre Offenheit, Zugänglichkeit und Vermittlungsfähigkeit geht, verdeutlicht, dass der gesellschaftliche Auftrag, Teilhabe zu ermöglichen, nicht massiv genug formuliert ist.
Auch bringt die hohe Fachlichkeit der Mitarbeiterin oder des freien Künstlers nicht automatisch soziale und pädagogische Kompetenzen mit sich, die vor allem anderen im Beziehungsaufbau zu einer neuen Zielgruppe notwendig sind. Die Konzentration auf eine angebotsorientierte Programmplanung und die Weigerung, die Vielfalt der Lebenslagen, Bewältigungskompetenzen und Selbstverwirklichungschancen zum Ausgangspunkt der eigenen Angebote zu machen, stehen so häufig einer verstärkten Kulturellen Teilhabe im Wege.
Die Ansprache und Gewinnung von jungen Menschen mit unterschiedlichen kulturellen und Bildungszugängen bedingt eine distinktionsfreie Auseinandersetzung mit ihren Lebenswelten. Es braucht in der Ansprache und in der Arbeit die Anerkennung von Differenz. Wenn eine Einrichtung in die Lage kommen möchte, Verschiedenheit zuzubilligen, ohne sie zu bewerten, und sie als Arbeitsgrundlage akzeptiert, kann darin eine Basis für die Kulturelle Teilhabe begründet sein. Für die pädagogische Praxis bietet sich hier ein Ansatz der egalitären Differenz, formuliert etwa von Annedore Prengel, an. Egalitäre Differenz erkennt die gleichwertige Vielfalt der Verschiedenen an und billigt allen ein Recht auf Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu, unabhängig beispielsweise von der Leistungsfähigkeit, dem Unterstützungsbedarf, der nationalen oder ethnischen Zugehörigkeit, der sexuellen Orientierung oder dem Geschlecht.
Vielerorts werden Projekte Kultureller Bildung erfolgreich durchgeführt. Wobei gerade in der temporären Form die Krux für Zielgruppe und Kulturvermittelnde liegt. Nicht die spezifische Organisation der Arbeit im Projekt, die zeitliche Befristung und ihr innovativer Charakter stellen ein Problem dar. Die grundsätzliche Begrenzung, allein schon anhand der benannten strukturellen Defizite, auf den Status des Außergewöhnlichen verhindert es, nachhaltig messbare Erfolge in puncto Teilhabe und Bildungswirkung zu erreichen.
Aus Sicht freier Künstler/innen mag diese Arbeitsform befriedigend erscheinen – spricht doch die Freiheit der Kunst gegen starre Bindungen an formale wie non-formale Bildungsinstitutionen. Aber im Ergebnis kann die Vermittlung von sporadischen Teilhabeerlebnissen durch den Einsatz von Kultureller Bildung in Lückenbüßerfunktion nicht zufriedenstellen. Bleibt sie doch dadurch den Beweis nachhaltiger Wirkung schuldig. „Bildung, so lässt sich sagen, ist eine Bedingung für gelingende Teilhabe. Es gilt aber auch die Umkehrung: Durch intensive Teilhabe entsteht Bildung.“ (Fuchs 2006c, o. S.)
Auch ist anzumerken, dass die stete Folge von Problemanzeige (egal ob aufgrund von Gewaltausbrüchen, Vandalismus oder sozialer Apathie) und deren Behandlung mittels kultureller Aktivitäten nur als Ausdruck einer grundsätzlichen Fehlentwicklung interpretiert werden kann, die selbst viel zu wenig behandelt wird. Eben weil es, jenseits der Horte gutbürgerlicher Erziehung, zu wenig durchdachte und präventiv praktizierende Konzepte frühkindlicher Kultureller Teilhabe gibt, ist fraglich, ob die verspätete punktuelle Behandlung mittels Kultureller Bildung überhaupt als probate Therapieform tauglich ist.
Hier umzulenken würde eine Abkehr vom Plazet des Einmaligen und Außergewöhnlichen voraussetzen (vgl. Schröder 2006). Die einmalige, exklusive Kulturelle Teilhabe von Jugendlichen an einem kulturellen Projekt führt vielleicht zu einer Sichtbarkeit personeller Kompetenzen (etwa Ausdrucksfähigkeit, Durchhaltevermögen, Selbstbewusstsein) und wirkt positiv ein auf den Prozess der Identitätsbildung. Auf die einmalige Teilnahme an einem Projekt reduziert, kann die Wirkung jedoch nur gering ausfallen. Gelänge es, kontinuierliche Teilhabeangebote zumindest zu offerieren, würde dies für den Einzelnen eine sinnliche Bereicherung seiner Möglichkeiten mit sich bringen. Auch würde dies Kultureinrichtungen vor die Aufgabe stellen, nachhaltige Beziehungen entstehen zu lassen, die durch das periodische Einbeziehen in Projekte dazu geeignet sind, mehr zu sein, als als „Aufheller der Alltagstristesse“ (Hiller 2006) zu fungieren.
Kulturelle Bildung muss so vielfältig sein, wie die Interessen und Talente der Menschen. Ebenso wichtig ist eine große Vielfalt an Kooperationsformen – mit allgemeinbildenden Schulen, Kindertagesstätten, Vereinen, Initiativen. Kulturelle Bildung bietet so unterschiedliche Möglichkeiten an Ausdrucksformen, dass auch für jeden unmusikalischen Rhythmuslegastheniker mit zwei linken Händen und einer Rot-Grün-Blindheit genügend Aneignungs- und Ausdrucksformen verbleiben. Denn sich kulturell oder künstlerisch auszudrücken ist ein menschliches Grundbedürfnis der Selbstvergewisserung, der Orientierung, des Erforschens der eigenen Wirklichkeit, der Neugier und des Gestaltenwollens: von den Höhlen von Lascaux bis zu Medienkunst und Urban Art.
Einige Angebotsformen, die sich in den letzten Jahren dynamisch entwickelt haben und die großes Potenzial besitzen, gerade solche Zielgruppen zu erreichen, die nur schwer von klassischen Formen Kultureller Bildung erreicht werden, sind im Kontext von Teilhabe und Bildungsgerechtigkeit hervorzuheben: (zeitgenössischer) Tanz, Zirkus und Kinder- und Jugendmuseen. Genau diese Sparten haben es auf der Ebene der infrastrukturellen Absicherung der Einrichtungen, Akteure und Fachstrukturen besonders schwer.
Eine Schlüsselrolle im Hinblick auf Teilhabe und Chancengerechtigkeit spielt die Kulturelle Medienbildung. Sie ist gegenwärtig in doppelter Hinsicht die zentrale Herausforderung für das Praxisfeld. Medial-kommunikative Fähigkeiten sind Schlüsselkompetenzen in der heutigen Netzgesellschaft und damit unabdingbar für gesellschaftliche Partizipation und Inklusion (vgl. BKJ 2011b:4). Kulturelle Bildungspraxis kann und sollte die dafür erforderlichen Fähigkeiten wie Symbol- und Bildsprachenkompetenz, Wahrnehmungs- und Ausdrucksfähigkeit, Text- und Sprachkompetenz auf künstlerische und spielerische Weise vermitteln. Sie sind grundlegende Partizipationsvoraussetzungen.
Gerade in diesem Feld bringen Fachkräfte der Kulturellen Bildung mitunter geringere Kenntnisse mit als ihr Klientel. Dies führt mancherorts zu ausgeprägten Abwehrreaktionen und hat fatale Auswirkungen auf die Beziehung zwischen Kulturvermittelnden und den teilnehmenden Digital Natives. Letztere müssen erfahren, dass das, was sie besonders gut können, was sie fasziniert und was für sie selbstverständlich ist, in den Augen ihres Gegenübers ablehnend bewertet wird. Dies widerspricht dem stärkenorientierten Ansatz Kultureller Bildung. Es gilt, kulturelle Praktiken junger Menschen im Bereich der Neuen Medien nicht abzuwerten, sondern ihre besonderen Fähigkeiten und Methoden anzuerkennen und zu respektieren. Die Kulturelle Bildung muss sich auf eine „gleichwürdige“ (Juul 2009, o.S.) Beziehung mit den Kindern, Jugendlichen und jungen Menschen einlassen, mit denen sie arbeitet. Dies gilt insbesondere da, wo die kulturellen Erfahrungen der Teilnehmenden die Kompetenzen des Kulturvermittelnden übersteigen.
Neben einem ausgewogenen und ganzheitlich professionellen Selbstverständnis müssen Qualitätsvoraussetzungen erfüllt sein, damit gute Wirkungen sich tatsächlich entfalten können. Ein Angebot, egal ob Workshop, Kurs oder Projekt, sollte vom Konzept her in sich schlüssig sein: Thema, Ort, Material, Methoden, Menschen, Zeiten, Räume und Rahmenbedingungen müssen zueinander passen, einander bereichern und inspirieren. Das Thema oder der Gegenstand der Auseinandersetzung muss den Menschen/die Teilnehmer interessieren und Relevanz für sie besitzen. Banal aber wahr: die Teilnahme sollte freiwillig sein, was leicht an eigenen Erfahrungen zu überprüfen ist; Freiwilligkeit spielt eine Rolle und liefert einen Hinweis auf die widersprüchliche Ausgangslage von Schule und kulturellem Kooperationspartner. Eine weitere Gelingensbedingung: Partizipation. Je stärker sich ein Mensch in den kulturellen/künstlerischen Prozess einbringen, ihn mitgestalten und bereichern kann, umso mehr gewinnt das Ganze. Schließlich: Stärkenorientierung und Fehlerfreundlichkeit. Kulturelle Bildung geht vom kompetenten Menschen aus und begreift sogenannte Fehler als Baumaterial künstlerischer Prozesse.
Kulturelle Bildung hat, wenn sich ihre Akteure der Verantwortung für Teilhabe und Bildungsgerechtigkeit bewusst sind und die beschriebenen Voraussetzungen vorliegen, große Potenziale, soziodemografische Machtverhältnisse und Wirkungsmechanismen sowohl sichtbar zu machen als auch den Einzelnen darin zu stärken, die ihm etwa von seiner familiären Lebenslage zugewiesene gesellschaftliche Position bewusst zu verändern.
Fazit
Kulturelle Teilhabe ist elementarer Bestandteil gelingender Sozialisations- und Bildungsprozesse. Die Potenziale Kultureller Teilhabe kommen dort am besten zum Tragen, wo Häufigkeit und Intensität der Kontakte frühzeitig und vielfältig sind. Wenn die Grundvoraussetzungen professionelle Fachkräfte, ganzheitliches und schlüssiges Konzept, angemessene Rahmenbedingungen, künstlerische wie pädagogische Qualität, Relevanz des Themas, Freiwilligkeit, Partizipation, Stärkenorientierung und Fehlerfreundlichkeit erfüllt sind, kann kulturelle Bildungspraxis ihren Teilhabeanspruch einlösen. Auch ein Höchstmaß an Kultureller Teilhabe ist nicht dazu in der Lage, gesellschaftliche Ungleichheiten aufzuheben oder zu egalisieren. Doch die vielfache Kulturelle Teilhabe kann dem Einzelnen helfen, seine Potenziale zu entdecken und sich zu entwickeln. Kulturelle Teilhabe erhöht somit die Chancen des Einzelnen zur Selbstverwirklichung. In Hinblick auf das Bestreben des Individuums, ein gutes Leben zu führen, ist dies ein großes Ziel.