Kulturelle Bildung – ein Kernbereich der Kindheitspädagogik
Abstract
Der Beitrag beleuchtet verschiedene Aspekte Kultureller Bildung im Hinblick auf Themenfelder, die in der Kindheitspädagogik relevant sind und bislang zu wenig Bearbeitung erfahren haben. Es stehen Bildungsgelegenheiten im Fokus, die sich durch Kulturelle Bildung ergeben, wobei zunächst auf den Begriff „Kulturelle Bildung“ eingegangen wird. Kulturelle Bildung bietet viele Möglichkeiten, aus der Kindheitspädagogik heraus formulierte Bildungs- und Erziehungsziele zu fokussieren und kann sich so als zentraler Bereich der Kindheitspädagogik behaupten. Sie beinhaltet nicht nur eine Ästhetische Bildung, die eine Wahrnehmung und Erprobung der Sinne als Grundlage allen Lernens anregt, sondern fördert im gemeinsamen Tun und Erleben auch eine differenzierte Wahrnehmungsfähigkeit in Bezug auf Mitmenschen und die Umwelt.
Die Kindheitspädagogik ist „eine Disziplin im Werden“ (Hechter/Hykel/Pasternack 2021:80). Dementsprechend sind die Kernbereiche dieser Disziplin noch nicht vollständig gefestigt. In der ersten Aufbauphase waren es vor allem Vertreter*innen aus den Bereichen Pädagogik/Sozialpädagogik, Soziologie/Sozialwissenschaften und Psychologie, die den Boden für das Feld bereitet (vgl. ebd.:68) und damit auch zunächst die zentralen Perspektiven bestimmt haben. Darüber hinaus hat der Bereich „Sprachentwicklung/Literalität“ bald an Bedeutung gewonnen (vgl. ebd.:65). Als „marginalisierte“, wenig bearbeitete Themen (ebd.: 61) werden aktuell u.a. Hort, Freizeitpädagogik, freies Spiel, Naturerleben, Musik, Zeichnen/kreatives Gestalten, Raum und Raumaneignung sowie Bildung für Nachhaltige Entwicklung genannt (vgl. ebd.:65f.). Abgesehen davon, dass die Darstellung durch die Berücksichtigung lediglich dreier als einschlägig aufgefassten Zeitschriften („Frühe Bildung“, „Zeitschrift für Erziehungswissenschaft“ und „Zeitschrift für Pädagogik“) nicht vollauf repräsentativ ist, weil etwa die jeweiligen Fachzeitschriften und Handbücher beispielsweise der Musikpädagogik nicht einbezogen sind, zeigt die Sammlung eine unbeachtete, diese Themen verbindende Perspektive auf: die der Kulturellen Bildung.
(Früh-)Kindliche Kulturelle Bildung
„Kulturelle Bildung“ gilt als „Containerbegriff“; er „kann alles und/oder nichts beinhalten“ (Weiß 2017:14; vgl. auch Jebe 2019:11-22). Dem ersten Eindruck nach mag man auf die Idee kommen, er sei nicht mehr zeitgemäß. Die bildungsbürgerliche Hochkultur hat nicht mehr eine entscheidende Distinktionsfunktion, die es zu erschließen und zu nivellieren gilt, und auch der Blick von oben herab auf Personen und Gruppen, denen Teilhabe an etwas Höherem ermöglicht werden soll, erscheint gestrig (vgl. Maedler/Witt 2014). Berücksichtigt man jedoch die Genese des Begriffs und die Zeit, aus der heraus er sich etabliert und dann entwickelt hat, so zeigt sich, dass er auch heute noch trägt. Denn mit der Hinwendung zu den auf die Gesellschaft und ihre kulturellen Ausprägungen bezogenen bildenden Momenten und einer Aktualisierung des Begriffs „Pädagogik“ jenseits von Schule hat sich seit den 1980er Jahren eine vielseitige kulturpädagogische Praxis in allen Altersstufen und an ganz unterschiedlichen Orten etabliert, die in vielerlei Hinsicht anschlussfähig ist (vgl. Reinwand-Weiss 2013/2012, Zirfas 2015). Diese milieukritisch zu reflektieren und zu aktualisieren, steht an (vgl. Keuchel 2021).
In der Elementarbildung dagegen wird „Kulturelle Bildung“ wenig thematisiert. Einen problematischen Gebrauch des Begriffs „Kultur“ sowie das Vermeiden der Wendung „Kulturelle Bildung“ in Bildungsplänen für Kindertageseinrichtungen zeigt Miriam Schulze auf (Schulze 2021). Letzteres hängt nach Schulze womöglich mit den unterschiedlichen Zuständigkeiten hinsichtlich Bildung und Kultur auf politischer Ebene zusammen (vgl. auch Bockhorst 2013/2012). Den Umstand, dass nicht genau zu definieren ist, was Frühkindliche Kulturelle Bildung sei, wendet Fabian Hofmann dagegen ins Positive, indem er unterschiedliche Begründungsmuster sowie Diskurslinien nachzeichnet und schließlich die so mögliche Anschlussfähigkeit für jeweilige Begründungen der verschiedenen Beteiligten herausstellt (Hofmann 2021). Anknüpfend an diese pragmatische, auf die Akteure bezogenen Perspektive und an eine auf Themenfelder bezogenen Perspektive (vgl. Reinwand-Weiß 2013/2012) sollen im Folgenden die Potentiale Frühkindlicher Kultureller Bildung im Hinblick auf die oben genannten Desiderata skizziert und so ihre Relevanz unterstrichen werden.
Grundsätzlich lässt sich festhalten, dass wir Menschen uns über die produktive wie rezeptive Auseinandersetzung mit Welt (vgl. Liebau 2013:6) mit all unseren Sinnen und unserem ganzen Körper einen vielfältigen Resonanzraum erschließen (vgl. Rosa 2020:38; Rosa 2020a:472-500) und uns darüber auch miteinander verbinden. Kulturelle Bildung wäre demnach nicht nur ein Oberbegriff für die pädagogisch-vermittlungsorientierten Teildisziplinen, die sich den einzelnen Künsten wie Musik, Bildende Kunst, Tanz, Theater zuordnen lassen und insbesondere auch die Ästhetische Bildung beinhaltet, sondern meint konkret auch die Anbahnung und Pflege dieser Verbindungen und Resonanzerfahrungen. Damit kann nicht früh genug anfangen werden, was beispielsweise das „Netzwerk Frühkindliche Kulturelle Bildung“ antreibt. Es sieht „im Kontext der frühkindlichen kulturellen Bildung [...] die Dimension des unmittelbar sinnlich-leiblichen Handelns, Erfahrens und Berührtseins“ als wesentlich an, „da Kinder in ihr zu Hause sind“ (Netzwerk FKB 2020). Die Initiator*innen des Netzwerks haben „sieben gute Gründe“ versammelt, auf die sich alle Mitglieder verständigen. Kulturelle Bildung, so heißt es im Grundsatzpapier, „... vergrößert und differenziert die Vielfalt kindlicher Wahrnehmungs-, Handlungs- und Ausdrucksformen“, „... ermöglicht Kindern mannigfaltige Erfahrungen mit sich selbst und von Selbstwirksamkeit“, „... schafft Reflexions- und Dialoganlässe mit Kindern und unterstützt Sprachbildung“, „... eröffnet Kindern vielfältige Zugänge zu Kunst, Kultur, Gesellschaft und Welt und fördert Teilhabe“, „... stärkt das soziale Miteinander in einer durch Diversität geprägten Gesellschaft“, „... vermittelt Strategien zur Erschließung von Welt jenseits bekannter Normen“ und „... trägt zur Qualitätsentwicklung pädagogischer Praxis und Einrichtungen bei“ (ebd.).
Ein sehr differenziertes Bild von Kultureller Bildung zeigt sich hier, das die klassischen Kunstsparten weniger ins Zentrum stellt und viel mehr basale Bildungsaspekte anspricht. So resümieren die Initiator*innen: „Zusammengefasst bietet frühkindliche kulturelle Bildung – auf konzeptioneller Ebene und in ihrer konkreten Bildungspraxis – Antworten auf zentrale Herausforderungen einer gegenwärtigen und zukunftsweisenden Pädagogik, wie die Förderung von Partizipation, Inklusion, Nachhaltigkeit, Resilienz, Diversität und Demokratiebildung. Sie leistet einen Beitrag zu mehr Bildungsgerechtigkeit und eröffnet Kindern Zukunftschancen“ (ebd.). Diese zwei Perspektiven – Künste und basale Bildungsaspekte – seien im Folgenden näher betrachtet.
Auf den ersten Blick: „Grundlegende Allgemeinbildung in den wichtigsten Künsten“
Kulturelle Bildung hat zunächst die klassischen Kunstsparten im Blick. Unter der Überschrift „Grundlegende Allgemeinbildung in den wichtigsten Künsten in Kindertagesstätten und Schulen sichern“ fordert der „Rat für Kulturelle Bildung“, ein von sieben Stiftungen einberufenes Expertengremium, die „Entwicklung und Sicherung einer qualitativ hochwertigen und quantitativ ausreichenden Grundversorgung mit den entsprechenden Bildungsmöglichkeiten. Ziel ist eine ‚Alphabetisierung‘ im Sinne einer grundlegenden Allgemeinbildung in den wichtigsten Künsten (Musik, Bildende Kunst, Theater, Tanz, Literatur, andere Medien). Diese muss im Elementarbereich beginnen und sich in der Primar- und Sekundarstufe der Schule fortsetzen.“ (Rat für Kulturelle Bildung 2014:93) Entsprechende Disziplinen wie Musikpädagogik, Theaterpädagogik oder Kunstpädagogik mit jeweils spezifischen didaktischen Ansätzen haben sich schon vor langer Zeit herausgebildet sowie etabliert. Inzwischen steht auch der Elementarbereich im Fokus dieser Disziplinen (eine Übersicht über die Literatur- und Forschungslage beispielsweise in der Kunstpädagogik bei Engels 2021).
In vielen Bildungsprogrammen der Bundesländer für die Kindertagesstätten spiegelt sich die klassische Einteilung in Sparten wider. So werden etwa für Berlin im Bildungsbereich Kunst die Bereiche Bildnerisches Gestalten, Musik und Theaterspiel zusammengefasst. Doch wie sich den einleitenden Worten entnehmen lässt, geht es weniger um eine ‚Alphabetisierung‘ hin zu einem bestimmten Umgang in und mit den Künsten, sondern viel mehr um die sinnlichen Erfahrungen und die Erfahrungen von Selbstausdruck, die gemacht werden können. Unter Bezugnahme auf die Reggio-Pädagogik wird gefolgert, „dass Jungen und Mädchen interessante Räume und sinnesanregende Materialien zur Entfaltung ihrer 100 Sprachen benötigen“ sowie „Pädagoginnen und Pädagogen, die ihre Phantasie und ihre Kreativität verstehen, wertschätzen und unterstützen“ (Senatsverwaltung 2014:119). Es geht also insgesamt um weit mehr als um eine „Grundversorgung“ im Feld der Künste.
Auf den zweiten Blick: Ästhetische Erfahrungen, Raumerfahrungen, Naturerfahrungen
Wesentlich für (früh-)kindliche kulturelle Bildung erscheint die Perspektive nicht von der Kunst her sondern vom Kind aus. Wie es sich die Welt erschließt, steht im Mittelpunkt der Überlegungen. Sinnliche Erfahrungen spielen dabei eine zentrale Rolle (vgl. Schäfer 2016:248-253; Duncker 2010:14; Widdascheck 2021:41), sodass sich eine Nähe zu den Künsten ergibt, die genau diese Sinne ansprechen. Sinnliche Erfahrungen können jedoch auch ohne Bezug zu Kunst angeregt werden, wie beispielsweise Renate Zimmer beschreibt, indem sie u.a. auf Maria Montessori, Rudolf Steiner oder Hugo Kükelhaus Bezug nimmt (Zimmer 2019:168-189, vgl. auch Widdascheck 2021:44). Wahrnehmung und Erprobung der Sinne, „Basis jeglichen Lernens“ (Zimmer 2019:14), stellen sicher ein grundlegendes Feld der Kindheitspädagogik dar, das alle Bildungsbereiche durchdringt (vgl. auch Widdascheck 2021:52). Musik-, Kunst-, Theater- und Tanzpädagogik haben spezifische Methoden hervorgebracht, das auditive, das visuelle, das taktile, das kinästhetische und das vestibuläre Sinnessystem (vgl. Zimmer 2019:60f.) in besonderer Weise rezeptiv wie produktiv anzuregen. Ästhetische Erfahrungen, die über die reine Sinneswahrnehmung hinausgehen (vgl. dazu z.B. Brandstätter 2013/2012 oder Schäfer 2016:229-239), werden so angebahnt und damit Ästhetische Bildung ermöglicht (vgl. z.B. Dietrich/Krinninger/Schubert 2013). Spiel und Experiment sind dabei konstituierend. Gemeinsames Musizieren, Bildnerisches Gestalten, Theaterspielen oder Tanzen sind Handlungsformen, die in der Kita, im Ganztag oder in der Freizeit von pädagogischen Fachkräften initiiert und begleitet werden. Diese können dabei auf musik-, kunst-, theater-, tanz- oder zirkuspädagogische Methoden zurückgreifen. Eine differenzierte Sinnesbildung, die für das Lernen und Erleben im Jetzt und in der Zukunft zentral ist, findet hier statt, womit die Bedeutung der Ästhetischen Bildung im Rahmen einer Kulturellen Bildung für die Kindheitspädagogik aufgezeigt ist.
Nebenbei sei bemerkt, dass mit Blick auf den Geschmacks- und Geruchssinn eine vergleichbare Bezugsdisziplin wie die Kunst- oder Musikpädagogik fehlt. Dennoch lässt sich auch eine mit der Esskultur verbundene Sinnesbildung als Teil einer Kulturellen Bildung verstehen (vgl. z.B. Waldenfels 2010:307-317). Hier eröffnet sich ein weites Feld, das einer grundlegenden Bearbeitung bedarf.
Wenngleich Raum- und Naturerfahrung nicht vordergründig im Fokus von Musik-, Kunst-, Theater- oder Tanzpädagogik stehen, so gehen sie doch mit zahlreichen Handlungsformen einher. Musik benötigt den Raum, um zu wirken. Viele Bildende und Darstellende Künstler*innen arbeiten mit dem Raum oder der Landschaft, was in pädagogisch-didaktische Raumaneignungsperspektiven übersetzt worden ist. Klaus-Peter Busse beispielsweise hat einige davon aus kunstdidaktischer Sicht versammelt (vgl. Busse 2009).
Auch durch Fachkräfte angeregtes Naturerleben ist mit theater-, musik- und kunstpädagogischen Methoden verbunden: Auditive, taktile und visuelle Wahrnehmung stehen im Zentrum vieler waldpädagogischer Übungen und Spiele (z.B. Bolay/Reichle 2019:111-114, 131-134). Ästhetisch-bildnerisches Tun könnte insgesamt mehr in den Naturraum verlagert werden (vgl. dazu auch Gebhard 2020), wenigstens in einen einigermaßen naturbelassenen Außenbereich, und auch das Spielen und Gestalten mit in der Natur Vorzufindendem könnte mehr gefördert werden (vgl. z.B. Bergdolt 2020) – nicht zuletzt im Hinblick auf Nachhaltigkeit.
Bildung für Nachhaltige Entwicklung
(Früh-)Kindliche Kulturelle Bildung stellt im Zusammenhang mit der Umsetzung einer Bildung für Nachhaltige Entwicklung einen wichtigen Baustein dar. Eins der 17 Ziele, welche die Weltgemeinschaft in der Agenda 2030 aufgestellt hat (SDGs – Sustainable Development Goals), lässt sich unmittelbar auf Kulturelle Bildung beziehen: Das Weltkulturerbe besser zu schützen (vgl. Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung o.J.), ist sicher ein Ziel, das mit Kultureller Bildung verfolgt werden kann. Doch nicht nur dieses konkrete Ziel, sondern auch die für die Umsetzung der Ziele benötigten Einstellungen und Haltungen können durch Kulturelle Bildung gefördert werden. Susanne Keuchel und Vanessa Reinwand-Weiss legen auf unterschiedliche Weise dar, welche Bedeutung eine geschulte sinnliche Wahrnehmung haben kann. Diese macht nach Reinwand-Weiss „empfänglicher für ökologische, ökonomische oder soziale Missstände“ und erhöht die Wahrscheinlichkeit, „diese positiv beeinflussen zu wollen“ (Reinwand-Weiss 2020:71). Denn: Kulturelle Bildung bietet neben der leiblich-sinnlichen Wahrnehmung u.a. Handlungsorientierung und Lebensweltbezug sowie Interdisziplinarität und „Aufbrechen von Milieublasen“ (ebd.:68-71). Keuchel hofft andersherum auch auf einen Nutzen für die Kulturelle Bildung, die nicht selten auf ihre Verwertungsmöglichkeiten für ökonomische Interessen hin geprüft wird (z.B. was Kreativität und Innovation betrifft) und sich selbst zunehmend ökonomischen Prinzipien unterworfen sieht, etwa wenn bei der finanziellen Förderung der Wettbewerbsgedanke in den Vordergrund rückt und die Pflege der Infrastruktur vernachlässigt wird. Sie beschreibt darüber hinaus Konvergenzen, wie Perspektivwechsel als Prinzip oder das emanzipatorische Moment der Bildungsziele, und Divergenzen. Diese bestehen für Keuchel „vor allem in den Spannungsfeldern Prozess- versus Ergebnisorientierung und Subjekt- versus Gemeinwohlorientierung“ (Keuchel 2020:43). Während Kulturelle Bildung prozessorientiert, ergebnisoffen sei und vor allem die Selbstbildung zum Ziel habe, orientiere sich Bildung für Nachhaltige Entwicklung mit einem klaren Ziel am Gemeinwohl hinsichtlich eines Wissens über Zusammenhänge zur Herstellung einer globalen Gerechtigkeit (ebd.).
Diese Gegenüberstellung ist sicher zutreffend, doch bleibt ein wichtiger Aspekt Kultureller Bildung dabei unbeachtet. Viele Angebote und Projekte Kultureller Bildung finden in einer Gruppe statt und werden in dieser ausgehandelt: Gemeinsames Musizieren, Theaterspielen und Tanzen bedürfen der gegenseitigen sowie auf die Gruppe bezogenen Aufmerksamkeit und der gemeinsamen Verantwortung. Auch das Planen oder Betrachten einer projektabschließenden Ausstellung vollzieht sich als gemeinschaftliche Aktion. So können für die Umsetzung der Ziele Nachhaltiger Bildung sehr wichtige Kompetenzen im Rahmen Kultureller Bildung erlangt werden: die eigene Perspektive und das individuelle Anliegen in einem größeren, gemeinsamen Kontext zu verorten, die Perspektiven und Anliegen der Anderen wahrzunehmen und anzuerkennen und schließlich ein gemeinsames Anliegen zu entwickeln und zu verfolgen. Der Begriff ‚Teilhabe‘ hat in diesem Sinne eine umfassendere Bedeutung und fokussiert nicht allein auf die Zugänglichkeit, wenngleich diese stets bedacht werden sollte (vgl. Glaser 2014, Liebau 2015).
Darüber hinaus bietet das von Keuchel genannt Prinzip ‚Perspektivwechsel‘ nicht nur individuelle Erkenntnisse, die für die Selbstbildung wertvoll sind. Perspektivwechsel steigern die Empathiefähigkeit, die wiederum eine wichtige Voraussetzung für solidarisches Handeln ist (vgl. Rorty 1995:306, 313). Beim Musizieren, beim Tanzen oder beim Zirkus werden Rollen eingenommen und Parts übergeben, und insbesondere beim Theaterspielen ermöglicht das Hineinschlüpfen in eine andere Figur oder die arrangierte Interaktion zwischen Personen ungeahnte Einsichten (vgl. z.B. Zielke 2019). Auch ästhetisch-bildnerisches Tun kann mit einem Perspektivwechsel verbunden werden, etwa indem aus einer bestimmten, eingenommenen Rolle heraus bildnerisch gestaltet wird (vgl. Engels 2022:235f.). Insgesamt bietet Kulturelle Bildung folglich viele Möglichkeiten, die Empathiefähigkeit zu fördern, um so solidarisch handeln zu können, was im Kleinen (beispielsweise in der Kita-/Hort-Gruppe oder in der Klassengemeinschaft) wie im Großen (global und auf andere Lebewesen bezogen) von Bedeutung ist.
Hort, Ganztag und Freizeit
Im Freizeitbereich gibt es verschiedene Angebote Kultureller Bildung. Die Formate sind vielfältig und finden an den unterschiedlichsten Orten statt. Auch die Anbietenden sowie die einzelnen Akteure sind so vielfältig wie die Angebote selbst. Diese Freizeitangebote aus der Kindheitspädagogik heraus zu systematisieren wäre ein Forschungsvorhaben wert; Studien zu ihnen jedenfalls gibt es reichlich – hier genügt ein Blick auf die Plattform „kubi online“.
Was Kulturelle Bildung im Ganztag angeht, so lässt sich einerseits eine positiv zu bewertende Ausweitung des Angebots und andererseits ein erstaunliches Ausbleiben einer gezielten Kooperation zwischen Schule und Kooperationspartner*innen konstatieren (vgl. Züchner 2018). Derzeit wird der Ausbau von Ganztagsschulen vorangetrieben, die vielerorts den Hort ablösen. Damit verbunden ist ein durchaus intendierter Wandel von Schule. Diese außerunterrichtliche institutionelle Bildung zu fundieren, steht an. Hier ist klar die Kindheitspädagogik gefragt! Auch vor diesem Hintergrund erscheint es notwendig, Kulturelle Bildung nicht allein von den Sparten her zu denken, sondern sie überdies in der Kindheitspädagogik zu verankern. Der Unausgewogenheit im Angebot zugunsten von Sportvereinen und Musikschulen (vgl. die Übersicht bei Züchner 2018) könnte so zudem entgegengetreten werden. Diese verfügen über gefestigte Strukturen – auch hinsichtlich der Finanzierung. Jugendkunstschulen dagegen beispielsweise gibt es fast nur in Ballungszentren und wie Musikschulen gefördert werden nur wenige. Eine Stärkung der Kulturellen Bildung im Feld der Kindheitspädagogik würde eine Versorgung mit einem breiten Angebot, das alle Kinder mit ihren unterschiedlichen Interessen anspricht, sichern (s.a. Schurr 2017:101).
Fazit
Kulturelle Bildung bietet grundlegende Bildungsgelegenheiten. In Settings Kultureller Bildung werden die Sinne auf unterschiedliche Weise angeregt und so eine differenzierte Wahrnehmung ermöglicht. Hiermit ist nicht nur die Schulung der Sinne sowie die individuelle Wahrnehmungsfähigkeit als Grundlage allen Lernens angesprochen, sondern auch die Fähigkeit, nicht nur sich selbst und die Welt, sondern auch Perspektiven und Bedürfnisse Anderer wahrzunehmen. Für ein Bildungs- und Erziehungsziel „Gesellschaftlicher Zusammenhalt“, auf das neben der Bildung für Nachhaltige Entwicklung in schulischen wie außerschulischen Bildungsinstitutionen verstärkt hingearbeitet werden könnte, zeigt sich hier ein großes Potenzial. Die Künste würden dabei nicht in den Dienst genommen, wie vielleicht manch ein*e Vertreter*in befürchtet, denn die kulturelle Praxis selbst geht häufig in einem Miteinander auf. Von einer Etablierung der Kulturellen Bildung als ein Kernbereich der Kindheitspädagogik profitieren beide gleichermaßen: Die Rolle der Kunst-, Musik-, Theater-, Tanz- und Kulturpädagogik würde im Bildungsgeschehen aufgewertet und die Kindheitspädagogik in einem zentralen Feld um Handlungsweisen sowie -orte und Expertise bereichert. Dabei geht es nicht allein darum, über die Kindertagesstätten und Ganztagsschulen allen Kindern verschiedene Angebote Kultureller Bildung – etwa über Kooperationspartner – zu unterbreiten und auf diese Weise mehr Bildungsgerechtigkeit versuchen herzustellen. Denn welche Erfahrungen Kindern möglich sind, ist bislang sehr vom Elternhaus abhängig (vgl. Czerwonka/Bilstein 2022). Kulturelle Bildung in der Kindheitspädagogik mehr zu verankern, würde bedeuten, sie verbindlich in der Kindertagesstätte und im Hort oder im Ganztag zu verorten und sie als selbstverständlichen Teil der Ausbildung der dort tätigen Fachkräfte zu begreifen.