Kunst und ästhetisch-bildnerisches Tun im Elementarbereich
Abstract
Dem Thema Qualität wird im Bereich frühkindliche Bildung mehr und mehr Beachtung geschenkt. Wie lässt sich das Thema in Bezug auf Bildende Kunst und ästhetisch-bildnerisches Tun angehen? Der vorliegende Beitrag unternimmt eine Annäherung über Begriffe, Fachgeschichte und Bildungspläne. Er liefert eine Bestandsaufnahme und bietet Anstöße zur weiteren Diskussion.
„Kinder zeichnen, malen, und gestalten“ (Peez 2015), ob wir dies gezielt anregen oder nicht. Sie malen mit Tomatensauce auf dem Tisch oder gestalten Behausungen darunter. Welchen Stellenwert erhält da ästhetisch-künstlerische Bildung? Was sind Ziele und wer formuliert sie vor welchem Hintergrund? Während die Kunstpädagogik für den schulischen Bereich verschiedene, elaborierte und ganz unterschiedlich theoretisch fundierte Ansätze vorweisen kann, ist das Feld im Elementarbereich noch wenig vermessen. Die Gründe hierfür sind vielfältig. Zu nennen wäre hier etwa der Umstand, dass für diejenigen, die im Elementarbereich mit Kindern arbeiten, in der Regel keine akademische Ausbildung vorgesehen ist – schon gar nicht eine explizit künstlerische oder kunstpädagogische – oder der, dass keine Curricula oder gar Bewertungskriterien auszudifferenzieren und zu begründen sind und somit auch der Bedarf an Theorie und Forschung gering scheint. Doch in dem Moment, in dem Bildungspläne oder -programme „Ästhetische Bildung“ für Kindertagesstätten genauer zu umschreiben beginnen, und das ist seit der Jahrtausendwende der Fall, müssen die Fragen Was?, Wie? und vor allem Warum? großräumig diskutiert werden, was jedoch seither für den Bereich „Kunst und ästhetisch-bildnerisches Tun“ aussteht.
Bislang findet nur an wenigen Orten eine transparente und verbindliche Qualitätssicherung der pädagogischen Arbeit in Kindertageseinrichtungen statt. Ob ein Träger einer Einrichtung der Pflicht, für die Umsetzung des Bildungsprogramms Sorge zu tragen, tatsächlich nachkommt, wird vielerorts nicht überprüft. Dies erscheint skandalös, nicht zuletzt angesichts der Tatsache, dass schon vor über 10 Jahren die Notwendigkeit offengelegt wurde, (auch) in Deutschland „politisch-administrativ verbindlich Akkreditierungsverfahren einzuführen, an denen sich alle Träger und Einrichtungen orientieren müssen“ (Altgeld/Stöbe-Blossey 2009:258) und sich bereits seit 20 Jahren über nationale Qualitätsstandards verständigt wird (vgl. z.B. Tietze/Viernickel 2002). Mit In-Kraft-Treten des „Gute-Kita-Gesetzes“ zum 1.1.2019 und den damit einhergehenden „Gute-Kita-Verträgen“ zwischen Bund und Ländern rückt die Qualitätssicherung wohl mehr ins Blickfeld. Der gesamte Komplex ist dargestellt auf den Internetseiten des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ 2019). Künftig wird der Umsetzung der Bildungsprogramme und -pläne in den einzelnen Bundesländern sicher mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden. Spätestens jetzt also sollten die darin formulierten Ideen über Kunst und ästhetisch-bildnerisches Tun genauer in den Blick genommen werden. Im Folgenden soll ein exemplarischer Einblick erfolgen, um offene Fragen anzusprechen. Doch zunächst lohnt eine Annäherung an Begrifflichkeiten.
Kunstpädagogik, künstlerisch-ästhetische Bildung und Kulturelle Bildung
Mit elementarpädagogischen Fragestellungen befassten sich bis vor wenigen Jahren in erster Linie Vertreter*innen der Erziehungswissenschaften oder der Sozialen Arbeit. Der kunstpädagogisch-kunstdidaktische Diskurs wurde dabei weniger wahrgenommen. Dies mag u.a. darauf zurückzuführen sein, dass sich Fachvertreter*innen der Kunstpädagogik ab den späten 1960er Jahren von der „Musischen Bildung“ strikt abgewandt haben (vgl. Engels 2016) – umso mehr sticht die Bezeichnung des Bildungsbereichs „Musische Bildung/Medien“ im „Gemeinsamen Rahmen der Länder für die frühe Bildung in Tageseinrichtungen“ ins Auge (Jugendministerkonferenz/Kultusministerkonferenz 2004). Insbesondere durch Gunter Otto wurde der Fokus auf eine Kunstdidaktik gelegt und im Weiteren über die zweite Phase der Lehrer*innenbildung etabliert, die Planbarkeit und Überprüfbarkeit verspricht (vgl. Busse 2014:35f.). Außerhalb von Schule hat sie kaum Relevanz. Die schulspezifische Bildgattung „Bilder der Schüler“ (Busse 2003:21) oder ‚Bilder des Kunstunterrichts‘, die im Zusammenhang mit einer konkreten Aufgabenstellung steht, ist nur im Setting Schule denkbar. Ein weiterer Grund mag darin liegen, dass die kunstpädagogische Theorielandschaft seit den 1970er Jahren sehr unübersichtlich geworden ist (vgl. Peez 2013/2012). Ästhetische Erfahrungen in der Schule sind grundsätzlich an- und mitgedacht, stehen jedoch nicht im Zentrum, bzw. können insgesamt „nicht in den Kern schulpädagogischen Handelns vorrücken“ (Bender 2014), was – wie Cornelie Dietrich treffend anmerkt – mit der „Schule [...] und ihrem Festgeschrieben-Sein auf die Funktion der Selektion“ zu tun haben mag (Dietrich 2013/2012). Schon Ende der 1960er Jahre hielt Otto fest, dass die Konzentration auf Lernziele und auf das Erreichen dieser Lernziele „eine Schwierigkeit“ für den Kunstunterricht bedeutet (Otto 1969:188), doch war es für die Legitimierung von Kunstunterricht damals wichtig, solche zu formulieren (vgl. Engels 2015:208-212). Die heutige Fokussierung auf Standards und Kompetenzen verschärft diese Problematik weiter (vgl. Peez 2013/2012, vgl. auch Engels 2017:181-189). Glücklicherweise ist der Elementarbereich dagegen frei davon!
Die Begriffe Ästhetik und Aisthesis grenzt Andreas Brenne klar voneinander ab, wenn er sich kunstpädagogischen Fragestellungen zur frühen Bildung widmet, für die er diesbezüglich einen „blinden Fleck“ ausmacht (wobei Studien zum Primarbereich hier durchaus anschlussfähig sind; vgl. z.B. Kirchner 1999:160-185). „Kunstpädagogik hat zwei Bezugsfelder bzw. Bezugsdisziplinen: Sie bezieht sich zum einen auf eine allgemeine Bildung des Menschen im Sinne einer basalen ästhetischen Erfahrungsbildung (Aisthesis). Sie ist aber zum anderen auch der [...] Ort der Begegnung mit der bildenden Kunst, visueller Alltagskultur in unterschiedlichen Medien (Ästhetik).“ (Brenne 2013/2012) Dass diese Unterscheidung nicht selbstverständlich ist, macht Gundel Mattenklott deutlich, die auf die sich wandelnde Verwendung der Begriffe eingeht: „Während in der frühen Diskussion über den Begriff ‚Ästhetik‘ die griechische Wortbedeutung von ‚aisthesis‘ auf die neuen deutschen Wörter Ästhetik und ästhetisch übertragen wurde, gewann vor allem in der zweiten Hälfte des 20. Jh.s das Adjektiv ‚ästhetisch‘ ein recht diffuses Eigenleben. Umgangssprachlich oft gleichgesetzt mit schön, meint ästhetisch in den gegenwärtigen geistes- und kulturwissenschaftlichen Diskursen ein weites Bedeutungsfeld verschiedener Natur-, Alltags-, Lebenserfahrungen und -gestaltungen, wobei es stets mit einer Reflexion auf den Gegenstand ebenso wie auf das Subjekt des Erlebens gekoppelt ist.“ (Mattenklott 2013/2012)
Wiederum anders akzentuiert schlagen Mona-Sabine Meis und Georg-Achim Mies für den Bereich Soziale Arbeit drei Begrifflichkeiten vor: ästhetisch, künstlerisch und künstlerisch-ästhetisch. Das erste Adjektiv bezieht sich auf „die spielerischen, experimentellen, die Sinne einbeziehenden und ansprechenden Tätigkeiten im Umgang mit künstlerischen Materialien“, die nicht auf ein Ergebnis zielen. „Künstlerisch dagegen“ meint „eine zielgerichtetere und ergebnis-orientierte Haltung und Handlung“. „Künstlerisch kann sich zudem auch auf gestaltetes Material und ein gestaltetes Werk beziehen und hebt dann im Gegensatz zu ästhetisch die bewusste Formung, Komposition und Ausarbeitung hervor.“ Das Adjektiv „künstlerisch-ästhetisch“ schließlich markiert „das Zusammenspiel der unterschiedlichen Schwerpunkte“. (Meis/Mies 2018:21f.)
Diese Definitionen beziehen sich auf alle künstlerischen Sparten. Eine Pädagogik in diesem Sinne wird vertreten durch den Ober- und Sammelbegriff der Kulturellen Bildung, dem, wie zuletzt Frank Jebe ausführlich dargelegt hat, nicht immer ein einheitliches Verständnis zugrunde liegt (Jebe 2019:11-22). Man ist sich in Verbänden, Gremien und Initiativen darüber einig, dass Kulturelle Bildung wichtig für die Persönlichkeitsentwicklung von Kindern ist (Jebe 2019:21). Die persönlichkeitsbildenden Aspekte genau aufzuschlüsseln, ist jedoch ein nicht grade einfaches Unterfangen (vgl. Reinwand-Weiss 2015; vgl. Timm et al. 2020). Insgesamt vergessen werden darf dabei nicht, dass die Kulturelle Bildung eine vergleichsweise junge Disziplin ist, die in ihrer historischen Entwicklung der Musischen Bildung entstammt und die mit einer sozialen und politischen Dimension verbunden wird (Reinwand-Weiss 2013/2012). Die Orte, an denen Kulturelle Bildung stattfindet, haben jeweils unterschiedliche Betriebsbedingungen, die in einigen Kontexten – meist geht es um die Finanzierung – Rechtfertigungsdruck provozieren. Aus diesem heraus messbares Gelingen oder Wirken von Kultureller Bildung belegen zu wollen (und entsprechende Studien aufzusetzen) birgt die Gefahr einer fachlich unangemessenen Reglementierung, die sich für den schulischen Kunstunterricht bereits vor 50 Jahren als ungünstig erwiesen hat (s.o.). Die Musikschulen stehen in diesem Feld gut da; es gibt sie (fast) überall, ihr Sinn und Zweck wird eher selten hinterfragt und auch auf eine Rente dürfen dort Tätige in der Regel zählen. Kunstpädagog*innen, die nicht als Lehrer*innen in der ‚Zwangsveranstaltung‘ Schule (vgl. Billmayer 2008:309) arbeiten möchten, können davon nur träumen. Kindertagesstätten – ebenso den Ganztagsbereich in Schulen – als zentrale Orte der Kulturellen Bildung für Kinder aufzufassen, erweitert die Perspektive.
Kunstpädagogik für den Elementarbereich
Schulbezogen hat die Kunstpädagogik viele Ansätze verfolgt und beforscht (vgl. Peez 2005). Erst seit etwa 10 Jahren – nachdem die meisten Bildungsprogramme geschrieben waren – werden Fragestellungen zu Kunst und ästhetisch-bildnerischem Tun im Elementarbereich vermehrt in einem wissenschaftlichen Kontext bearbeitet. Hier zu nennen sind zunächst die Publikationen von Ludwig Duncker, Gabriele Lieber, Norbert Neuss und Bettina Uhlig („Bildung in der Kindheit. Das Handbuch zum Lernen in Kindergarten und Grundschule“) sowie die von Kirsten Winderlich („Kunst & Ästhetik. Bildungsjournal Frühe Kindheit“), beide aus dem Jahr 2010, die spartenübergreifend verschiedene Aspekte in den Blick nehmen und Beispiele aus der Praxis anführen (Duncker et al. 2010, Winderlich 2010). Insbesondere die Publikation von Duncker, Lieber, Neuss und Uhlig beschreibt wichtige Grundlagen, wobei das Sinnlich-Leibliche kindlicher Weltbegegnung und -aneignung besonders betont wird. Nicht unerwähnt bleiben sollen in diesem Zusammenhang der von Roswitha Staege 2016 herausgegebene Sammelband „Ästhetische Bildung in der frühen Kindheit“, in dem einzelne Beiträge studienbasiert besondere Schlaglichter in den Bereichen Spiel, Bilder, Musik und Sprache setzen (Staege 2016) sowie der aktuelle Sammelband von Norbert Neuß und Lena S. Kaiser zum ästhetischen Lernen (Neuß/Kaiser 2019). Georg Peez isoliert 2015 erstmals den Bereich „Kunst und bildnerisch-ästhetische Praxis“, indem er eine Monografie vorlegt, die sich ausschließlich im Bereich Kunstpädagogik bewegt. Peez stellt u.a. aktuelle Studien zur Entwicklung der Kinderzeichnung, deren Erforschung eine lange Tradition hat, und zur Kreativitätsforschung vor. Außerdem wendet sich Peez der Frage zu, inwiefern bei Kinderbildern von Kunst die Rede sein kann und wie „Kunstbegegnungen“ begleitet werden können (Peez 2015). Thomas Heyl und Lutz Schäfer schließlich präsentieren 2016 eine „Pädagogik des Bastelns und ihre Didaktik“, die sie an den Pädagogischen Hochschulen in Freiburg und in Karlsruhe etabliert und gemeinsam mit Studierenden in Kitas erprobt haben (Heyl/Schäfer 2016). Die Publikation enthält viele anregende und gut dokumentierte Beispiele. Ein kunstpädagogisch-fachlicher Diskurs findet im Bereich Elementarbildung jedoch noch kaum statt; Fachtagungen sind selten und es gibt kein entsprechendes Organ. Somit eröffnet sich ein weites Feld, dem sich die Kunstpädagogik verstärkt widmen sollte.
In den oben genannten Publikationen werden unterschiedliche Begriffe verwendet („ästhetische Praxis“, „ästhetische Bildungspraxis“, „ästhetische Bildung“, „bildnerisch-ästhetische Praxis“, „frühe ästhetische Bildung“). Ich verwende in Anlehnung an Peez den Begriff „ästhetisch-bildnerisches Tun“, um einerseits das schulisch-kunstdidaktische Feld klar zu verlassen und den übergreifenden Bereich der Kulturellen Bildung zu betreten, jedoch die Sparte Bildende Kunst mit ihren spezifischen Materialien, Techniken und Verfahren sowie Erscheinungs- und Präsentationsformen in den Fokus zu nehmen. Denn anders als etwa in der aktuellen Fassung des „Nationalen Kriterienkatalogs“ für „pädagogische Qualität in Tageseinrichtungen für Kinder“ grundgelegt, sollten die verschiedenen Bereiche „Musik und Sprache, Spiel und Tanz/Bewegung, Matschen und Malen“ nicht grundsätzlich als „eins“ betrachtet werden (Tietze/Viernickel 2016:198). Wer Kinder beobachtet, stellt fest, dass ein Kind, das matscht oder malt, nicht selten dabei summt oder sich Geschichten erzählt, oder dass ein Kind, das Spuren formt, nicht selten dies im Schwung mit dem gesamten Körper und in einem gewissen Rhythmus tut. Doch wenn es um Bildung geht, und das wäre zu diskutieren, ist es von Bedeutung, ob im Weiteren die pädagogische Fachkraft das Material, die Melodie, die Erzählung aufgreift oder das Zeichen, die Bewegung, den Rhythmus und auch wie dies geschieht. Für das Kind mag es „eins“ sein, für die professionelle pädagogische Interaktion oder das einzurichtende Setting jedoch erscheint es wichtig, diese mit den spezifischen Ausdrucks-/Kunstformen oder Kulturtechniken rückzukoppeln. Damit ist nicht gemeint, dass die Bereiche in der Praxis getrennt werden sollten. Für eine Fundierung dieser Praxis erscheint es allerdings notwendig, die Sparten in ihrer Eigenart anzuerkennen und die jeweils besonderen Ausdrucks- und Erscheinungsformen sowie die spezifischen Techniken herauszustellen.
Ein anschauliches Beispiel beschreiben Thomas Heyl und Lutz Schäfer: Kita-Kinder betrachten Figuren aus Ton, die sie in der Vorwoche erstellten. Die Figuren haben sich in der Zwischenzeit verändert, was ein für den Erzieher zunächst unerwartetes Verhalten auslöst, dem er professionell begegnet. Anstatt auf seinem ursprünglichen Plan zu beharren, die Figuren gemeinsam zu betrachten, greift er den Impuls auf, den ein Kind einbringt, das mit dem hell getrockneten Ton auf der dunklen Unterlage zu zeichnen beginnt und die Gruppe auf die Effekte aufmerksam macht. Der Erzieher erkennt das Potential der Handlung und überführt sie umgehend in ein neues Setting, das dem grafischen Akt voll umfänglich gerecht wird. Er stellt schwarzes Tonpapier bereit, das nicht nur größtmöglichen Kontrast in der Farbigkeit bietet, sondern aufgrund seiner Beschaffenheit leicht sichtbar verschiedene Tonwerte beim Auftragen in unterschiedlicher Stärke ermöglicht. (Heyl/Schäfer 2016:80-84) So wird deutlich, dass es hier nicht nur darum geht, einen dafür vorgesehenen und gut ausgestatteten Raum zur Verfügung zu haben und Kindern verschiedene Angebote zum Erkunden und Experimentieren zu unterbreiten, sondern darüber hinaus mediumspezifisch Impulse aufzugreifen und in ästhetisch-bildnerisches Tun zu überführen. Das Alter der Kinder, ihre individuellen Voraussetzungen und Bedürfnisse, sind dabei selbstverständlich zu berücksichtigen.
Kunst und ästhetisch-bildnerisches Tun in den Bildungsprogrammen der Länder
Bildung ist Ländersache, was sich auch deutlich in den Bildungsprogrammen für Kindertageseinrichtungen der einzelnen Bundesländer bemerkbar macht. Sie unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Ausführlichkeit und auch Konkretheit erheblich (vgl. Deutscher Bildungsserver). In allen Bundesländern wird ein eindeutiger Lern- oder Bildungsbereich formuliert, in dem ästhetisch-künstlerische Bildung einen klaren Ort hat, auch wenn häufig darauf hingewiesen wird, dass die Bildungsbereiche sich durchdringen. So heißt der Bereich in Berlin, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern, im Saarland und in Sachsen „Bildnerisches Gestalten“, in Bayern „Ästhetik, Kunst und Kultur“, in Brandenburg „Darstellen und Gestalten“, in Bremen „Bauen und Gestalten“, in Hessen „Bildnerische und Darstellende Kunst“, in Niedersachsen „Ästhetische Bildung“, in Nordrhein-Westfalen „Musisch-ästhetische Bildung“, in Rheinland-Pfalz „Gestalterisch-kreativer Bereich“, in Sachsen-Anhalt „Bildende Kunst“, in Schleswig-Holstein „Malen und Gestalten“ und in Thüringen „Künstlerisch-ästhetische Bildung“ (dieser Plan umfasst alle Kinder und Jugendlichen bis 18 Jahre).
Aus diesem Muster bricht der Baden-Württembergische „Orientierungsplan“ aus dem Jahr 2011 aus. An ihm haben Vertreter*innen ganz unterschiedlicher Felder und Disziplinen mitgearbeitet, u.a. der Heidelberger Kunstpädagoge Mario Urlaß. Er ist besonders ausführlich und eignet sich daher, grundsätzliche Fragen und Themen aufzufächern (Ministerium für Kultus, Jugend und Sport 2011). Der Orientierungsplan listet nicht die einzelnen Bildungsbereiche auf, sondern geht zunächst vom Kind und seinen Motivationen aus. So formt er eine Matrix aus kindlichen Motivationen und Bildungs- und Entwicklungsfeldern (Motivationen: „Anerkennung und Wohlbefinden erfahren“, „Die Welt entdecken und verstehen“, „Sich ausdrücken und verständigen“ sowie „Mit anderen leben“; Bildungs- und Entwicklungsfelder: „Körper“, „Sinne“, „Sprache“, „Denken“, „Gefühl und Mitgefühl“ sowie „Sinn, Werte und Religion“), zu denen auch jeweils Hinweise zur „Weiterführung in der Schule“ gegeben werden. Für die einzelnen Motivationen werden in Bezug auf die Bildungs- und Entwicklungsfelder jeweils „Fragen als Denkanstöße“ formuliert. So ergibt sich beispielsweise im Feld „Sich ausdrücken“/„Körper“ die Frage „Wie wird das Kind angeregt, unterschiedliche Medien gestalterisch zu nutzen?“ (ebd.:30). Im Feld „Anerkennung und Wohlbefinden erfahren“/„Denken“ findet sich u.a. die Frage „Wie werden auch Kleinstkinder ermutigt, Dinge zu riechen, zu befühlen, zu sortieren und zu stapeln?“ (ebd.: 40) oder im Feld „Sich ausdrücken können“/„Gefühl und Mitgefühl“ die Frage „Welche Möglichkeiten hat jedes Kind seine Freude oder sein Leid, seine Gefühle insgesamt in Bildern, Gesten, Theaterspiel und Musik auszudrücken?“ (ebd.:44).
Die Fragen implizieren, dass eine Antwort „gar nicht“ oder „keine“ nicht im Sinne des Programms ist und darauf hingearbeitet werden soll, vielseitige Antworten geben zu können. Aus den Fragen der Matrix-Felder ergeben sich in Bezug auf Kunst und ästhetisch-bildnerisches Tun zusammengenommen folgende Ansprüche, die ich hinsichtlich möglicher Ziele gruppiert habe:
>> Sinne entfalten
- Es soll „strukturierende Unterstützung [...] zur Steuerung seiner Aufmerksamkeit und zur Verarbeitung seiner Sinneseindrücke“ erhalten (ebd.). Dem Kind sollen Möglichkeiten gegeben werden „über Sinneseindrücke zu sprechen (z.B. bei Bild- und Kunstbetrachtungen, beim Musikhören)“ (ebd.) und sie sollen als „Sprechanlass“ u.a. zum Erschließen neuer Begriffe dienen (ebd.:37). Das Kind soll lernen, „sich über seine Sinneseindrücke verbal zu äußern (z.B. zu Farben, Formen, Klängen, Gerüchen etc.)“ (ebd.:34) und es soll dazu angeregt werden, „Sinneseindrücke auf vielfältige Weise auszudrücken (mit Instrumenten, Naturmaterialien, Alltagsgegenständen, eigenem Körper, bildnerischen Gestaltungen etc.)“ (ebd.).
- Den Kindern sollen Angebote für „ungewohnte Sinneserfahrungen [...] (z.B. Sonnenbrillen, Prismen, Kaleidoskope, Verzerrspiegel, Regenrohr, Hörspaziergänge)“ unterbreitet werden (ebd.).
>> Umgebung und Dargestelltes wahrnehmen
- Es soll „Möglichkeiten der Bild- und Kunstbetrachtung und des Musikhörens“ geben (ebd.: 34).
- Den Kindern sollen „weitere Erfahrungsräume außerhalb der Einrichtung [...] erschlossen [werden], in denen sie unmittelbare Lernerfahrungen machen können (z.B. Künstleratelier, Konzertsaal, Theater, Museum, Galerie, Markt, Wald, Park, Wiese, Bauernhof, Handwerksbetriebe)“ (ebd.:33).
- Das Kind soll dazu angeregt werden, „die Unterschiede zwischen der Alltagswirklichkeit und der ‚Wirklichkeit‘ der Bilder und Medien zu entdecken“ (ebd.:41).
- Kindern sollen „besondere Denkleistungen der Menschen (z.B. Erfindungen in Wissenschaft und Kunst) [...] bewusst gemacht“ werden (ebd.).
- Den Kindern sollen „mediale Angebote“ gemacht werden und sie sollen sich „aktiv und kreativ damit auseinandersetzen“ (ebd.:34). „Außerhalb der Einrichtung gemachte Medienerfahrungen“ sollen sie einbringen und „kindgemäß“ verarbeiten können „(z.B. Gespräche, Rollenspiele, bildhafte Gestaltungen)“ (ebd.). Kinder sollen motiviert werden, „auf ein vielfältiges Medienangebot (Bilderbücher, Hörspiele, Kinderfilme etc.)“ zuzugreifen (ebd.:37).
- Das Kind soll „Symbole in seiner alltäglichen Umwelt“ finden und „in ihrer jeweiligen Bedeutung erfassen“ können (ebd.).
- Jedes Kind soll in „Geschichten, Bildern, Theaterstücken, Musikstücken und Filmen [...] seine Gefühle wieder[finden]“ und „unterschiedliche Identifikationsfiguren“ entdecken können (ebd.:44).
>> Gestalten/Darstellen/Ausdrücken
- Sie werden „angeregt, Bewegungen zeichnerisch darzustellen (z.B. gestisches Kritzeln, Malen und Zeichnen mit Musik, Menschendarstellung)“ (ebd.:30).
- Das Kind soll angeregt werden, „unterschiedliche Medien gestalterisch zu nutzen“ und eine „respektvolle Ahnung von den virtuosen Möglichkeiten der menschlichen Hand“ bekommen (ebd.:30).
- Den Kindern soll Zeit und Raum gegeben werden, „Pläne zu entwickeln, etwas zu bauen, zu verwerfen, zu ändern und wieder neu zu entwickeln“ (ebd.:30).
- Auch Kleinstkinder sollen ermutigt werden, „Dinge zu riechen, zu befühlen, zu sortieren und zu stapeln“ (ebd.:40).
- Das Kind soll dazu angeregt werden, „erste eigene perspektivische und räumliche Überlegungen anzustellen (Zimmer, Spielplätze, etc. zeichnen oder bauen)“ (ebd.:41).
- Dem Kind soll die Möglichkeit geboten werden, „sein Denken z.B. mit Malfarben, verschiedenen Materialien oder Musikinstrumenten kreativ auszudrücken“ (ebd.).
- Das Kind soll „Erfahrungen mit der Natur in die eigene sprachliche, künstlerische und musikalische Gestaltung einbeziehen können“ (ebd.).
- Das Kind soll dazu angeregt werden, „seine Ideen mit vorgefertigtem oder in der Natur vorhandenen Material variantenreich zu gestalten“ (ebd.) Die Kinder erhalten „Anregungen, Dinge des Alltags auch zweckentfremdet zu gebrauchen“ (ebd.).
- Kinder sollen angeregt werden, „Geschichten und Erlebtes, Gefühle und Ideen in kleinen Rollenspielen, Bildern, Hörspielen, Filmen, Daumenkino etc. und in Musik umzusetzen und sprachlich zu begleiten“ (ebd.:37). Das Kind soll „zu phantasievollen Erfindungen in Geschichten, künstlerischen Gestaltungen, Situationen, Phänomenen ermutigt“ werden (ebd.).
- Kinder sollen angeregt werden, „etwas zu dokumentieren (z.B. Erfindungen, kleine Versuchsanordnungen, Bauanleitungen und -pläne) oder sich Merkzettel zu erstellen“ (ebd.) sowie „Briefe und Merkzettel zu ‚schreiben‘ (malen, diktieren, kritzeln, Buchstaben schreiben)“ (ebd.). Dokumentation sollen auch gemeinsam gestaltet werden (ebd.:38). Seine „Erfahrungen und Denkleistungen“ soll das Kind präsentieren können „(sprachlich, in seinem persönlichen Mal- und Zeichensystem, ästhetisch-künstlerisch, körperlich, kreativ, [...]“) (ebd.:41).
- Jedes Kind soll Möglichkeiten haben, „seine Freude oder sein Leid, seine Gefühle insgesamt in Bildern, Gesten, Theaterspiel und Musik auszudrücken“ (ebd.:44).
>> Kommunikation und Gemeinschaft
- Ein „respektvoller Umgang mit individuell unterschiedlichen Wahrnehmungen und Ausdrucksformen“ soll „unterstützt und angeregt“ werden (ebd.:34). Auch „Ausdrucksformen der eigenen und fremder Kulturen und Epochen“ sollen „sinnlich erfahren“ werden (ebd.).
- Die Kinder sollen „in gemeinsamen Gestaltungen“ erfahren, „dass sie durch ihre individuellen Gegebenheiten und Fähigkeiten für die Gruppe hilfreich sind“ und „Gemeinschaft aktiv erleben“ (ebd.)
- Kinder sollen dazu veranlasst werden, „zu ihren eigenen Bildern zu sprechen“ (ebd.:38).
Ausbildung der pädagogischen Fachkräfte und „Distinktion“
Es wird deutlich, dass in dem Orientierungsplan vielfältige Aspekte angesprochen sind und dass die Ansprüche durchaus hoch sind. Bei einigen Aspekten wäre ein Begründungszusammenhang hilfreich, beispielsweise wenn es darum geht, dass Kinder zu ihren Bildern sprechen oder ihre „Erfahrungen und Denkleistungen“ präsentieren sollen. Was ebenso nicht aus dem Programm hervorgeht ist, wie genau die Forderungen eingelöst werden können und welche Hilfestellungen durch die Begleitpersonen gegeben werden können. Und es stellt sich die Frage, inwieweit ein*e auf üblichem Wege ausgebildete*r Erzieher*in mit den vielen Dimensionen von Kunst und ästhetisch-bildnerischem Tun, die hier angesprochen sind, ausreichend vertraut ist, um entsprechend agieren zu können. Anhand des Baden-Württembergischen Orientierungsplans lässt sich also die Notwendigkeit ableiten, über die personelle Aufstellung von Teams in Kindertageseinrichtungen zu diskutieren. Die an einigen Orten eingeführte Praxis, selbstständige Bildende Künstler*innen schlecht bezahlt und ohne pädagogische Aus- oder Weiterbildung zum Einsatz zu bringen, ist zu hinterfragen (vgl. Jebe 2019:207).
Ein weiterer Punkt sei mit Blick auf die Bildungsprogramme angesprochen: die „Geschmackserziehung“, welche zu früheren Zeiten ein explizit formuliertes kunstpädagogisches Ziel darstellte (vgl. Engels 2015:96). In Brandenburg etwa wird Wert auf hochwertigen Wandschmuck gelegt: „Der Raum- und Wandschmuck von Einrichtungen werden überprüft, ob er frei ist von kindertümelndem Kitsch und stattdessen Raum gibt für anregende Kunstwerke, Architekturskizzen und Ähnliches.“ (Ministerium für Bildung, Jugend und Sport Land Brandenburg 2005:22) „Mickey Mouse“ und „Märchentapeten“ sind ausdrücklich unerwünscht (ebd.:23). In dem neuen Thüringer Bildungsplan von 2019 ist die Heranführung an „Hochkultur“ klar formuliertes Bildungsziel: „Es gilt in der künstlerisch-ästhetischen Bildung, Kindern und Jugendlichen einen Raum zu schaffen, in dem sie ihre in der Familie erworbenen ästhetischen Orientierungen zum Ausdruck bringen, reflektieren und erweitern können und durch Anerkennung und Präsentation ihrer Ausdrucksformen eine gesellschaftliche Integration erfahren. Das Kennenlernen von Orten, Werken und Produktionen sogenannter Hochkultur – z. B. durch den Besuch von Kultureinrichtungen wie Museen – findet unter dieser Zielstellung statt. Zugänge müssen durchlässig gestaltet sein auch hinsichtlich sozioökonomischer Aspekte.“ (Thüringer Ministerium für Bildung, Jugend und Sport 2019:174) „Habitusbildung“ und „Distinktion“ werden in diesem Zuge genannt und erläutert, ohne dass hierzu kritisch Stellung genommen wird. Interessanterweise wird „Distinktion“ zudem anhand von Norbert Elias‘ Studie zu Abgrenzungsbemühungen des Adels vom aufstrebenden Bürgertum erklärt [ebd.:174], während Pierre Bourdieus etwas mehr gegenwartsbezogener Ansatz, der die Distinktionsstrategien des Bildungsbürgertums im 20. Jahrhundert beschreibt, nicht erwähnt wird (Bourdieu 1987). So lässt sich fragen, ob es wohl auch darum geht, Erzieher*innen einen bildungsbürgerlichen Habitus anzuempfehlen. Sollte eine Disney-Film-Liebhaberin demnach besser einen anderen Beruf als den der Erzieherin ergreifen? Oder sollte sie frühzeitig entsprechend eingeweiht werden? Wo und wie?
Kunst
Der Besuch von Museen oder anderen Kunst-Ausstellungen scheint außer Frage zu stehen. „Denn nur dort sind materiale, räumliche atmosphärische Eigenschaften der Werke sinnlich erlebbar.“ (Peez 2015:148) Dem ist sicher zuzustimmen, doch fehlt bislang vielerorts eine kindorientierte Möglichkeit der Erkundung. Wer mit Kindern ein Museum besucht, hört sich selbst nicht selten mahnen: „nicht rennen!“ (obwohl die weiten Räume und die langen Gänge dazu einladen) und „nicht anfassen!!“ (obwohl die opulenten Bilderrahmen geradezu dazu auffordern). Es dürfte klar sein, dass dies kaum mit dem „Forscherdrang“ und der „Leibgebundenheit“ kindlicher Weltaneignung in Einklang zu bringen ist (vgl. Duncker 2010:15 und Schultheis 2010:19). Zwar wird in vielen museumspädagogischen Angeboten der leibbezogenen Wahrnehmungsweise Rechnung getragen, indem beispielsweise ein Koffer mitgeführt wird, der „Materialen und Alltagsgegenstände“ als „sinnliche Wahrnehmungsbrücken“ enthält, „die zum Fühlen und Riechen anregen“ (Peez 2015:151), doch ist es von großer Bedeutung, wie und von wem die Materialien zusammengestellt werden (vgl. Winderlich 2010a:29). Ein fern- und vorgesteuerter Zugang eignet sich für eine authentische Begegnung nur bedingt.
Interessant ist in diesem Zusammenhang Fabian Hofmanns Studie zu einem Museumsbesuch einer Kita-Gruppe, die von einem Kunstpädagogen geführt wird. Hofmann stellt die Bedeutung der Stellung des eigenen Körpers in Bezug auf das Kunstwerk (Hofmann 2015:140/144) und die spezifische „Aneignungsweise“ der Kinder heraus, die in seinem Beispiel zu „Alltags-Unterhaltung“ (ebd.:141), zu „einer unfokussierten Alltagskommunikation“ führt, in der die Kinder „persönliche Geschichten oder Assoziationen“ (ebd.:143) erzählen. Der Kunstpädagoge hat, wie Hofmann beschreibt, andere Absichten und so kommt es „unterstützt von den Erzieherinnen“ zu Situationen mit „Zwang, vereinzelt auch mit leichter Gewalt, beispielsweise durch Ignorieren von Beiträgen, Schimpfen oder gar Wegziehen eines Kindes“ (ebd.:144). Es bleibt offen, ob die Kinder vom Museumsbesuch das mitgenommen haben, was die Erzieher*innen intendierten.
Wie wichtig diese persönlichen Geschichten und Assoziationen für die Auseinandersetzung und überhaupt für das Anbahnen von Interesse für ein Bild oder ein Werk sind, betont Bettina Uhlig (Uhlig 2008; Uhlig/Funke 2021). Museumspädagogik sollte hier ansetzen und den Gedanken der „Vermittlung“ vorgedachter Inhalte hinterfragen. Ebenso ist das Setting hinsichtlich eines ‚heimlichen Lehrplans‘, wie er in Hofmanns Beispiel aufscheint, zu überprüfen. Angebote für Familien oder Kindergruppen, die darauf zielen, die Besucher*innen von morgen zu akquirieren, gehen womöglich an den Kindern vorbei. Für ältere Besucher*innen werden bereits neue Denkarten der Museumspädagogik erprobt (vgl. Preuß/Hofmann 2019); für Kinder müssen die Überlegungen, was im Kunstmuseum erfahren werden kann und (nicht) werden sollte, vertieft werden.
Neben Architektur und Kunst im öffentlichen Raum, die weniger Berührungsverbote bergen, gibt es eine weitere leicht zugängliche Form der Bildenden Kunst, der bislang viel zu wenig Beachtung geschenkt wird: die Bilder in Bilderbüchern. Durch sie können Kinder mit den unterschiedlichsten Bildwelten in Kontakt kommen (vgl. Uhlig 2010:102) und durch den alltäglichen Zugang kann eine individuelle und wiederholte Auseinandersetzung stattfinden. Die Bedeutung von Bilderbüchern als Türöffner für die Welt der Kunst ist so zentral, dass sie eine gesonderte Betrachtung verdienen (Engels 2021).
Abschluss: Kunst, ästhetisch-bildnerisches Tun und Distinktion bei Isabel Pin
In ihrem Bilderbuch „Als alle früher nach Hause kamen“ bringt Isabel Pin - wie bereits Kirsten Winderlich ausführlich beschrieben hat (Winderlich 2010b:7-9) - wesentliche hier angesprochene Aspekte auf den Punkt: „Mittwochs ist es prima, dann malen wir. Manchmal malen wir alle das Gleiche: Tiere auf dem Bauernhof, die Familie ... Weil wir brav gewesen sind, darf heute jeder malen, was ihm gefällt. Ich nehme den dicksten Pinsel, ein weißes Zeichenblatt und fange an ...“ (Pin 2006). Was Tom, der sich in seiner häuslichen Umgebung vielfältig bildnerisch-ästhetisch ausdrückt, in der Einrichtung zu Papier bringt, erfahren die Leser*innen erst ganz am Ende des Bilderbuchs. Jedenfalls scheint es sehr fragwürdig und besorgniserregend zu sein, denn im Verlauf der Geschichte sind es immer mehr Erwachsene, die herbeigeholt werden, um sich einen „Reim darauf zu machen“. Zunächst äußert sich die Erzieherin: „Oh, mein Gott, Tom!!!“ (Abb. 1) Es wird die Mutter gerufen, um Tom früher abzuholen; zu Hause sind es dann Vater, Oma und sogar der Arzt, die versuchen, Ausmaß und Bedeutung des scheinbar vollkommen abweichenden Verhaltens zu erfassen (Abb. 2). Erst als Toms Freundin aus der Nachbarschaft vorbeischaut, um den Grund für das ungewöhnliche Besuchendenaufkommen zu erfahren, klärt sich alles: „Lilly hat ihre Augen weit aufgerissen und mich angesehen, wie sie es immer macht, wenn ich auf den Händen durch den ganzen Garten laufe. ‚Es ist echt super, dein schwarzes Quadrat, Tom!‘“ (Abb. 3) Nun können die Erwachsenen lächeln. Auf der letzten Buchseite ist Toms Bild signiert und gerahmt auf dem Sideboard aufgestellt zu sehen. Die Verunsicherung ist damit gezähmt.
Abb. 1-3: Ausschnitte aus „Als alle früher nach Hause kamen" (Pin 2006)
Anhand dieses Bilderbuchs lässt sich eine Vielzahl von typischem Verhalten Erwachsener in Bezug auf Kinderbilder ablesen: Sie stellen stereotype Aufgaben, sie benennen und werten ungefragt und sie dringen auf eine Deutung. Zudem denken sie oft nicht vom Kind aus, was sich im Buch durch die Perspektive äußert: Die entscheidende Szene, in der endlich zum Vorschein kommt, was Tom gemalt hat, gibt auch sein Blickfeld wieder; von den Erwachsenen sind lediglich die Beine zu sehen. In dem Bilderbuch kommt nicht nur die „existentielle Bedeutung ästhetischer Bildungsprozesse“ zum Ausdruck (Winderlich 2010b:9), die in diesem Fall in erster Linie von den Erwachsenen angenommen wird, sondern auch die Bedeutung des Umgangs von Begleitpersonen mit dem ästhetisch-bildnerischen Tun von Kindern. Der Clou des Buchs erschließt sich nur einschlägig Gebildeten: „Das schwarze Quadrat“ ist ein Werk von Kasimir Malewitsch aus dem Jahr 1915, eine „Ikone“ der Malerei, die den Anbruch einer neuen Kunst-Epoche markiert.
Ein Aufbruch zu einem neuen Verständnis von dem, was in einer Kindertageseinrichtung im Hinblick auf den Bereich „Kunst und ästhetisch-bildnerisches Tun“ geschehen kann, ist sicher längst vollzogen. Ob und wie er sich in der Praxis niederschlägt, muss weiter verfolgt werden.