Labor zeitgenössische Kunst – Künstlerische partizipative Ansätze in der Kulturellen Bildung
Abstract
Folgender Beitrag gibt einen thematischen Einblick in konzeptionelle Ansätze und künstlerische Strategien von Partizipation in Offenen Settings Kultureller Bildungspraxis mit Jugendlichen mit dem Fokus auf zeitgenössische Kunst. Künstler*innen kommen aus unterschiedlichen künstlerischen Kontexten in die Praxis Kultureller Bildung und verfügen über Arbeitsbiografien mit großer Diversität. Praxiserfahrung und theoretische Reflexion im Bereich der Kulturellen Bildung erlangen Künstler*innen in der Regel durch eine heterogene Projektpraxis nach ihrem Studium. Das berufliche Umfeld, aus dem Künstler*innen in die Kulturelle Bildungspraxis kommen, ist in Entwicklung begriffen und verortet sich in polaren Spannungsfeldern. Ihre oft idealistische Motivation mit Jugendlichen zu arbeiten, werden von Kooperationspartner*innen und Fortbildner*innen dabei vielleicht anders interpretiert. Dies sind komplexe Bedingungen mit vielschichtigen Herausforderungen für Künstler*innen und ihre Kooperationspartner*innen, die teilhabeorientierte Projekte durchführen. Es obliegt den Akteur*innen des Feldes, den Einrichtungen und Institutionen, der Politik und der Verwaltung das Engagement seitens der Künstler*innen stärker wahrzunehmen, sichtbar zu machen und zu unterstützen.
Meinen thematischen Einblick in konzeptionelle Ansätze und künstlerische Strategien von Partizipation im Rahmen Kultureller Bildungspraxis entwickele ich mit dem Fokus auf zeitgenössische Kunst und aus der Perspektive der weißensee kunsthochschule berlin, an der ich seit 2012 fachgebietsübergreifend Seminare zu künstlerisch-gestalterischen Projekten mit gesellschaftlichen Gruppen im Kontext der künstlerischen Mittlung und der Kulturellen Bildung anbiete (Jas 2014:4, weißensee kunsthochschule berlin 2019). Zu Grunde legen möchte ich auch die Erfahrungen mit meinem Konzept zu dem Labor zeitgenössische Kunst, in dem Möglichkeiten zur Partizipation in künstlerischen und transdisziplinären Prozessen erkundet und befördert werden, z.B. in dem Projekt When Education turns to Art (Jas 2015). Das Konzept des Labors konnte in Grundzügen mit dem künstlerischen Büro in den KW Institute for Contemporary Art und Studierenden der weißensee kunsthochschule berlin in mehreren Projekten zwischen 2013 und 2016 entwickelt und erprobt werden.
Das Konzept war Ausgangspunkt meiner Arbeit im Rahmen der Faculty des Vermittlungsprogramms der documenta 14 (Documenta/Museum Friedericanum 2019). Wesentliche Elemente konnten in Workshops mit Chorist*innen in Athen und Kassel einfließen und modifiziert werden: 200 Mitglieder des Chors - „die Chorist*innen“ führten sogenannte Spaziergänge für und mit Besucher*innen der documenta 14 durch. Die Qualifizierung des Chors im Zuge der documenta 14 wurde mit der Faculty konzipiert – einer Gruppe von Künstler*innen und Kunstpädagog*innen, die unterschiedliche Methoden und Ansätzen einbrachten. Zu den Mitgliedern der Faculty zählten Mona Jas, Gila Kolb, Konstanze Schütze, David Smeulders und Leanne Turvey (eda). Diese Erkenntnisse und Erfahrungen fließen in die anschließenden Überlegungen ein.
Wie positionieren sich also Künstler*innen in ihrer kulturellen Bildungspraxis mit Jugendlichen in Offenen Settings zu Partizipation? Die Fragestellung wurde von den Leitenden des Weiterbildungsformates ARTPAED. Kulturelle Bildung in Offenen Settings als Ausgangspunkt für meinen Input im Rahmen der Fachtagung Kulturelle Jugendbildung im Juni 2017 entworfen. Die Formulierung wirft weitere Fragen auf, da sie Aussagen und Begriffe enthält, die möglicherweise – je nach Perspektive – sehr unterschiedlich verstanden werden können.
‚Die’ Künstler*in in der Kulturellen Bildung gibt es nicht
Zunächst zum Begriff ‚Künstler*in’. Künstler*innen kommen aus unterschiedlichen künstlerischen Kontexten in die Praxis Kultureller Bildung und verfügen über Arbeitsbiografien mit großer Diversität (Speck/Hohmaier 2017:94). 2010 wurden bundesweit insgesamt 243.000 Künstler*innen in freien künstlerischen oder publizistischen Berufen erfasst, darunter Musiker*innen, Darstellende Künstler*innen/Sänger*innen, und Bildende Künstler*innen aus freien und angewandten Bereichen (Keuchel 2013:68). Zahlreiche Initiativen zu künstlerischen Angeboten für Kinder und Jugendliche werden in unterschiedlichsten Organisationsformen aus der Gruppe der freischaffenden Künstler*innen auf den Weg gebracht (eda.:69). Für 2010 gibt die Projektübersicht der Datenbank von mapping//kulturelle-bildung dazu an, dass über die Hälfte im außerschulischen Bereich – das heißt also in Offenen Settings – durchgeführt werden. Bundesweit sind Projekte aus dem Bereich der Bildenden Kunst stark vertreten (eda.:70). Diese Tendenz zeichnet sich auch in einzelnen Bundesländern deutlich ab (Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie 2013:20).
Werfen wir den Blick auf Künstler*innen aus dem freien und angewandten Bereich der Bildenden Kunst: 10.000 Künstler*innen sind im Dachverband des Bundes Bildender Künstlerinnen und Künstler (BBK) organisiert (BBK 2019). Wer Kunst studieren möchte, kann sich an einer der 24 Kunsthochschulen oder Akademien bundesweit bewerben, die zum Teil sehr unterschiedliche Studiengänge anbieten (BBK 2019). Praxiserfahrung und theoretische Reflexion im Bereich der Kulturellen Bildung werden Studierenden der Künste und des Designs in der Regel nicht konsekutiv angeboten: Das Kunst- und Designstudium an einer deutschen Hochschule bietet im grundständigen Bereich wenig Raum, um Erfahrungen aus Kollaborationen mit Kindern und Jugendlichen zu sammeln. Auch vermittelt es selten Kenntnisse und theoretisches Wissen zu künstlerischen Projekten im Feld der Kulturellen Bildung. Eine Ausnahme bilden Projekte der Klasse kooperative Strategien der Künstlerin und Professorin Irene Hohenbüchler an der Kunstakademie Münster, welche unterschiedliche Lebenswelten und vielfältige Kooperationen mit kulturellen Einrichtungen in ihr Zentrum stellen (Hohenbüchler 2017a, 2017b).
Auch über sogenannte Zielgruppen künstlerischer Projekte im Feld der Kulturellen Bildung lassen sich kaum allgemeine Aussagen treffen, so legt es uns die Auswertung empirischer Daten der Studie mapping//kulturelle-bildung nahe (Keuchel 2013:71). Auf die komplexe Beziehung zwischen Künstler*innen und den Einrichtungen und institutionellen Bereichen der Jugend, Bildung und Kultur wird in Endberichten und Abschlusspublikationen, die an öffentlich finanzierte Programme gekoppelt sind, hingewiesen: Das NRW-Landesprogramm Kultur und Schule ist ein Beispiel für kulturelle Angebote von freischaffenden Künstler*innen mit Kindern und Jugendlichen, in dem Daten erhoben und ausgewertet wurden (ebd.:69). Praxisreflexionen finden sich zu dem bundesweiten Modellprogramm Kulturagenten für kreative Schulen oder auch zu dem Landesprojekt Artus (Forum K&B 2015; Landesinstitut für Schule und Medien Berlin-Brandenburg LISUM 2010). Darüber hinaus gehende kritische Kontextualisierungen werden beispielsweise im Umfeld des Instituts für Kulturpolitik und Kulturmanagement der Stiftung Universität Hildesheim (Mandel 2016; Fink 2017) sowie dem Institute for Art Education der Zürcher Hochschule der Künste (Mörsch 2009a; 2009b; 2015) durchgeführt.
Auffallend ist, dass sich ein Großteil der oben angeführten Reflexionen und Studien zu Künstler*innen in der Kulturellen Bildung auf den Bereich von Schule beschränken. So beforscht z.B. die Bamford-Studie Programme Kultureller Bildung in den Curricula der Schulsysteme im internationalen Vergleich (Bamford 2010). Der Bundesverband Bildender Künstlerinnen und Künstler (BBK) untersucht in seiner Studie „Wow – Kunst für Kids“ (BBK 2010) im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung und Forschung die Situation der ästhetischen Erziehung in Deutschland ganz allgemein – ohne Einschränkung auf Schule. Die Studie befragt nicht die Einrichtungen oder Institutionen, sondern die Künstler*innen selbst:
„Nur so war ein authentisches Ergebnis zu erhalten, das umfassend über deren Motivationslage, deren sozialen Hintergrund und allen übrigen relevanten Bedingungen Aufschluss gibt“ (BBK 2010:5).
Welche konkreten Motive führen Künstler*innen nun in das Feld der Kulturellen Bildung? Einzelne Fallstudien der Studie „WOW Kunst für Kids“ über Projekte von Künstler*innen mit Kindern und Jugendlichen öffnen den Blick auf Motivationen:
„Eine ganze Reihe von Antworten aus der Umfrage lassen darauf schließen, dass Kunstprojekte mit Kindern und Jugendlichen aus starker idealistischer Motivation heraus zustande kommen“ (BBK 2010:37).
Die folgende Checkliste, welche im Rahmen von Qualifizierungsangeboten für Künstler*innen in der Kulturellen Bildung 2016 von dem Career & Transfer Service Center der Universität der Künste Berlin auf der Hochschulseite veröffentlicht wurde, bemüht sich, den Aspekt von Motivation an den Ausgang der Überlegungen zu stellen, nimmt das Moment des ‚Idealismus’ dabei jedoch wenig auf:
„Checkliste – kulturelle Bildung – ein Wirkungsfeld für Künstler/innen?
Die folgenden Überlegungen sollen Ihnen dazu dienen, sich beim Wirken in der Kulturellen Bildung selbst zu positionieren. Nehmen Sie sich ein wenig Zeit zum Nachdenken über nachfolgende Fragen vor dem Beginn einer Projektdurchführung und der Erstellung einer Konzeption.
>> Bereitet es Ihnen Freude Projekte zu initiieren/anzuleiten?
>> Haben Sie Freude im Umgang mit Kindern/Jugendlichen und gesellschaftlichen Gruppen? [...]“ (Universität der Künste Berlin 2016).
Dies kann ein Hinweis auf die unterschiedlichen Haltungen und Erwartungen der Akteur*innen im Feld sein: Ihre Annahmen zu Motivationen von Künstler*innen in der Kulturellen Bildung zu arbeiten, entsprechen möglicherweise nicht den tatsächlichen – idealistischen – Motivationen derselben. Es gibt sie nicht – die Künstler*in. Arbeitsschwerpunkte und -formate, sogenannte Zielgruppen und Organisationsformen lassen sich durch die große Heterogenität des Feldes nicht beschreiben. Die Motivation von Künstler*innen mit Jugendlichen zu arbeiten, werden von Kooperationspartner*innen und Fortbildner*innen vielleicht anders interpretiert. Dies sind komplexe Bedingungen mit vielschichtigen Herausforderungen für Künstler*innen und ihre Kooperationspartner*innen, die teilhabeorientierte Projekte durchführen.
Künstler*innen positionieren sich?
Wie positionieren sich nun Künstler*innen in der kulturellen Bildungspraxis mit Jugendlichen in Offenen Settings zu Partizipation? Die Frage impliziert – ebenso, wie die oben erwähnte Checkliste –, dass sich Künstler*innen positionieren können – im Sinne des Einnehmens eines Standpunktes – und dies dementsprechend strategisch auch tun. Können sie dies? Settings und Bedingungen im Feld der Kulturellen Bildung sind komplex. Auf der Mikroebene formen sie sich durch die Situation, in der die jeweiligen Akteure verschiedener Professionen und Altersgruppen gemeinsam wirken. Auf der Mesoebene werden Settings durch verschiedene Systeme und Institutionen gebildet und auf der Makroebene durch allgemeine politische und gesellschaftliche Strukturen.
Der Begriff der Positionierung deutet hingegen auf die Möglichkeit einer eigenen individuellen Setzung durch die Künstler*in. Diese Setzung und Einnahme eines Standpunktes und die damit einhergehende Gestaltung des Raums der Mikro- und Mesoebene, in dem Projekte der Kulturellen Bildung stattfinden, ist erstrebenswert. In Bildungssystemen wird die eigene Positionierung auf der Mesoebene oft durch Rahmenbedingungen wie den zeitlichen Strukturen und Gruppengrößen, die durch das Curriculum festgelegt werden, erheblich erschwert. Eine weitere Schwierigkeit bewirkt die Anwesenheitspflicht der Schüler*innen in Projekten. Sie sind nicht aus eigenem Antrieb in dem Projekt und betrachten es als Teil des Schulunterrichtes.
In freien Settings, wie sie z.B. durch Jugendkulturzentren ermöglicht werden, ist der Raum zur Positionierung für Künstler*innen größer. Die Jugendlichen kommen freiwillig in die Einrichtung, um an offenen Angeboten ihrer Wahl teilzunehmen. Da es keine Benotung der Prozesse und Ergebnisse gibt, entsteht ein wertfreier Raum zur Gestaltung (Josties 2015:68). Dazu kommt, dass auch die zeitliche Gestaltung weitgehend unabhängig gesetzt werden kann und so den Logiken der Akteure folgt und nicht umgekehrt. Akteure, die in den Jugendzentren arbeiten, kommen aus dem Jugendbereich und können aus fachlicher Sicht soziale und partizipative Prozesse beraten und unterstützen.
Gleichwohl ist es so, dass Künstler*innen auch hier in vorgefundene Gegebenheiten der Systeme hineingeraten, werden Rahmenbedingungen durch die Finanzstrukturen geformt. Im Jugendbereich sind die Ressourcen knapper bemessen als im Bildungsbereich. Künstlerische Projekte bedürfen daher in Jugendkulturzentren einer zusätzlichen Finanzierung, während Schulen diesbezüglich einen gewissen Spielraum haben. Auch ist die Gewinnung von Jugendlichen nicht immer leicht. Die Ganztagsschulen und der Pisa-Druck minimieren den frei gestaltbaren Freizeitbereich der Jugendlichen. Die Ausgestaltung der Prozesse und die Positionierung im Sinne der Projektziele der Künstler*innen, wie zum Beispiel der Wunsch nach der Partizipation der Teilnehmenden, muss daher durch Anpassung an das Gegebene erfolgen, darauf aufbauend mögliche Variationen erkundend, erprobend und damit Veränderungen bewirkend. Positionierung bedeutet dann ein sorgfältiges Ausloten von möglichen Veränderungen immer in Abwägung mit der Gewinnung der anderen Akteure in den Grenzen der Systeme; dies sogar – wie die Auswertung der Interviews der BBK Studie es im folgenden Zitat deutlich macht – unter Inkaufnahme eigener finanzieller Nachteile:
„Auf die Frage in den Interviews mit den besuchten Künstlerinnen und Künstlern: ‚Inwieweit tragen Sie diesem Stellenwert (der Entwicklung der Kinder und Jugendlichen) Rechnung bei der Realisierung in Bezug auf Unterrichtsform, Aufgabenstellung, Gruppengröße?’, zeigt sich, dass nahezu alle Antworten eine große Sensibilität in dieser Frage belegen. Die Künstlerinnen und Künstler messen bei der Planung und Umsetzung ihrer Projekte diesem Aspekt große Bedeutung bei mit ganz unterschiedlichen Konsequenzen: So werden die Gruppen klein gehalten, um auf die Kinder individuell eingehen zu können und es ihnen zu ermöglichen, ihr kreatives Potenzial frei zu entfalten, obwohl mit größeren Gruppen in der Regel mehr zu verdienen wäre“ (BBK 2010:46).
Das vorangegangene Zitat belegt, welchen zentralen Stellenwert die Entwicklungsmöglichkeit der Jugendlichen für Künstler*innen in ihrer Praxis der Kulturellen Bildung einnimmt. Künstler*innen positionieren sich also mit ihren konzeptionellen Ansätzen in der Praxis Kultureller Bildung wie zum Beispiel dem der Entwicklungsmöglichkeit der Teilnehmenden. Zum Teil haben sie diese in ihrer Praxis als Künstler*in entwickelt und ‚wenden’ diese nun modifiziert (siehe oben) in der Kulturellen Bildung ‚an’. Zum Teil entwickeln sie neue konzeptionelle Ansätze für die Projekte der Kulturellen Bildung – auch gemeinsam mit Teilnehmenden –, die dann wiederum neue Impulse für die künstlerische Arbeit setzen können.
Hintergrund: Berufsfeld Kunst und Kultur
Das berufliche Umfeld, aus dem Künstler*innen in die Kulturelle Bildungspraxis kommen, ist in Entwicklung begriffen und verortet sich in polaren Spannungsfeldern: Künstler*innen benötigen spezielle fachliche und gleichzeitig allgemeine Kompetenzen, sie müssen autonom auf sich gestellt leben können und gleichzeitig sozial engagiert in Netzwerken präsent sein, sie pendeln zwischen prekären Anstellungen und selbständigem Unternehmertum, arbeiten über existierende Märkte hinaus, gestalten komplett neue Möglichkeiten für sich und andere und sind Katalysator*innen für Veränderungen und Erneuerungen:
„As catalysts of change and innovation, artistic workers face special challenges managing ambiguity, developing and sustaining a creative identity, and forming community in the context of an individually based enterprise economy” (Lingo/Tepper 2013:337).
Großevents der zeitgenössischen Kunst – wie die documenta 14 – veranschaulichen mit ihren Präsentationen, wie Themen, Aufgaben, Selbstverständnis und Positionierungen zeitgenössischer Künstler*innen in diesen Spannungsfeldern verortet sind. Sie basieren auf künstlerischer, wissenschaftlicher, kuratorischer, managerialer, betriebswirtschaftlicher und pädagogischer Expertise, oft mit gesellschaftspolitischem Anspruch. Kollaborative Projekte manifestieren sich zunehmend in unterschiedlichen gesellschaftlichen Räumen. Die Orientierung auf das eigene Werk wird durch eine verstärkte Hinwendung zum Prozess und zum Subjekt abgelöst. Seit den 1990er Jahren erscheinen die Künste stärker im Kontext von politisch motivierter Intervention oder von Kunstvermittlung (Babias 1995:23).
Rose Valland Institut ist beispielsweise ein von der Künstlerin Maria Eichhorn im Rahmen der documenta 14 konzipiertes Projekt, welches die Enteignung der jüdischen Bevölkerung Europas erforscht und mit dem Open Call „Unrechtmäßige Besitzverhältnisse in Deutschland“ an die Öffentlichkeit bindet. Damit wird jede*r aufgerufen, NS-Raubgut im ererbten Besitz zu recherchieren und dem Institut Informationen zu vermitteln (Boecker/Vogel 2017:341). Ein weiteres Beispiel ist die Installation „Fundi“ von dem Künstler Aboubakar Fofana, in deren Zentrum blau gefärbte Textilien von der Decke der Documenta Halle in Kassel schweben. Abouar Fofana verbindet seine jahrelange Forschungsarbeit zu Indigofärberei mit Workshops zum Wissenstransfer (Boecker/Vogel 2017:287). Unter zahlreichen weiteren sind dies zwei Positionen, die heterogene Verfahren künstlerischer Praxis nutzen und Ausgangspunkte für Kulturelle partizipative Bildungspraxis bieten. „Rose Valland Institut“ und „Fundi“ lassen darüber hinaus erkennen, dass es im kulturellen Bereich nicht um ‚eindeutige Bedeutungen’ geht. Die konzeptionellen Ansätze basieren – ob kooperativ oder individuell – auf Transformationen, die in einer ständigen Suchbewegung neue, gemeinsame und kollektive Sprechweisen mit einer Vielzahl von Sprecher*innen produziert – in diesen Beispielen mit Formaten wie einem Open Call oder Workshops zum Wissenstransfer über Indigofärberei. Die Arbeit in unterschiedlichen gesellschaftlichen Räumen mit heterogenen künstlerischen Verfahrensweisen basiert auf verschiedenen Kooperationsstrategien und generiert multiple Autorenschaften (vgl. Jas 2014:8).
Konzeptionelle künstlerische Ansätze im Hinblick auf Partizipation
Inwiefern können Ansätze künstlerischer Praxis – wie oben dargestellt – eine spezifische Partizipationspraxis mit Jugendlichen bilden (BKJ 2016:4)? Die Nutzung von Kooperationsstrategien, die Einbindung multipler Autor*innenschaft, experimentelle Verfahrensweisen mit Gruppen – all dies bildet eine Grundlage zeitgenössischen, künstlerischen Handelns und ist gleichzeitig Ausgangspunkt partizipativer Praxis Kultureller Bildung. Im Folgenden werden Ansätze vorgestellt, die dieses Verhältnis in verschiedener Hinsicht ausgestalten:
- Künstler*innen, die aus einer hauptsächlich vermittelnden Praxis kommen, betrachten die Vermittlungsprozesse selbst als künstlerische Praxis (team*partake 2009:46).
- Künstlerische Arbeit an sozialen und gesellschaftlichen Schnittstellen kann in jeder ihrer Phasen durch den Dialog mit Teilnehmenden erweitert, fundiert oder gar ermöglicht werden, zum Beispiel „Democracy Poll“ von Group Material (Wagner 1995:307) oder „Twelve Ballads for a Huguenot House“ von Theaster Gates (Scharrer 2012:430). Die Beteiligten gestalten mit und werden zu Ko-Autor*innen des Kunstwerkes.
- Das künstlerische Werk kann im Hinblick darauf entwickelt werden, als Werkzeug von Gruppen genutzt zu werden, zum Beispiel die Arbeit „The Artists Reserved Rights Transfer and Sale Agreement“ von Seth Sigellaub 1972 (Sigellaub/Projansky 1972:13).
- Die Entwicklung der eigenen künstlerischen Arbeit wird in ständigen Dialogen im Rahmen von Lehr- und Lernsituationen vertieft und erweitert. Hier kann die Arbeit von Josef Albers als Beispiel angeführt werden. In seinem Werk „Interaction of Color“ verdichtet er die Grundlegung einer Didaktik des Sehens, die er in seiner Arbeit als Künstler und Lehrer in einem gemeinsamen forschenden Prozess mit Studierenden entwickelte (Albers 2013:68).
- Ein weiterer Ansatz – aus dem angewandten Bereich der Künste – findet sich in Formen des Co-Designs. Künstler*innen arbeiten mit Teilnehmenden in Bezug auf Vorlieben, Gestaltungs- und Nutzungsweisen von Produkten oder Objekten, zum Beispiel be able, ein partizipatives Design Projekt (be able e.V. 2015). Im Feld der Kulturellen Bildung gestalten sie partizipative Co-Produktionen von z.B. Design-Objekten, Alltagsgegenständen oder Printprodukten mit Jugendlichen und öffnen damit die Chance für die Entwicklung neuer Formen, Bildsprachen und gestalterischen Strukturen zur Mitbestimmung und Teilhabe (z.B. Stuhl-Designs, Lern- und Schulraumgestaltung, Plakatgestaltung). Das Co-Design stellt eine geeignete Möglichkeit der künstlerischen Partizipation dar.
- Die künstlerische Forschung ist ein Ansatz, in dem der künstlerische Prozess den Weg gestaltet, auf dem neue Erfahrungen, Übereinkommen und Produkte entstehen. Die kollaborativen Formen der künstlerischen Forschung sind Grundlage von innovativen Projekten der Kulturellen Bildung wie etwa Interview-Formen, gemeinschaftliche Archive, dokumentarische Performances oder partizipative Stadtforschung. Unterschiedlichste Wissensformen können das Ergebnis der künstlerischen Forschung sein. Hierzu zählen „Embodied/tacit knowledge“, minoritäres Wissen und Erfahrungswissen (Sevsay-Tegethoff 2007:15). Es werden Versuchsanordnungen entwickelt, die Experimentierräume für Dialoge und Perspektivenwechsel bieten (Badura et al. 2015:110).
- Der Ansatz der ästhetischen Forschung verbindet die Bereiche von Alltag, Kunst und Wissenschaft. Auf der Grundlage des Konzepts ästhetischer Bildung von Helga Kämpf-Jansen werden vorwissenschaftliche Erfahrung, künstlerische Strategien und wissenschaftliche Erkenntnisse in einem stringenten Methodengerüst zusammengebracht (Kämpf-Jansen 2012:19-22, 254).
... und warum wirkt das?
Wichtig in der gemeinsamen Praxis Kultureller Bildung ist Vielfältigkeit und Mehrdeutigkeit als klare Abgrenzung zu den Formen der linearen kognitiven Wissensproduktion (Hentschel 2016:55). Diese Elemente sind Kern der künstlerischen Produktionen. Experimentelle Verfahren und innovative Produktionsweisen als künstlerische Arbeitsweisen wiederum gehören ebenso zu Projekten der Kulturellen Bildung. Die Arbeit mit Jugendlichen kann daher auch ein gemeinsames Forschen sein (Peters 2013:7-21). Gleichzeitig bilden diese Elemente die Grundlage für die Entwicklung einer qualitativ hochwertigen künstlerischen Arbeitsweise, mit der Kinder und Jugendliche durch die verwendeten Methodiken und die künstlerische Haltung experimentelle Arbeitsweisen erproben können.
Jugendliche, die einen großen Teil des Tages in einer oder in mehreren Bildungsinstitutionen verbringen, benötigen Räume zum künstlerischen Experimentieren, die vielfältige, heterogene, selbstwirksame und persönlichkeitsstärkende Erfahrungen, wie die oben beschriebenen Ansätze sie ermöglichen.
Konkrete Elemente, welche Künstler*innen als Expert*innen in die Bildungsprozesse und Lernsettings einbringen, sind der Bezug zu den Künsten, die besondere künstlerisch-kreative Herangehensweise an Fragestellungen und ein künstlerisch-ästhetisches Bewusstsein. Sie bringen individuelle und damit singuläre ästhetische Wahrnehmungsebenen in die gemeinsame Arbeit mit Jugendlichen ein, unterstützen sie dadurch und geben ihnen Anerkennung. Die Sinnhaftigkeit durch die Praxis Kultureller Bildung entwickelt sich für Künstler*innen mit dem zugewandten Interesse für Neues und Unerwartetes; mit der Wertschätzung der Projekte als Fortsetzung künstlerischer Prozesse mit Jugendlichen; mit dem sozialen und politischen Einsatz für Bildungsgerechtigkeit und partizipativer Gestaltungsansätze. Das eigene Erleben von Künstler*innen dieser Form von Sinnhaftigkeit und der damit verbundenen Selbstwirksamkeit, bildet die Grundlage, Jugendlichen in deren eigenen Projekten ebenfalls den Raum für Selbstwirksamkeit und Partizipation zu schaffen. Dies veranschaulichen die folgenden Antworten auf meine Frage an Studierende der Kunsthochschule Halle, warum und welche Motive für den Wunsch in der Kulturellen Bildung zu arbeiten, ursächlich seien:
„Vermittlung des Lernens der Selbstermächtigung / Erleben des Potentials der Gruppen; Forschung: Schaffung von Rahmenbedingungen für Entwicklung der anderen / ich möchte selbst künstlerisch arbeiten und anderen diese Arbeit ermöglichen und das in soziale Zusammenhänge bringen / Ausschlusserfahrung ist biografische Erfahrung; andere Art des Umgangs mit Welt ist vermittlungswürdig; Raum, in dem es nicht um Effizienz geht – als Freiraum / Ich konnte eine Haltung über Kunst entwickeln, Konventionen zu brechen; Perspektivenwechsel; Schnittstelle zum Außen, Austausch / Wissensvermittlung, wir nutzen künstlerische Methoden zur Sichtbarmachung“ Studierende, Burg Giebichenstein, Kunsthochschule Halle (Jas 2013).
Durch eine Verbindung des künstlerischen und gestalterischen Anliegens mit gesellschaftlichem Engagement kann die Arbeit von Künstler*innen im Feld der Kulturellen Bildung erheblich zur partizipativen Qualität der Kulturellen Bildung beitragen. Es obliegt den Akteuren des Feldes, den Einrichtungen und Institutionen, der Politik und der Verwaltung dieses Engagement seitens der Künstler*innen wahrzunehmen, sichtbar zu machen und zu unterstützen – für die Zukunft partizipativer künstlerischer Projekte mit Jugendlichen in Offenen Settings.
Labor zeitgenössische Kunst
Zum Abschluss soll auf das eingangs erwähnte Konzept zu dem Labor zeitgenössische Kunst Bezug genommen werden. In dem Labor werden Tools entwickelt und Räume geschaffen, um Ansätze und Verfahren der zeitgenössischen Kunst mit Akteuren verschiedener Professionen und Altersgruppen zu erproben. Die Art und Weise, wie Räume und Tools beziehungsweise Werkzeuge, genau beschaffen sind und sich ausgestalten lassen, wird gemeinsam mit den Akteuren für jedes Projekt neu erarbeitet. Hinsichtlich künstlerischer und partizipativer Qualität habe ich im Rahmen einer Langzeitbeobachtung auf verschiedenen Ebenen Prozesse, Repräsentationsweisen, Produkte sowie die Strukturen der Zusammenarbeit analysiert. Langzeitbeobachtungen weisen darauf hin, dass die im Folgenden konzipierten Ansätze des Labor zeitgenössische Kunst Partizipation Jugendlicher in außerunterrichtlichen künstlerischen Projekten gut unterstützen können (Jas 2016). Schließlich habe ich im Labor auf der Grundlage der gemeinsamen Arbeit folgende zehn Prinzipien entwickelt, die von den Beteiligten der Projekte jeweils reflektiert und spezifisch modifiziert werden:
- Verstehen durch eigenes Erleben: ausgehend von eigenen Biografien, Erfahrungen, Lebenswelten und Interessen der Teilnehmenden; ohne Hierarchisierung von Erfahrungen (i.S. von: Erfahrung der sogenannten Hochkultur sei besser …)
- Kulturelle Mythen hinterfragen: Formen des Umgangs mit Kunst, Gestaltung, Film, Architektur, Spielen und Kultur im weiten Sinne sind vielfältig, jede Sichtweise ist legitim, die Paläste der Gegenwart gehören allen.
- Individuelle Aneignung von Kunst/Gestaltung: durch Übersetzung in eine eigene Sprache, gleich einem Schneeball, der durch den Schnee gerollt wird, legen sich verschiedene Deutungsschichten übereinander.
- Reflexion, Selbstreflexion, Reflexion der Selbstreflexion: z.B. mit Film-, und Fotodokumentationen, Feed-Backs, begleitenden Evaluationen, Interviews.
- Perspektivenwechsel und Empathie.
- Der Lauf der Dinge: In jeder Situation können sich Abläufe ändern, Unvorhergesehenes kann sich z.B. zum Inhalt der anschließenden Projektphasen entwickeln.
- Ambiguitätstoleranz: das Aushalten von Widersprüchlichkeiten, welche durch Unterschiede und mehrdeutige Informationen auftreten können, sowie das Aushalten von gegensätzlichen Erwartungshaltungen.
- Begriff von Identitäten als beweglich: Identitäten sind stets wandelbar, daher nicht wesenhaft und nicht feststehend.
- Verständnis der Zusammenarbeit als „Zone des Lachens“, die eine Kontaktzone herstellt (Clifford 1997:188-219). Das Lachen als Hinweis des Aufdeckens eines besonderen Aspektes der Welt insgesamt (Bachtin 1979:338) und als Vereinigung von Widersprüchlichem und Unvereinbaren, gegen offizielle Normen.
- Das Verständnis von Sprache und Kultur als Medium, welches während des Vorgangs der Kommunikation (Sprache, Geste, Mimik, Haltung, Skizzierung mit Zeichnung, „Vormachen“ - „Nachmachen“, Performance) gemeinsam definiert und „ausgehandelt“ wird. Das, was wir meinen und verstehen, wird in jeder Konstellation neu entwickelt.
Basierend auf den vorangestellten Darlegungen wird die These aufgestellt, dass das Feld der zeitgenössischen Kunst – mit ihren Formaten, Akteure und Institutionen – laborähnliche Situationen ermöglicht, in denen handlungs- und subjektorientierte kulturelle Projekte ihren idealen Nährboden finden. Insbesondere im Rahmen von außerunterrichtlichen Projekten mit Jugendlichen können mit Impulsen der zeitgenössischen Kunst und in ihren Settings experimentelle Räume gestaltet und Tools konzipiert werden, die individuell Potenziale fördern und neue Wahrnehmungen öffnen. Ziele der Projekte, wie neue Perspektiven zu ermöglichen und Grenzen zu überschreiten, können bearbeitet und mit experimentellen und innovativen Methoden transportiert werden, die Potenziale und Ressourcen sichtbar machen. In gemeinsamen künstlerischen Prozessen werden akute und relevante Themenfelder bearbeitet. Die aktuelle Förderlandschaft der öffentlichen Hand ermöglicht unterstützend eine strukturelle Einbindung, die nachhaltige Netzwerke schafft.
In diesem Bewusstsein fordere ich für die Zukunft der Kulturellen Bildung, dass im Rahmen eines Labors der zeitgenössischen Kunst Arbeitsprozesse in Gang gesetzt werden, die Kunst und Gestaltung als nicht-rationale Kommunikations- und Ausdrucksmittel verstehen und Kunstwerke als Ausgangspunkt für etwas Neues in einen Dialog bringen. Die von Künstler*innen, Kurator*innen und dem Kunstmarkt implizierten gesellschaftlichen Werte sollen gegen sich selbst gedreht, expandiert, hinterfragt und somit umgekehrt werden. Die Auseinandersetzung zwischen unterschiedlichen gesellschaftlichen Arealen – mit Kunst, beziehungsweise künstlerischen/gestalterischen Prozessen als Impulsgeber – muss fortgeführt werden.