What works? Arbeitsprinzipien zum Gelingen kultureller Bildungsangebote an der Schnittstelle von Kunst und Schule
EINLEITUNG
// Arts Education to the next level!
Mit der zunehmenden Ausdifferenzierung des Feldes und der Vielfalt der Angebote sowie dem Bestreben, Kulturelle Bildung auf einer breiten Basis auch in formaler Bildung zu implementieren (vgl. KMK 2013, Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2012, Programme wie „Kreativpotentiale“, „Kulturagenten“ etc.), stehen Fragen zur Qualität hierzulande wie auch international seit einiger Zeit im Mittelpunkt der Diskussion. „Quality now! Arts and cultural education to the next level“ titelt eine Konferenz in den Niederlanden (2014) und trifft damit auch bei uns einen Nerv: nicht mehr ob, sondern wie Kulturelle Bildung realisiert wird und unter welchen Bedingungen diese gelingt (vgl. u.a. Fuchs 2006; 2010, Wimmer 2013, Mörsch 2014a), scheint für eine weitere Etablierung und Professionalisierung des Feldes entscheidend.
// Gelingen im Spannungsfeld
Betrachtet man, wie in diesem Artikel fokussiert, die Arbeit von KünstlerInnen in Schulen, so ergeben sich durch die Kooperation der beiden Systeme Kunst und Bildung vielfältige Herausforderungen hinsichtlich des Gelingens und (fast) ebenso viele Auffassungen darüber, wann das Angebot gelungen ist. Mit den verschiedenen Blickrichtungen der AkteurInnen, geprägt durch professionelle wie biografische Hintergründe, variieren die Erwartungen an und die Zielsetzungen für die Kulturellen Aktivitäten – eine Verständigung über gelingende Praxis ist demzufolge nicht immer einfach. Die existierenden Spannungsverhältnisse und Widersprüche hierbei werden sich nicht lösen lassen, es kann jedoch „(…) reflexiv und produktiv sowie professionell“ damit umgegangen und „(…) weniger als Hemmnis denn als Ausgangspunkt für die Arbeit“ (Mörsch 2014a:5ff.) verstanden werden. „Um diese Widersprüche produktiv zu machen, ist allerdings ein vergleichsweise hohes Maß an fachlicher Informiertheit und professioneller Reflexivität notwendig (Mörsch 2014b:244)“. Daher werden dringend Beschreibungs- und Unterscheidungsmerkmale benötigt, die „aus den Künsten“ (vgl. Rat für Kulturelle Bildung 2014:93) heraus entwickelt sind und die Kommunikation über das „künstlerische Bildungsgeschehen“ (Mörsch 2014a:5) ermöglichen sowie die Weiterentwicklung der Angebote unterstützen.
Bisherige Qualitätskataloge geben allerdings kaum Hinweise auf ästhetische / künstlerische Aspekte (vgl. Rat für Kulturelle Bildung 2014). Spezifika hinsichtlich des Lernens in, mit und durch die Künste, der eigentliche Kern der Arbeit, werden kaum adressiert. Auch bleiben Fragen zur Vermittlung seitens der Forschung, was zum Beispiel „the best paedagogy for arts learning“ (Bamford 2010, 83) ist, weitgehend unbeantwortet. Die Projektgruppe „Forschung zur Kulturellen Bildung in Deutschland“ (2014) hebt in diesem Zusammenhang hervor, dass vergleichende Untersuchungen zu Schnittfeldern eher selten sind, die Vermittlungspraxis wenig Beachtung findet und internationale Bezüge beziehungsweise eine internationale Einbettung der Forschung überwiegend fehlen.
// Im Fokus: das Lernen in, mit und durch die Künste
In meiner Untersuchung habe ich die Vermittlungssituation in den Künsten ausführlich betrachtet (Eger 2014). Hierzu habe ich drei als komplementär anzusehende internationale Good Practice-Beispiele ausgewählt, vor Ort mit Hilfe von teilnehmender Beobachtung und Dokumentenanalyse untersucht und miteinander verglichen: Die Praxis Royston Maldooms (London/Berlin, GB), die des Annantalo Arts Centers (Helsinki, FIN) und des Lincoln Center Institutes (New York City, USA). Ausgehend von den Kunst-/ Kulturinstitutionen respektive KünstlerInnen habe ich untersucht, wie die Praxis gestaltet ist, wodurch sich die jeweiligen Ansätze auszeichnen und welche Aspekte die Lernerfahrung in den Künsten für Kinder und Jugendliche unterstützen – und zu einer innovativen Lernkultur in Schule beitragen. Gefördert wurde diese Arbeit durch die Montag Stiftung Jugend und Gesellschaft.
// Internationaler Vergleich
Das interdisziplinäre Kunstzentrum Annantalo im Zentrum Helsinkis beabsichtigt, die „Magie der Künste“ für möglichst alle Kinder und Jugendlichen erfahrbar zu machen, indem breite Zugänge zu Kunst und Kultur geschaffen, künstlerische Prozesse in authentischer Umgebung wie Ateliers, Studios, etc. erfahren, Kunstwerke und der Beruf des Künstlers/der Künstlerin kennengelernt werden. Das Lincoln Center Institute zielt darauf, dass die SchülerInnen durch die aktive Auseinandersetzung mit „echten“ Kunstwerken / Performances übergreifende „Capacities for Imaginative Learning“ entwickeln und ästhetische Bildung im Alltag der Public Schools etabliert wird. Maldooms Praxis richtet sich auf „Social Inclusion“ durch Tanz. Unabhängig von tänzerischer Vorerfahrung, körperlicher Voraussetzung oder sozialer Herkunft sollen die Kinder und Jugendlichen in ihrer Persönlichkeit und in ihrem Umfeld gestärkt werden.
Die Ansätze stehen als einzelner Künstler, als öffentliche und als private Institution mit ihren jeweiligen Zugangsmöglichkeiten, Orten / Räumlichkeiten, Formaten und Schwerpunkten sowie strukturellen Einbindungen in Bildungszusammenhänge für ein breites Spektrum der derzeit stattfindenden Praxis. Aus dem Vergleich der Ansätze und vor dem Hintergrund eines konstruktivistischen Lernverständnisses nach Reich (2008) habe ich acht Arbeitsprinzipien abgeleitet, die das Gelingen unterstützen.
ARBEITSPRINZIPIEN // Acht Dimensionen für das Gelingen
Die im Folgenden ausgeführten Arbeitsprinzipien greifen eng ineinander und wirken sich alle auf die jeweilige Situation aus. Sie verstehen sich nicht als fixe Standards, sondern vielmehr als Diskussions- und Konzeptionsgrundlage, ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Als Impuls für die Praxis können sie mit Blick auf den eigenen Kontext modifiziert und weiterentwickelt werden. Diese Prinzipien beziehen zentrale Aspekte der Debatte um gelingendes Lernen in Schulen mit ein. Sie sind absichtlich bildhaft angelegt und aus unterschiedlichen Perspektiven formuliert: „Begin with the Body!“ und „Sparkling Moments...“ kennzeichnen die Ausgangspunkte der Arbeit. „Learning by noticing, experiencing, … and doing!“ und „In Loops and Spirals“ beziehen sich auf den Vermittlungsprozess, mit „Aware and Awake“ werden die unterrichtenden KünstlerInnen, mit „Uniqueness!“ die Potentiale für die SchülerInnen tiefergehend betrachtet. „Art as a Learning environment“ nimmt die Umgebung und Bedingungen der Praxen unter die Lupe.
// Begin with the Body! Die Bedeutung des Ästhetischen
Bei allen drei Ansätzen ist das Ästhetische (im Sinne von Aisthesis), die leiblich-sinnliche Wahrnehmung Ausgangspunkt und Referenzrahmen zugleich. Sie bildet hier die Grundlage für rezeptive wie produktive Prozesse und ist Bestandteil der Denk-, Entscheidungs- und Handlungsprozesse.
Daher wird der Fokus in der Praxis immer wieder auf das Wahrnehmen von „im Moment Vorhandenem“ gerichtet. Dieses Gewahr werden gelingt jedoch nicht selbstverständlich und von allein: Es bedarf eines sicheren Rahmens und einer offenen, wertschätzenden Atmosphäre, in der sich die SchülerInnen einerseits auf derartige Prozesse einlassen können beziehungsweise wollen. Andererseits sie sich auch trauen, diese Wahrnehmungen zu äußern und Andere daran teilhaben zu lassen. Für eine gegenseitige Verständigung wird auch adäquates Vokabular benötigt. Beim Lincoln Center Institute wird deshalb mit den Kindern und Jugendlichen aktiv nach sowohl Möglichkeiten zur wertfreien Beschreibung als auch den Anlässen für die jeweiligen Sinneseindrücke geforscht. Ein durch den Austausch initiierter Perspektivwechsel ist hier – wie auch bei Annantalo – integraler Bestandteil des Unterrichts.
Sinnliche Wahrnehmungen sind immer an Körperlichkeit gebunden und haben als „leibliches Phänomen“ per se einen individuellen und ganzheitlichen Charakter (vgl. Klinge 2011 o. S.). Beim Tanz – wie das Beispiel Maldoom zeigt – sind diese Erfahrungen im wahrsten Sinne des Wortes hautnah und unmittelbar. Gerade die Erfahrungen „sinnlicher Gewissheit“ sind es, die Lernimpulse setzen und die Neugierde, Kommunikation, Expression anregen (vgl. Reich 2008:144 ff.). Sie ermutigen dazu, den Fragen auf den Grund zu gehen und machen den Sinn für die Lernenden deutlich, denn sie ermöglichen die Überprüfung von Situationen im tatsächlichen Erleben.
Da solche Eindrücke jedoch nie frei von den Kontexten sind, in denen sie erzeugt werden und diese auch bestimmen, wie wir die Welt wahrnehmen, ist es essentiell, sie vor dem kulturellen und gesellschaftlichen Gebrauch sowie den individuellen Hintergründen zu reflektieren. Für Lern- und Bildungsprozesse birgt das ganzheitliche Erfassen und Verstehen mit dem Körper sowie die daraus resultierenden (neuen) Handlungs- und Möglichkeitsräume ein großes Potential – und genau dies kann auch als eine Domäne-Spezifik von Kultureller Bildung angesehen werden: „Kulturelle Bildung beginnt mit den Händen, den Augen, den Ohren, der Nase, und sie darf diesen Bezug niemals verlieren oder verleugnen – wie die Schule als Institution das ja so lange gemacht hat und heute noch oft macht (Bilstein 2013)“.
// Sparkling Moments ...inspirieren, irritieren, involvieren
Es lässt sich bei allen drei Praxen beobachten, dass immer wieder Räume für Sparkling Moments – für überraschende, irritierende, prickelnde, unerwartete Augenblicke – intentional eröffnet werden. Besonders zu Beginn der Arbeit werden die SchülerInnen auf der emotionalen Ebene angesprochen und sozusagen in die Welt der Künste hineingezogen. Dabei werden vorhandene Emotionen nicht als auszuschaltende Störquelle (wie dies vielfach in Schulen gesehen wird), sondern als wertvoller Bestandteil der Situation verstanden. Es geht den unterrichtenden KünstlerInnen offensichtlich darum, ein Begehren zu wecken, mehr erfahren, mehr wissen und etwas können zu wollen.
Diese Momente verweisen auf die von Dewey (1934/2005) beschriebenen ästhetischen Erfahrungen, in denen eine Situation als einzigartig und vollständig, mit einer bestimmten Qualität durchdrungen, erfahren werden. Sie stechen aus dem Fluss der alltäglichen Erfahrungen heraus und zwingen die SchülerInnen beispielsweise durch den Handlungswiderstand oder die Irritation zur Transformation der Situation und damit auch des eigenen Verhaltens.
Persönlich bedeutsam werden diese Erfahrungen insbesondere dann, wenn sie an die individuelle Lebenswelt anschlussfähig sind oder aktiv Verbindungen zu vorhandenem Wissen und Erfahrungen gesucht beziehungsweise hergestellt werden. Seidel et al. (2009) formuliert als ein Gelingensprinzip: „Making Learning relevant and connected to prior knowledge“. Derartige Momente können natürlich auch im Alltag entstehen, jedoch ist die ästhetische Dimension dabei nicht intendiert, sondern Zufall. „Kunst hingegen bemüht sich, die Zufälligkeit weitgehend zu reduzieren (...)“ (Kramp 2012:53) – und das macht meines Erachtens die Künste für Bildungsprozesse so interessant.
Sparkling Moments können nicht garantiert werden. Es kann jedoch eine Aufgabe von Kultureller Bildung sein, Gelegenheiten und unterstützende Rahmenbedingungen für das Erleben von „Ganzheit“, von „Übersummation“ (Bilstein 2013), dem Erfahren von dem Mehr als die Summe seiner Teile, zu schaffen. Annantalo Arts Center unterstreicht in diesem Zusammenhang die Bedeutung einer authentischen künstlerischen Umgebung oder von hochwertigem Material. Maldoom fordert ausreichende Zeiträume für seine Tanzprojekte und die Sichtbarkeit im Schulalltag. Beim Lincoln Center Institute wird mit „live“ Kunstwerken und mit Handlungswiderständen gearbeitet. Räume für Sparkling Moments sowie das Anerkennen und Einbeziehen von Emotionen sind Kennzeichen dieser Arbeit.
// Learning by noticing, experiencing... and doing! Handelnd lernen und gestalten in projektbasierten Formaten
Die untersuchten Ansätze stellen alle das selbsttätige Handeln in den Mittelpunkt und eröffnen, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß, Räume für Experiment, Exploration, Gestaltung und Ausdruck sowie für eigene Nachforschungen. Das handelnde Lernen, ein Learning by Doing, wird in der aktuellen Lernforschung auch als eine Grundbedingung für gelingendes Lernen angesehen (vgl. u.a. Kalantzis/Cope 2012).
Hierbei wird davon ausgegangen, dass Lernen immer ein individueller Konstruktionsprozess ist und am besten gelingt, wenn die Fragen, Erfahrungen oder das Wissen selbstständig erarbeitet werden, es unter Einbezug aller Sinne stattfindet und zusammen mit anderen geschieht, das „Wissen im Werden“ erlebt wird. Darüber hinaus ist es von Bedeutung, dass die gemachten Erfahrungen und das Erforschte in Produkte gleichwelcher Art überführt werden (vgl. Reich 2008).
Alle Beispiele verwenden dazu forschungs- und/oder projektbasierte Formate, in denen vollständige Prozesse – mit Höhen und Tiefen, Geplantem und Improvisiertem, Glücksgefühlen und Ungewissheiten – durchlaufen werden und reale Bedingungen sowie echte Herausforderungen gegeben sind. Zu nennen ist hier zum Beispiel die Widerspenstigkeit künstlerischer Materialien (Annantalo), der Druck einer Aufführung (Maldoom) oder das Erforschen selbst gestellter Fragen (Lincoln Center Institute). Entscheidend bei all dem ist, dass die Kinder und Jugendlichen nicht nur tätig sind, sondern an den Prozessen tatsächlich partizipieren, indem sie eigene Entscheidungen treffen und in ihren Ideen unterstützt werden.
Re-, besonders aber de- und konstruktives Lernen greifen hier eng ineinander. Bieten rekonstruktive Prozesse (hier nicht als Abbild verstanden, sondern als durch den Lernenden modifizierte Aneignung) die Möglichkeit, sich beispielsweise auf der Grundlage von erworbenem Wissen, Können und Erfahrungen zu verständigen, so fordern die Künste in besonderer Weise zur Dekonstruktion auf: Muster, Sichtweisen oder Vorannahmen werden beispielsweise durch Differenzerfahrungen (vgl. u.a. Waldenfels 2010) oder den Wechsel von Rollen irritiert, reflektiert und in Frage gestellt.
„First-Hand“-Erfahrungen mit für die SchülerInnen relevanten Inhalten und die Partizipation der Lernenden sind eine Grundvoraussetzung, will Kulturelle Bildung nicht auf eine „token activity“ (Bamford 2006:148) reduziert werden.
// In Loops and Spirals – Künstlerische Prozesse und der Umgang mit den Möglichkeiten
Künstlerische Prozesse sind bei der beobachteten Praxis durch unterschiedliche Erfahrungs- und Handlungsdimensionen sowie Rahmensetzungen gekennzeichnet. Einige „Zutaten“ hierfür wurden bisher schon beschrieben. Ausgehend von dem oben skizzierten handelnden Lernen, sind es vor allem bestimmte Tätigkeiten, die diese Prozesse auszeichnen und wodurch diese wiederum zugleich ausdifferenziert werden. Die drei Ansätze (in ihrer Komplementarität) fordern und fördern:
>> fragen und sich wundern >> Ideen entwickeln und imaginieren
>> explorieren und experimentieren >> sich ausdrücken und gestalten
>> anbinden und verknüpfen >> nachforschen und recherchieren
>> Material erarbeiten und (aus-)sortieren >> entscheiden und verwerfen
>> interagieren und kommunizieren >> üben und überarbeiten
>> präsentieren und reflektieren >> (auf unterschiedliche Weise) evaluieren
Bei Annantalo wird zum Beispiel Material erarbeitet und dies durch verdoppeln, verdichten, abstrahieren, verschieben, umkehren, reduzieren, kopieren, etc. (vgl. Klein/Barthel/Wagner 2011) gestaltet. Maldoom verwendet unter anderem viel Zeit für das Üben des „Fokus“ oder die Präsentationsfähigkeiten der Kinder und Jugendlichen. Besonderen Wert legt das LCI darauf, dem Wünschen und Wollen freien Lauf zu lassen und regt dazu an, von dem „What is...?“ zu dem was sein könnte „What if...“ (Liu/Noppe-Brandon 2009) zu imaginieren (vgl. auch Greene 2001).
Auch wenn elementare Aspekte gelingenden Lernens auch für das Lernen in, mit, durch die Künste viabel sind, lassen sich künstlerische Prozesse nur schwer vereinheitlichen und verlaufen selten linear – vielmehr in Loops and Spirals. Teaching Artists arbeiten nur zum Teil adressatenorientiert und „durchdidaktisiert“. Bei den drei Beispielen wurde mit Wiederholungen, Bruchstücken, Auslassungen experimentiert und situationsspezifisch navigiert und gedriftet.
Die Praxis kann als ein komplexes Gefüge der beteiligten AkteurInnen, der jeweiligen Gegenstände und Umgebungen angesehen werden. Für das Lincoln Center Institute ist die Arbeit „(...) a complex dance that includes artits, educator, and student; Artwork and perception; teaching, learning and the creation of possibility (LCI 2005:3)”.
// Diversity! Von Vielfalt zur Vielfalt
Anhand der untersuchten Ansätze lässt sich ein breites Spektrum an Gegenständen und Inhalten, Zugängen und Lernwegen, Vermittlungsmethoden und Perspektiven sowie Ergebnissen ablesen. Einigkeit hingegen besteht darin, dass alle, ausgehend von Vielfalt wiederum auf Vielfalt zielen.
Einerseits sind damit die mannigfaltigen Kunstwerke und künstlerischen Prozesse mit ihren schier unzähligen Anknüpfungsmöglichkeiten gemeint. Andererseits kann anhand der Kunstwerke und -formen kulturelle Diversität kennengelernt und reflektiert werden. Die Bewusstmachung von Pluralität kann stereotype Annahmen vermeiden und zur interkulturellen Verständigung beitragen. Vorausgesetzt, dass nicht nur ein westlich dominierter Kanon an klassischen Künsten in die Betrachtung einbezogen wird.
In den Beispielen zeigt sich auch eine Fülle an Lerngelegenheiten, -zugängen und -wegen. Hier wird davon ausgegangen, dass jegliche Gruppe heterogen ist und dass „jeder Gleichschaltungsversuch zur Folge (hat), dass individuelle Genialität verloren geht“ (school is open 2011:24). Heterogenität wird mit Blick auf eine Perspektivvielfalt zur Chance.
Hinsichtlich Howard Gardners Modell der multiplen Intelligenzen (Gardner 1993) können derartige Angebote auch dazu beitragen, über die in Schulen vielfach im Vordergrund stehenden sprachlichen und logisch-mathematischen Intelligenzen hinaus, vielfältige Intelligenzen wie beispielsweise die körperlich-kinästhetische, intrapersonale, musikalische oder räumliche Intelligenz im Sinne einer umfassenden Bildung anzusprechen. Dabei weist jede Kunstsparte ihre eigenen Spezifika auf.
Die Erfahrung von Vielfalt auf den verschiedenen Ebenen kann Widersprüche, Unabgeschlossenes, Ambivalenzen erfahrbar machen und verdeutlichen, dass verschiedene Welten nebeneinander existieren; es immer auch anders sein kann und verschiedene Wahl- bzw. Handlungsmöglichkeiten bestehen. Gleichzeitig besteht die Chance, sich individuell, entsprechend der eigenen Interessen und Wünsche zu entwickeln. Andersheit und Leerstellen zu akzeptieren, sind grundlegende Anliegen bei allen drei Beispielen.
// Aware and Awake – Teaching Artists in der Vermittlungssituation
Bei vielen Teaching Artists, die ich beobachten durfte, war eine körperliche Präsenz spürbar. Die eigene künstlerische Praxis scheint in vielen Fällen inkorporiert, drückt sich in Haltung, Blick, Sprache oder der Art der Vermittlung und der Interaktion mit den SchülerInnen aus. In Bezug auf die darstellenden Künste scheint dies nicht weiter verwunderlich, jedoch war ein ausgeprägtes Embodyment auch bei anderen Sparten zu erkennen. Hier wird deutlich, dass „(s)ämtliche lebensweltlichen Erfahrungen, Erfahrungen des Körpers und Erfahrungen mit dem Körper sind und sich im Körperlichen ablagern“ (Klinge 2011, o. S.).
Oft steht dabei die ganze leibliche Person für die Inhalte, die sie vermittelt. Zum Beispiel sind die KünstlerInnen bei einer Improvisationsaufgabe aktiv dabei (Annantalo), beziehen Stellung (Maldoom) oder geben Persönliches wie individuelle Eindrücke oder Emotionen preis (LCI). Offensichtlich ist, dass sie dabei immer hinter den Methoden und Gegenständen als Personen sichtbar bleiben – und das scheint einen wesentlichen Teil der Faszination für Kinder und Jugendliche auszumachen.
Die unterrichtenden KünstlerInnen verstehen sich als Bestandteil des Lernprozesses und Lernen als ein Prozess, in dem Inhalts- und Beziehungsebene stark miteinander verwoben sind. Die Teaching Artists bieten ihre Expertise und oft auch sich selbst als Anknüpfungspunkt oder Reibungsfläche an. Vielfach verstehen sie sich als Mitlernende („to learn along with the students“, LCI 2012) und gleichberechtigt Forschende. Auch wurde vielfach darauf hingearbeitet, dass Muster erkannt („Identify Pattern“, ebd.) und Modelle konstruiert wurden, auf deren Grundlage weitere Prozesse oder Produkte entschieden werden konnten.
Ein weiterer Aspekt, der die Haltung der meisten beobachteten KünstlerInnen widerspiegelt, besteht darin, dass sie die Kinder und Jugendlichen als ExpertInnen für ihre eigene Sache ernst nehmen. Zum Gelingen der Arbeit trägt auch bei, dass neben einem sicheren Rahmen, eine Kommunikationskultur etabliert wird, in der jeder und jede einen Platz hat.
Die Praxis geht jedoch weit über eine reine „Komfortzone“ hinaus: die Teaching Artists stellen oft wesentlich höhere Anforderungen an die SchülerInnen als dies in der Regel in Schulen der Fall ist. Seitens der KünstlerInnen gab es eine sehr hohe Lust und Bereitschaft, „sich auf eine ungemütliche Sache“ (Glaserfeld, zit. nach Voß 2005) und Prozesse mit offenem Ausgang einzulassen.
// Uniqueness – Schülerperspektive
Für SchülerInnen haben derartige Angebote ein großes Potential in Bezug auf das Anregen der Imagination. In allen Beispielen wird die Fähigkeit angeregt, „(...) to break with the ordenary, the given, the taken-for-granted (...) (Greene 2007:1) und dazu ermuntert „to think of things as if they could be otherwise“ (Greene 2007:2). Gerade in der Imagination liegen große Freiräume für Kinder und Jugendliche, die es im Rahmen von Schule zu verteidigen gilt (vgl. Reich 2008). Diese Imagination zu fördern und die Unberechenbarkeit darin anzuerkennen, ist Teil der Arbeit.
Neben dem zeichnet sich das Lernen in den Künsten bei allen drei Beispielen dadurch aus, dass die SchülerInnen ihre Eindrücke in einen Ausdruck, eine Gestaltung transferieren können. Das Gefühl von Eigentümerschaft kann sich dann entwickeln, wenn sie sich sowohl den Prozess als auch das Produkt zu Eigen machen.
Zur Bedeutung von Produkten und Prozess gibt es allerdings kontroverse Positionen. Einerseits sind es gerade die Prozesse, die die Künste ausmachen. Angesichts einer „Output-Orientierung“ oder eines „Produkt-Fetischismus“ nicht nur in Schulen, scheint es dringend nötig, wieder eine Art Prozess-Sensibilität einzufordern. Gerade in dieser Hinsicht bieten die künstlerischen Prozesse in besonderer Weise ein „Trainingsfeld“, um die Aufmerksamkeiten auf das „Werden“ (Bilstein 2013) zu richten.
Andererseits ist das Schaffen von Produkten, ebenso wie das Präsentieren ein Merkmal von Kunst und die Erfahrung der (Selbst- )Präsentation sowie die Anerkennung, die die jungen Menschen dabei erhalten, kann den Selbstwert unterstützen (vgl. Seidel et al. 2009).
Das Vorhandensein von Reflexions- und/oder Diskussionsphasen ist darüber hinaus ein wesentlicher Bestandteil der Arbeit. Jedoch bedeutet das nicht, dass notwendiger Weise auf der sprachlich-kognitiven Ebene reflektiert wird. Während es für das LCI fundamental wichtig ist, die Empfindungen zu verbalisieren, damit andere daran teilhaben können, wird bei Annantalo nur am Ende der Unterrichtseinheit formuliert, welche (neuen) Erfahrungen die SchülerInnen gemacht haben. Bei Maldooms Praxis fließen dagegen die Erfahrungen ohne eine explizite Formulierung in die weiteren Gestaltungen ein. Bewusst das Ausmaß und die Form der Reflexion, wie ein sprachlicher Ausdruck, eine Skizze, Bewegung, ein Gedicht, etc. abzuwägen sowie geeignete Zeitpunkte dazu zu bestimmen, macht gute Praxis aus.
// Art as a learning environment! Zwischen Wunsch und Wirklichkeit
Auch wenn in den untersuchten Exempeln sehr unterschiedliche Voraussetzungen und Kontexte gegeben sind, sind sich doch alle über den Einfluss der Lernumgebung auf die Beschaffenheit und das Gelingen des künstlerischen Bildungsgeschehens bewusst.
Dazu gehören Rahmenbedingungen wie zum Beispiel entsprechende Zeiten, Räumlichkeiten und Ressourcen. Ebenso wesentlich scheint es, dass angemessene Materialien und Bedingungen vorhanden sind und eine ästhetische Lernumgebung mit sichtbaren „Kinderkunstwerken“ das Arbeiten unterstützt. Es hat sich gezeigt, dass insbesondere außerschulische Lernorte für SchülerInnen attraktiv sind und es einer dringenden Öffnung von Schule bedarf, da die Einbeziehung des Umfeldes maßgeblich zum Gelingen des Angebots / Projektes beiträgt.
Anhand der einzelnen Beispiele wird Folgendes noch einmal unterstrichen: Maldoom fordert für seine Projekte Blockunterricht und angemessene, saubere Räumlichkeiten sowie die Akzeptanz seitens der Schule respektive der Schulleitung. Für Annantalo ist der außerschulische professionelle künstlerische Rahmen sowie „echte“ KünstlerInnen von Bedeutung. Der Raum wird hier als „3. Pädagoge“ in das Konzept mit einbezogen. Das LCI betont eine enge Zusammenarbeit mit den beteiligten LehrerInnen und der Schulleitung und kooperiert nur langfristig, um auf diese Weise ästhetische Bildung curricular zu verankern und Schulentwicklungsprozesse in Gang zu setzen.
Neben all dem ist eine durchlässige Kommunikation zwischen allen Beteiligten auf den verschiedenen Ebenen fundamental wichtig. Dies wird eigenen Beobachtungen zufolge viel zu oft unterschätzt. Hierbei scheinen die eigenen praktischen künstlerischen Erfahrungen der AkteurInnen der Schlüssel zu gelingender Zusammenarbeit und gegenseitiger Unterstützung zu sein (vgl. Seidel et al. 2009).
Die Gewichtung der Faktoren ist bei den Ansätzen unterschiedlich. Gelingen kann die Praxis jedoch nur, wenn die AkteurInnen sehr genau wissen, welche Bedingungen sie für ihre Arbeit und Zielsetzungen benötigen und ab wann qualitätsvolle Vermittlung nicht mehr möglich ist.
FAZIT
Auch wenn es keine Garantien für die Güte solcher Angebote gibt, so unterstützen doch diese Arbeitsprinzipien das künstlerische Bildungsgeschehen in seinen verschiedenen Dimensionen maßgeblich und bedingen das Gelingen im Zwischenraum von Kunst und Schule. Sie liefern eine Grundlage, sich mit etwas „Greifbarem“ über die komplexen Prozesse und Situationen Kultureller Bildung in, an, mit Schulen und die oft unterschiedlichen Vorstellungen von Gelingen zu verständigen beziehungsweise produktiv zu streiten! Denn eine „(...) kontinuierliche Reflexion und Diskussion darüber, worin Qualität besteht und wie sie erreicht werden kann, ist nicht nur ein Katalysator für Qualität, sondern auch ein Hinweis auf Qualität“ (Seidel et al, 2009:III – Übersetzung NE).