Doing Research – Ethnomethodologie in der Forschung zur Kulturellen Bildung

Artikel-Metadaten

von Nikola Dicke, Fabian Hofmann

Erscheinungsjahr: 2025

Abstract

Ethnomethodologie (Harold Garfinkel) bietet einen theoretischen Rahmen und eine konkrete empirische Methodik, um Kulturelle Bildung als sozialen Prozess analysierbar zu machen. Indem die Ethnomethodologie soziale Ordnung nicht als den Interaktionen vor- oder übergeordnet versteht, sondern als ihre Vollzugswirklichkeit, lässt sich die Herstellung, Aushandlung und Stabilisierung dieser Ordnung in den Interaktionen rekonstruieren. An zwei Beispielen - einer Workplace-Study einer Live-Lichtzeichen-Performance und einer Analyse von pädagogischen Aushandlungsprozessen bei Kinderopern – wird gezeigt, wie mithilfe ethnomethodologischer Forschung in der Kulturellen Bildung sowohl Bildungsprozesse als auch soziale Ordnungsprozesse in den Blick genommen werden können. Aspekte wie Sinn- und Bedeutungskonstruktionen, Partizipation, explizite und implizite normative Setzungen sowie institutionelle Formierungen und Normierungen werden damit methodisch zugänglich und kritisch reflektierbar.

Einleitung

Kulturelle Bildung (siehe Vanessa‑Isabelle Reinwand „Künstlerische Bildung - Ästhetische Bildung - Kulturelle Bildung“; Liebau 2014; Bilstein 2016) als „Auseinandersetzungsprozess des Menschen mit sich, seiner Umwelt und der Gesellschaft im Medium der Künste und ihrer Hervorbringungen“ (Ermert 2009) ist ein prozesshaftes Geschehen, das aus Interaktionen zwischen Menschen untereinander sowie zwischen Menschen und Dingen, Räumen, Institutionen und vielem mehr besteht. Wie lassen sich diese Interaktionen, wie lässt sich dieses prozesshafte Geschehen beobachten, verstehen und gestalten? Die Ethnomethodologie bietet hierfür einen theoretischen Rahmen und eine konkrete empirische Methodik, um Kultureller Bildung als sozialem Prozess nachzuspüren. Dieser Beitrag stellt die Grundprinzipien, Forschungsmethoden und -praxen der von Harold Garfinkel (1917 – 2011) entwickelten Forschungsrichtung vor und erläutert ihre Anwendung in der Kulturellen Bildung an zwei Beispielen – einer Workplace-Study (Studie am Arbeitsplatz) einer Live-Lichtzeichen-Performance (Dicke 2021) und einer Analyse von pädagogischen Aushandlungsprozessen bei Kinderopern (Hofmann/Krause 2024). Im Anschluss an die Beispiele werden Stärken, Herausforderungen, Potenziale und Grenzen ethnomethodologischer Zugänge im Feld der Kulturellen Bildung diskutiert.

Ethnomethodologie – Grundprinzipien und Ziele

Harold Garfinkel befasste sich in seinem Masterstudium an der University of North Carolina von 1939 bis 1942 mit der phänomenologischen Soziologie von Alfred Schütz und Edmund Husserl und promovierte anschließend bei Talcott Parsons an der Harward University. Parsons‘ Strukturfunktionalismus erklärt Entstehung und Aufrechterhaltung von sozialer und kultureller Ordnung auf der Basis von Rollen, Werten und Normen, die die Handlungen der Akteure steuern (vgl. Parsons 1951:13). Garfinkel wirft Parsons vor, dass in dessen Sichtweise der aktive Eigenanteil einzelner Akteure keine Rolle spielt und sie zu „Deppen ohne eigenes Urteilsvermögen“ („judgmental dopes“; Garfinkel 1967:68) degradiert werden. Statt also vom Prinzip der vorgegebenen Strukturierung von sozialen Systemen durch vorgeschaltete Intentionen, Rollenzuschreibungen und Normen auszugehen, stellt Garfinkel das Prinzip der Vollzugswirklichkeit in den Mittelpunkt seines ethnomethodologischen Forschungsprogramms und beobachtet seit den 1950er Jahren, wie soziale Ordnung im Vollzug von Interaktion überhaupt erst entsteht. „Die Grundperspektive der Ethnomethodologie ist erstaunlich einfach: Das Alltagsleben ist sinnhaft strukturiert und geordnet. Diese Ordnung wird von den Akteuren laufend hergestellt, dargestellt und einander angezeigt” (Eberle 2007:143). Teilnehmer*innen bringen die soziale Ordnung aktiv hervor, „indem sie Situationen interpretieren und ihre Interpretationen anderen erkennbar machen” (Meyer 2015:93). Dementsprechend untersucht die Ethnomethodologie die Alltagstechniken und Methoden, die „Ethnien“ oder Gruppen in den jeweiligen Praxiskontexten zur Herstellung von sozialer Ordnung nutzen. Das Hauptinteresse liegt auf diesen „Ethno-Methoden“, durch die Situationen in privaten Kontexten, am Arbeitsplatz oder in den Wissenschaften durch die beteiligten Gesellschaftsmitglieder aktiv zustande gebracht werden: Wie entsteht „durch permanentes ‚doing‘ der Beteiligten eine geordnete Vollzugswirklichkeit“ (Keller 2012:267)? Wie zeigen die Mitglieder einer Situation oder Interaktion sich gegenseitig diese Ordnung an? Wie machen sie ihr Tun verstehbar und erklärbar („accountable“)?

Bei diesem Erklärbar- und Verständlich-Machen beziehen sich Akteur*innen fortlaufend auf die gemeinsame Geschichte ihrer Interaktion und auf die daraus erwachsene Vorstellung, wie sie weitergehen wird (Abels 2009:94). Im Vollzug des Handelns machen sie schon deutlich, wie dieses Handeln verstanden werden soll, z.B. in der Intonation einer Frage (Tuma u.a. 2013:55). Aber erst, wenn der oder die Angesprochene entsprechend reagiert, indem sie antwortet oder eine Gegenfrage stellt, wird die Frage auch als solche real wirksam. Wenn die oder der Gefragte die Äußerung etwa als rhetorische Frage auffasst und nicht antwortet, ergibt sich ein neuer Sinn oder die Notwendigkeit eines „repair“. Aktion und Reaktion wird in der ethnomethodologischen Forschung „turn“ (Zug) genannt, Im „turn-taking“, also Zug um Zug, entsteht die Interaktion.

Die Bedeutung von Handlungen und Ausdrücken ergibt sich aus der Einbettung und Nutzung in der konkreten Situation. Sie kann nicht situationsunabhängig bestimmt oder erkannt werden. In ihrer Interaktion gehen die Handelnden „von einem gemeinsamen Wissen, wie der Alltag funktioniert, aus” (Abels 2009:90). Diese „pretence of agreement” (Garfinkel 1981:205), die Vortäuschung eines Sinneinverständnisses, deckte Garfinkel in seinen Krisenexperimenten (breaching experiments) auf, in denen solchen unterstellten Einverständnissen und Erwartungen mit inkompatiblem Verhalten begegnet wird. So wird z.B. ein Gast beim Betreten eines Restaurants nicht als Gast, sondern wie ein Ober behandelt, und es wird von ihm gefordert, seinerseits Gäste an ihre Tische zu begleiten (Abels 2009:91). Mit diesen Krisenexperimenten zeigte Garfinkel nicht nur, dass Interaktionsteilnehmer*innen davon ausgehen, dass „alle Beteiligten die als selbstverständlich angenommenen Bedingungen des Handelns” (ebd.) als konstitutiv und normativ ansehen und sich daran gebunden fühlen. Er beobachtete auch, welche „impliziten Vorannahmen” (ebd.) bestehen, was geschieht, wenn sie unterlaufen werden, und welche Strategien die Beteiligten verwenden, um die Ordnung wiederherzustellen.

Die so „lokal konstruierte Ordnung” (ebd.:105) ist eine konzertierte Ordnung der Akteur*innen. Erkennbar wird sie durch von den Akteur*innen ausgehandelte Zurechnungen („accounts“) zwischen Handlungen und Regeln (Scott / Lyman 1968:46). Der Begriff, der aus dem Bereich der Finanzbuchhaltung kommt (dt. „Kostenstelle“), macht deutlich, dass das Geschehen eingeordnet wird (z.B. „Ich buch‘ das jetzt mal auf kindliche Trotzphase.“), also ins Verhältnis gesetzt wird zu bestimmten bekannten und als legitim erachteten Ordnungen. Die accounts machen es den Mitgliedern möglich, Handlungen im Zusammenhang mit Ordnungen zu kommentieren, zu kritisieren, in Frage zu stellen, zu ratifizieren und vieles mehr. Dabei ist es nicht entscheidend, dass die accounts explizit genannt werden. Vielmehr sind es auch „statements made to explain untoward behavior and bridge the gap between actions and expectations“ (Scott / Lyman 1968:46).

Damit wird deutlich: Sense-making ist keine individuelle Bewusstseins-, sondern eine Interaktionsleistung. Sinn wird gemeinsam hergestellt und in sichtbaren Praktiken verkörpert (Meyer 2015:96) – im schon oben erwähnten „doing“.

Die Beobachtung und Erforschung der unterschiedlichsten „doings“ folgt laut Garfinkel weniger einer vordefinierten Methode, sondern einer Analysehaltung, die er „seeing sociologically“ (Garfinkel 2006) nennt und die sich unterschiedlicher Beobachtungswerkzeuge bedient. Wie Möglichkeiten ethnomethodologischer Forschung in der Praxis aussehen können, zeigen wir daher im Folgenden an zwei Beispielen auf.

Forschungseinblick I: Workplace-Study einer Live-Lichtzeichnung

Bielefeld, Gebäude des Exzellenzclusters Kognitive Interaktionstechnologie (CITEC) der Universität Bielefeld. Vor dem Gebäude sitzt eine Person zeichnend an einem Overhead-Projektor, der vor einem roten Bulli steht. Ca. 20 Menschen schauen gemeinsam mit der zeichnenden Person zur Fassade des Gebäudes, an der sich helle Linien und Formen zeigen.

Forschungsgegenstand

An der Fassade des CITEC-Gebäudes findet als Teil des Abendprogramms der fünften „CITEC Summer School on Adaptive Systems“ vor einem größeren Publikum eine künstlerisch-performative Live-Lichtzeichnung statt. Passend zum Thema der adaptiven Systeme im Bereich von lebenden Organismen und Robotik zeichne ich (ND) auf einem Overheadprojektor, indem ich auf einer mit Ruß bedeckten Glasplatte mit Holzstäbchen und Pinsel Linien und Spuren erzeuge, die dann als Lichtlinien und -spuren an der Fassade erscheinen. Einige Schrift- oder Ziffernelemente betonen Architekturdetails, z.B. trägt eine Säule im unteren Teil der Fassade den Schriftzug „HALLO“ als Begrüßung des Publikums, eine Kolonne von Nullen und Einsen (Binärcode) erscheinen an einer Raumdecke. Das Publikum spricht mich als Zeichnerin in diesem Fall zwar – anders als in anderen meiner Live-Lichtzeichnungen – nicht an, interagiert aber dennoch mit mir, indem es die Zeichnung kommentiert, sich darüber unterhält und ich wiederum zeichnerisch auf die Kommentare des Publikums reagiere.

Abb. 1
Abb. 1: Lichtzeichnung am 28.09.2016 an der Fassade des CITEC, Universität Bielefeld

 

Abb. 2
Abb. 2: Publikum und Zeichnerin der Live-Lichtzeichnung

 

Forschungsfrage

Als Angebot Kultureller Bildung wird hier keine klassische vorbereitete Fassadenprojektion aufgeführt, sondern das Publikum hat Teil am und Einfluss auf den Entstehungsprozess des Werkes, das aus ethnomethodologischer Sicht als ko-kreative Leistung gelten kann, ebenso wie seine Interpretation durch die sich bildende Rezeptionsgemeinschaft. Die Forschungsfragen können demnach folgendermaßen formuliert werden: Wie wird die Aufführung einer Live-Lichtzeichnung als Vollzugswirklichkeit von Publikum und Zeichnerin hergestellt? Wie wird eine ko-kreative Leistung hervorgebracht im Wechselspiel zwischen künstlerischer Produktion und Rezeption?

Forschungsdesign

Aus dem Publikum hat sich eine Teilnehmerin bereiterklärt, ihre Blickbewegungen und auditiven Äußerungen während der Rezeption aufzeichnen zu lassen. Ebenso ist auch die Zeichnerin mit einer Eyetracking-Brille und einem Audiorekorder ausgestattet, um Blickbewegung und Stimme aufzuzeichnen. Eine Videokamera dokumentiert den Zeichenprozess und eine weitere die Gesamtsituation. Vier Szenen der insgesamt 20minütigen Aufführungssituation von jeweils ein bis zwei Minuten Länge werden mit dem Verfahren der ethnomethodologischen multimodale Videointeraktionsanalyse betrachtet (Heath u.a. 2010). Aus den zeichnerischen, sprachlichen und gestischen Äußerungen, die diesen Daten entnommen werden, entsteht eine Partitur für diese Mikroanalyse (Dicke 2021).

Abb. 3
Abb. 3: Mikroanalyse (Min. 05:53 bis 06:20) „Erster Versuch zur Interpretation des Themas der Zeichnung“, Farbcode: Grün: Interaktion Zeichnerin – Publikum, Blau: verbale Interaktion, Gelb: Blickwechsel, Rot: intrapersonelle Koordination

Auf der Fassade entsteht gerade die Kontur einer Echse. Einige Betrachterinnen und Betrachter haben das erkannt und sprechen es laut aus. Erst 13 Sekunden nach der Äußerung „ne Echse“, die keinem Sprecher der untersuchten Kleingruppe zugeordnet werden kann, reagiert der mit „MB/J.“ bezeichnete Betrachter sichtbar durch Blick- und Kopfschwenk zur Betrachterin und äußert: „amazingly electric“. Hat er in den 13 Sekunden durch Betrachtung der Fassade versucht die deutsche Äußerung „ne Echse“ mit seiner englischen Muttersprache und seiner visuellen Wahrnehmung des Mediums zu verknüpfen? Oder stellt er einen Zusammenhang zwischen der entstehenden Kontur und der Roboterhand her? Danach schaut er wieder auf die Zeichnung an der Fassade. Ein weiterer Betrachter reagiert auf das „amazingly electric“ mit „chocobiter“, was die Betrachterin, die die Eyetracking-Brille trägt, mit einem lachend-fragenden „mmh“ kommentiert. Ein Betrachter mit Handy (MB/H.) gibt fast parallel dazu seine Interpretation der gezeichneten Szene: „he is getting out of the water“, was ein anderer Betrachter mit den weiteren Elementen der Zeichnung, nämlich der Menschen- und der Roboterhand zu „evolution“ verbindet. MB/H. bestätigt dies durch ein Echo. Der Versuch, die Hauptaussage oder das Thema der Zeichnung zu erfassen - in diesem Fall „Evolution“ -, scheint geglückt, denn auch MB/J. sieht sich dadurch zu neuen Assoziationen zu diesem Begriff veranlasst: „a cheta“ (ein Gepard). Dem widerspricht die Betrachterin direkt: „with this tail it’s not a cheta“ (mit diesem Schwanz ist es kein Gepard). Sie schaut MB/J. an und macht parallel den Kompromissvorschlag: „a cheta-crocodile“ (ein Gepard-Krokodil). MB/H. greift eine vorhergehende Unterhaltung über eine Brille und Clark Kent auf, bezieht sich also auf die Geschichte der konkreten Interaktion, und äußert: „it’s superman“. (Zur Erläuterung: In der gleichnamigen Comicserie verwandelt sich ein Außerirdischer mit Superkräften vom Planeten Krypton in den Helden Superman und rettet Menschen aus Gefahren. Um nicht erkannt zu werden tarnt er sich als schüchterner Reporter und Brillenträger Clark Kent, dessen Brille zusätzlich Supermans Röntgenblick blockt.)

In dieser 15-sekündigen Szene, in der das multimodale „turn-taking“ einem Assoziations-Ping-Pong-Spiel gleicht, wenden sich die Akteure immer abwechselnd dem gerade Sprechenden und der Fassadenzeichnung zu, die die Äußerungen der Zeichnerin als weiterer Interaktionsteilnehmerin beinhaltet und die die Assoziationen auslöst. Gemeinsam handelt die Rezipient*innengruppe die Bedeutung der Zeichenelemente aus. Die Kommunikation ist dabei nicht im Modus der Sprache verortet, sondern geschieht multimodal in Sprache, Lauten, Zeichnung, Gesten und Bewegungen. Alle Mitglieder dieser multimodalen Interaktion arbeiten an einer gemeinsamen kommunikativen Aufgabe, in der sie Dargestelltes und Gesehenes er- und verarbeiten, interpretieren und weiterführen.

Ergebnisse

Die Mikroanalyse bestätigt die Feststellung der ethnomethodologisch arbeitenden Anthropolog*innen Marjorie und Charles Goodwin, dass die „activity of perception is a social rather than a psychological phenomenon“ (Goodwin/Goodwin 1998:88). Die Wahrnehmung, die immer schon ihre Interpretation mit beinhaltet, geschieht nicht individuell in den Köpfen der Publikumsmitglieder, sondern ist eine kommunikative Aufgabe und ein „interactional achievement“ (Schegloff 1982). Es konstituiert sich die soziale Ordnung einer situativen Rezeptionsgemeinschaft.

Auch die Zeichnung entsteht nicht als Ausformulierung einer vorher festgelegten Intention der Zeichnerin, sondern in einem Prozess des kollaborativen Formulierens, als „turn-taking“ in der multimodalen Interaktion zwischen Rezipient*innen und Zeichnerin. Dabei dient das Genre der performativen Aufführung als „account“ des Publikums, auf dessen Grundlage es agiert. In dem betrachteten Fall kommen Publikumsmitglieder daher nicht zum Overheadprojektor und reden mit der Zeichnerin, fragen sie, ob sie selbst auch zeichnen dürfen und legen dann selbst Hand an, wie es in anderen Fällen meiner Live-Lichtzeichen-Aktionen durchaus vorkommt und also eher der „account“ der Zeichnerin ist. Dennoch wird auch in diesem Fall das künstlerisch-performative Format von Publikum und Zeichnerin multimodal ko-kreiert.

Diese Erkenntnisse kann man auf Rezeptions- aber auch Produktionssituationen in Konstellationen Kultureller Bildung übertragen und für diese Situationen die Interaktionen der menschlichen Akteure bzw. der menschlichen Akteure mit ihrem Material, Raum und Werkzeug ethnomethodologisch untersuchen, um das gemeinsame Sense-making zu rekonstruieren. Das zeigt auch das zweite Beispiel.

Forschungseinblick II: Ethnomethodologische Analyse von pädagogischen Aushandlungsprozessen in der Kulturellen Bildung

Duisburg, Bahnhofsvorplatz. Ein seltsames Ensemble aus zwei Containern mit spitzen Dächern und einem halbkugelförmigen Raum mit transparenter Außenwand („Bubble“), darin drei Menschen in Raumanzug. Passant*innen bleiben stehen, andere gehen vorbei, eine Schulklasse läuft zielstrebig darauf zu.

Forschungsgegenstand

Das Raumensemble ist ein Angebot der Deutschen Oper am Rhein. Im Rahmen des Projektes „UFO – junge oper urban“ (Deutsche Oper am Rhein 2023) ist es eine temporäre Spielstätte, die in verschiedenen Stadtteilen von Duisburg und Düsseldorf unterwegs ist. Dieses Angebot ist Gegenstand ethnomethodologischer Forschung (Hofmann/Krause 2024). Untersucht werden drei verschiedene settings, d.h. unterschiedliche Musiktheater-Stücke mit unterschiedlicher räumlicher Konstellation, unterschiedlicher Gestaltung von Bühne/Zuschauerraum und unterschiedlichem Anspruch auf Interaktion zwischen Ensemble und Publikum. Im Fokus stehen Aufführungen von „Die unbedingten Dinge“ (eine Aufführung für Schulklassen, eine Aufführung für Familien) und „Glas“ (eine Aufführung im Rahmen eines Festivals für Familien). 

Für die Forschung zur Kulturellen Bildung ist dieses Angebot besonders interessant, da es in einem sehr offenen Rahmen stattfindet und Aushandlungsprozesse eine große Rolle spielen: Wenn nicht durch ein konventionelles Opern-Setting erkennbar ist, was hier passieren wird und wie man sich „richtig“ verhält, muss dies zwischen allen Beteiligten ausgehandelt werden. Ist das Kunst oder Klamauk? Darf man mitmachen oder zuschauen? Was ist Ziel und Ergebnis?

Forschungsfrage

Es ist also davon auszugehen, dass hier Prozesse der Aushandlung mit Bezug auf bestimmte soziale Ordnungen (wie z.B. „interaktives Theater“, „Aufführung“, „musikalische Improvisation“ usw.) stattfinden. Damit ließe sich nachspüren, welche Ordnungen die Teilnehmer*innen an das Geschehen herantragen bzw. in welche Konzepte sie das Geschehen einordnen – und vor allem wie. Die Forschungsfrage lautet daher: Wie gehen die Teilnehmer*innen mit diesem Setting um? Wie wird kulturelle Bildung als Vollzugswirklichkeit in diesem Setting hergestellt?

Forschungsdesign

Das Forschungsdesign umfasste Videographie von je zwei Aufführungen in den beiden Stücken, insgesamt rund 6 Stunden Videomaterial. Aus den Videos wurden fünf Ausschnitte mit einer Dauer von jeweils ca. 5-10 Minuten auf rund 150 Seiten transkribiert und drei Ausschnitte (rund 90 Seiten) mittels ethnomethodologischer Konversationsanalyse (Bergmann 1980; Eberle 1997; Vom Lehn 2018) untersucht.

Im Detail erfolgte die Transkription, indem die Videoaufzeichnung nach einem bestimmten Transkriptionssystem (Hofmann/Krause 2024) in eine tabellarische Übersicht übertragen wurde: Zunächst wurden Sequenzen gebildet, die jeweils einen „turn“, d.h. einen Handlungszug umfassten, beispielsweise eine kurze Interaktion oder einen Wortwechsel. Jede Sequenz wurde dargestellt mit

  • der Sequenzzeit in der Form Stunden:Minuten:Sekunden (z.B. 00:08:35-00:08:49)
  • einem Videostill, in den ggf. relevante Bewegungen mit Pfeilen eingetragen wurden.
  • der Position aller Teilnehmer*innen (für jede*n Teilnehmer*in eine eigene Spalte)
  • der Körperhaltung aller Teilnehmer*innen (soweit im Bildausschnitt zu sehen)
Abb. 4
Abb. 4: Die ersten Zeilen einer Sequenz (00:08:35-00:08:49) der Video-Transkription im Fall „Die unbedingten Dinge“ (#12)
Abb. 7
Abb. 7: Die nächsten Zeilen der obigen Sequenz (00:08:35-00:08:49) der Video-Transkription im Fall „Die unbedingten Dinge“ (#12)
  • Handlungen
Abb. 8
Abb. 8: Die letzte Zeile der obigen Sequenz (00:08:35-00:08:49) der Video-Transkription im Fall „Die unbedingten Dinge“ (#12)

Sofern Bezüge zwischen den Personen stattfinden (z.B. „beugt sich dann ein Stück zu Yasmin runter“, Z. 123), werden die weiteren Personen rot geschrieben. Auf diese Weise werden Relationen zwischen den Teilnehmer*innen deutlicher erkennbar.

Die ethnomethodologische Konversationsanalyse erfolgte im Detail durch eine Interpretation jedes „turns“: Welcher Handlungszug ist erkennbar? Welche Verstehenshilfen werden in dem Handlungszug mitgegeben und welche Anschlusshandlungen werden nahegelegt? Welche Anschlusshandlungen werden tatsächlich realisiert?

Beispielsweise wendet sich in den abgebildeten Zeilen 114-123 Yasmin an Mila, die etwas abseits steht. Der Posaunist im Raumanzug hatte seltsame Töne allein auf dem Mundstück seines Instruments gemacht und die Schüler*innen näher zu sich heran gewunken. Yasmin hat offensichtlich wahrgenommen, dass Mila die Situation nicht so behagt, und wird darin bestätigt: „der macht mir angst“ (Z. 123). Yasmin nimmt eine vermittelnde Rolle ein, wendet sich abwechselnd lächelnd zu Mila und zum UFO mit dem Posaunisten, und spricht die Ambivalenz direkt an: „der macht dir angst (.) das ist doch voll cool“. Somit haben die beiden Verständigung darüber erreicht, dass Milas Unbehagen wahrgenommen und akzeptiert ist, und dass Yasmin eher begeistert ist und ihre Freundin ein Stück weit mitreißen möchte. Im Anschluss könnte sich Mila tatsächlich mitreißen lassen, vielleicht näher an das UFO herantreten oder gar gemeinsam mit den anderen Schüler*innen in Interaktion mit dem Posaunisten treten. Sie könnte sich aber auch zurückziehen, das Angebot von Mila könnte sie eher abschrecken. Oder sie könnte eine ambivalente Position einnehmen zwischen Unbehagen und Interesse. In der nächsten Sequenz könnte man nachvollziehen, welcher Handlungszug realisiert wird. Am Ende zeigt sich in diesem Fall, dass sich in der Schulklasse zwei Gruppen bilden: Eine Gruppe macht aktiv und begeistert gemeinsam mit dem Posaunisten Spaß, während die andere Gruppe mit etwas Distanz das Geschehen verfolgt.

In einem nächsten Schritt wird das „accounting“ rekonstruiert: Welche „accounts“ werden in der Abfolge der „turns“ auf welche Weise erkennbar gemacht? Wie erfolgt der Umgang mit diesen „accounts“? Wie entsteht welche soziale Ordnung?

Zum Beispiel ordnete eine Gruppe von Jungs das Geschehen einvernehmlich mit dem Posaunisten einem „account“ wie „Quatsch, Comedy, Spaßvogel auf der Bühne“ zu. In diesem Sinne verhielten sie sich dann auch und klatschten seine Hand mit einem „high-five“-Gruß ab (die Schüler von außen an die Folie der Bubble, er von innen) und verabschiedeten sich kurz darauf von dem offenbar coolen, kumpelhaften Typen mit „tschüss foli!“ (Z. 230). Damit markieren sie aber auch, dass es ein fremdartiger Typ ist, dass die Situation nicht alltäglich ist. Auch der Kommentar zu den seltsamen Posaunenmundstück-Tönen („ein ohr ist hier schomal weg“, Z. 219) ruft einen „account“ wie „Kunst als fremdartig“ auf. Dass Mila ihr Unbehagen ausdrückt, und auf ähnliche Weise auch Raheed und Leon, deutet auf eine ähnliche Einordnung, aber unterschiedliche Bewertung hin – für die drei ist das Fremdartige eher mit Scheu/Angst verbunden. Der Lehrer schließlich mahnt die Gruppe, in das UFO hineinzugehen („kommt, Lisa, wir gehen rein“, Z. 218-220) und stellt den „account“ „Aufführung“ über alles. Offenbar gibt es ein Programm, einen festgelegten Beginn, zu dem man pünktlich erscheinen muss. Dass es eine Aufführung von interaktivem Musiktheater ist, wird jedoch auch markiert („nochmal winken“, Z. 221).

Ergebnisse

Durch die ethnomethodologische Analyse zeigte sich, dass klar erkennbare Abstimmungsprozesse über die soziale Ordnung vorzufinden sind. Konkrete „accounts“ waren rekonstruierbar, beispielsweise „Quatsch, Comedy, Spaßvogel auf der Bühne“ oder „Aufführung von interaktivem Musiktheater“. Es wurde deutlich, dass die Teilnehmer*innen erkennbar auf ein Register unterschiedlicher „accounts“ zurückgreifen, also auf soziale Ordnungen, die ihnen bereits bekannt sind (z.B. Schulausflug, Spaßvogel auf der Bühne, Aufführung…)

In der Zusammenschau der drei untersuchten Aufführungen lassen sich Zusammenhänge rekonstruieren. Zwar lässt sich im Rahmen dieses Forschungsprojektes noch keine umfassende Typologie erstellen, jedoch sind wesentliche Zusammenhänge erkennbar, nämlich Logiken, wie von den Beteiligten ihre Handlungspraxen untereinander abgestimmt werden:

  • In einem Musiktheater mit fester sozialer Ordnung, das kaum auf Fremdheitserfahrungen (Koller 2016; Waldenfels 1997) setzt, passen sich die Beteiligten der Konvention an und werden zu Zuschauer*innen einer Aufführung. Abstimmungsprozesse sind kaum nötig, da die Konvention offenbar internalisiert ist.
  • Werden hingegen im Musiktheater Fremdheitserfahrungen angestoßen und erfolgt dies in einer offenen sozialen Ordnung (z.B. bei der oben geschilderten Aufführung von „Die unbedingten Dinge“, wo Menschen in Raumanzügen ungewöhnliche Musik auf dem Bahnhofsvorplatz spielen), zeigen sich Neugier, Interaktion, Scheu und Experimentieren. Gemeinsam wird eine neue soziale Ordnung ausgehandelt, die ein hohes Bildungspotenzial bietet, indem sie Selbst- und Weltverhältnisse transformiert (Humboldt 1793/2002; Koller 2016).
  • Bei Fremdheitserfahrungen in einer festen sozialen Ordnung (z.B. im späteren Verlauf von „Die unbedingten Dinge“, bei der zwar irritierende Tonmalerei stattfindet, jedoch im Rahmen einer Aufführung) zeigen sich Aufmerksamkeit und Langeweile. Die feste Ordnung begrenzt das Fremde und bietet weniger Transformationsmöglichkeiten, wodurch das Bildungspotenzial eingeschränkt bleibt.

Entscheidend für die Qualität Kultureller Bildung ist also nicht nur die Qualität des ästhetischen Impulses (z.B. Irritation erzeugen, um ästhetische Erfahrungen anzuregen) oder des pädagogischen Handelns bzw. der Interaktion, sondern auch die soziale Ordnung.

Konsequenzen

Soziale Ordnungen spielen in der Kulturellen Bildung bisher eine erstaunlich geringe Rolle. Während die schulbezogene Bildungsforschung soziale Ordnungen wie „Unterricht“ bereits intensiv erforscht und differenziert theoretisch fundiert hat (z.B. Breidenstein 2006; Krappmann & Oswald 1995), fehlt es in der Kulturellen Bildung weitgehend an vergleichbaren Studien und Konzepten.

Um diese Lücke zu schließen, bedarf es weiterer Forschung, die untersucht, welche Aushandlungsprozesse die Kulturelle Bildung prägen, welche „accounts“ ihr zugrunde liegen und welche sozialen Ordnungen in Situationen Kultureller Bildung hervorgebracht werden. Solche Forschungen könnten dazu beitragen, Aspekte wie Rahmungen, Grenzüberschreitungen, Transformationen, Distinktionsmechanismen und Hegemonien sowohl theoretisch zu beleuchten als auch empirisch genauer zu erfassen.

Und Kulturelle Bildung sollte theoretisch so konzipiert werden, dass sie sich nicht allein durch spezifische Handlungen und Interaktionen (wie z.B. Theaterspielen), bestimmte Anlässe oder Objekte (wie Kunstwerke) oder bestimmte Wirkungen (z.B. die Förderung ästhetischer Urteilskompetenz) definiert. Vielmehr sollte sie auch durch ihre spezifischen sozialen Ordnungen begründet werden, um ein umfassenderes und fundiertes Verständnis der Kulturellen Bildung zu ermöglichen.

Diskussion: Stärken und Potenziale ethnomethodologischer Zugänge im Feld der Kulturellen Bildung

Der Fokus ethnomethodologischer Methodik liegt also auf zweierlei:

  • Erstens den „Ethno-Methoden“ mit denen Menschen sich gegenseitig darüber verständigen, was „ist“, und daran ihr Handeln ausrichten. Hier lohnt es sich weiter nach spezifischen Methoden im Feld der Kulturellen Bildung zu suchen. So wäre es beispielsweise spannend, welche „Ethno-Methoden“ für Kunstunterricht typisch sind und welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede beispielsweise zu „Ethno-Methoden“ von freien Theatergruppen bestehen.
  • Zweitens fokussiert ethnomethodologische Methodik mit den „accounts“ Zuschreibungen und Einordnungen, also Verbindungen zwischen Handlungen und Kontexten. Somit werden zugleich Handlungen, Kontexte und Relationierungen von beiden fokussiert. Hier lohnt es sich, weiter nach solchen reflexiven Kopplungen im Feld der Kulturellen Bildung zu suchen. So wäre es – parallel zum oben genannten Beispiel - spannend, welche „accounts“ für Kunstunterricht typisch sind und welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu „accounts“ bei freien Theatergruppen bestehen.

Welche Stärken und Begrenzungen haben ethnomethodologische Zugänge im Feld der Kulturellen Bildung?

  1. Im Fokus steht nicht das Individuum, sondern Prozesse von mehreren menschlichen und nicht-menschlichen Aktant*innen (z.B. Material, Kunstwerken, Musik…). Dies ermöglicht, solche im Feld der Kulturellen Bildung zentralen Elemente einzubeziehen. Beispielsweise lassen sich bisher museumspädagogische Situationen kaum theoretisch fassen, da die Rolle des Kunstwerks in klassischen Handlungstheorien schwer beschreibbar ist (siehe: Kristine Preuß/Fabian Hofmann „Der Erfahrung Raum geben: Vorschläge zur Theoriebildung in der Kunstvermittlung und Museumspädagogik“). Jedoch lassen sich Prozesse der Interaktion von Menschen und Kunstwerken sowohl empirisch wie auch theoretisch fassen (z.B. Hofmann 2016). Die Abkehr vom anthropozentrischen Fokus bringt auf den ersten Blick zwar auch Schwierigkeiten, beispielsweise professionelles Handeln oder Bildungsprozesse zu denken. Jedoch verwirft die Ethnomethodologie nicht die Idee des handelnden Subjekts, sondern erweitert die Vorstellung hin zu einem Subjekt, das mit anderen und mit Anderem handelt. Mit Donna Haraway zugespitzt ist es ein Subjekt-mit, das in ein prozessuales und vernetztes Handeln eingebunden ist, das insgesamt als „Sympoiesis“ oder „Werden-mit“ beschrieben werden kann (Haraway 2018; für die Kulturelle Bildung genauer: Hofmann 2024).
  2. Mit dem ethnomethodologischen Blick werden Handlungen als performativ, reflexiv und transformativ verstanden. Sie werden „nicht als zeitlich aufeinander folgend, sondern sie werden als rekursiv miteinander verwoben angesehen“ (Vom Lehn 2018:44). Dieses Handlungsverständnis ist einerseits nahe an anderen in der Kulturellen Bildung gebräuchlichen Handlungsverständnissen beispielsweise aus der Phänomenologie oder dem symbolischen Interaktionismus. Und es geht über lineare und monokausale Ursache-Wirkungs- oder Reiz-Reaktions-Logiken hinaus. Vielmehr bietet dieser methodologische Ansatz die Möglichkeit, komplexe Handlungszusammenhänge zu denken, die in der Kulturellen Bildung eher die Regel sind. Und er liefert mit der sequenziellen Analyse des „turn-taking“ in Verbindung mit dem „accounting“ eine Methodik, diese Komplexität systematisch zu untersuchen.
  3. Weitergehend führt der ethnomethodologische Zugang zur Vorstellung von Kultureller Bildung nicht als Faktum, sondern als Aushandlungsprozess. Kulturelle Bildung ist mehr als Instruktion und mehr als Wirkung. Kulturelle Bildung ist vielmehr eine ko-kreative Kopplung von Prozess und Ergebnis im Konzept der Vollzugswirklichkeit. Der Fokus rückt also hin zu einer „emergenten“ Kulturellen Bildung, die abhängig von Beteiligten, Narrationen, Orten, Wissensbeständen, Materialien usw. stets hervorgebracht und neu-hervorgebracht wird.
  4. Mit dem Fokus auf den Prozessen werden aber auch andere, abstraktere Konzepte wie „Institution“, „Kunst“, „Bewusstheit“, „Sinn“ usw. als gemacht und immer-wieder-neu-gemacht verstanden. Garfinkel plädiert daher dafür, im Englischen an Substantive stets ein „-ing“ anzuhängen, beispielsweise also nicht von „art“ (Kunst) zu sprechen, sondern von „art-ing“ (Kunst-Hervorbringen, siehe Forschungseinblick I). Dies eröffnet für die Kulturelle Bildung die Chance, nicht von theoretischen Konstrukten anderer Disziplinen abhängig zu sein, beispielsweise vom Begriff „Kunst“, der nicht für das Feld der Kulturellen Bildung oder aus dem Feld der Kulturellen Bildung heraus konzipiert wird. Vielmehr besteht die Chance, empirisch präzise herauszuarbeiten, wie ein „account“ wie „Kunst“ prozessual und zugleich konkret und abstrakt hervorgebracht wird, und das Verständnis von Kultureller Bildung darauf aufzubauen.
  5. Die Rolle von Machtverhältnissen, Epistemen und Hegemonien in Prozessen Kultureller Bildung wird konkreter empirisch analysierbar. Denn gerade diese Konzepte sind nicht in erster Linie an Personen oder Institutionen gebunden. In den vergangenen etwa 50 Jahren wurde herausgearbeitet (insbesondere durch Michel Foucault, durch Judith Butler und durch Vertreter*innen der postkolonialen Theorie), dass Macht nicht allein durch die Machtausübung einzelner Personen wirksam wird. Vielmehr sind es die machtvollen Kopplungen von Handlungen und Kontexten beispielsweise durch die „Ordnung der Dinge“ (Foucault 1971) in Museen, wo eben nicht nur Dinge ausgestellt werden, sondern Dinge „als …“ ausgestellt werden und damit Wissensordnungen hergestellt und re-präsentiert werden, die wiederum die Welt prägen. Im Kontext von Epistemen (im engeren Sinn: Canguilhem 1979, im weiteren Sinn beispielsweise Haraway 1995; Knorr-Cetina 2002) und Hegemonien (Laclau/Mouffe 2020; Marchart 2017; Marchart 2021) wird darauf hingewiesen. Indem ethnomethodologische Zugänge solche Kopplungen fokussieren, werden diese auch empirisch zugänglich.
  6. Ethnomethodologische Forschung erfordert eine Involviertheit der Forschenden im Feld, in das sie eigene „accounts“ und Interpretationen einbringen, die sie gleichzeitig auch wiederum befragen müssen. Wie alle Praktiken ist auch Forschung situativ und reflexiv. Verschiedene Situationen und Interaktionen mit Medien, Theorien, Daten und Personen verflechten sich in der Forschung reflexiv-zirkulär zu einem Dokumentationstext über einen (wie auch in den beiden Forschungseinblicken oben) immer vorläufigen Stand der Forschung. Um die Situiertheit der Interaktionen und damit die Entstehung der Ergebnisse der Forschung verständlich zu machen, ist es nötig den eigenen Standpunkt mit zu reflektieren und sich methodisch auf „die Suche nach einem Weg jenseits von subjektiver Betroffenheit und scheinbar objektiver Beschreibung“ (Lemke 1998:90) zu begeben. Dies gilt für jede Forschungssituation immer wieder neu.

Damit haben ethnomethodologische Zugänge im Feld der Kulturellen Bildung großes Potenzial, fordern aber auch vorhandene Methodologien heraus. Sie eröffnen jedoch Perspektiven hin zu Beziehungen, Verbindungen und Partizipation. Sie bieten Anschlüsse zu aktuell relevanten Theorien der Relationen (Latour/Woolgar 1986, Haraway 2018) und zu Praxen der Gemeinschaftlichkeit und „Sympoiesis“.

Verwendete Literatur

  • Abels, Heinz (2009): Einführung in die Soziologie, Band 1: Der Blick auf die Gesellschaft. Wiesbaden: Springer.
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Anmerkungen

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Nikola Dicke, Fabian Hofmann (2025): Doing Research – Ethnomethodologie in der Forschung zur Kulturellen Bildung. In: KULTURELLE BILDUNG ONLINE: https://www.kubi-online.de/artikel/doing-research-ethnomethodologie-forschung-zur-kulturellen-bildung (letzter Zugriff am 27.04.2025).

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