Der Mainstream der Populärkultur: Feld oder Feind Kultureller Bildung?
Ausgangspunkte
Seit einiger Zeit wird hierzulande über „Kulturpolitik für die Popkultur“ diskutiert – und das ist gut so. Als historisch arbeitender Populärkulturforscher nehme ich diese Debatte mit gemischten Gefühlen wahr. Die benutzten Begriffe sind meist uneindeutig und vielfach geschichtlich belastet; und wer sich in dieses Feld begibt, sollte genau prüfen, welche Rolle der eigene Geschmack dabei spielt und wie viel der mit der eigenen Position als Teil der gebildeten Mittelschicht, AkademikerIn, Mitglied einer bestimmten Generation oder AkteurIn der Kulturellen Bildung zu tun hat.
Um es ganz plakativ zu formulieren: Die Öffnung hin zum Populären ist mehr als überfällig, und sie sollte auch Folgen haben für das Verständnis, welche Kultur Kulturelle Bildung eigentlich vermitteln will. Momentan ist mein Eindruck: Der Impuls droht eingeengt zu werden auf jenen POP in Großbuchstaben, der unter AkademikerInnen, KünstlerInnen und Intellektuellen als gesellschaftsfähig gilt. Die Populärkultur der Vielen, der Mainstream, bleibt zumeist außen vor oder dient weiter als das böse Andere kultureller Bildung; doch diese Popkultur ist für große Teile der Bevölkerung die Kultur, die Ressource ästhetischer Erfahrungen und kunstvermittelter Erkenntnis. Das Anliegen dieses Beitrags ist also ein Plädoyer für den Mainstream als Feld – nicht Feind – der Kulturellen Bildung. Entsprechende Bemühungen und Initiativen gibt es längst (Binas-Preisendörfer 2012; Hornberger/Krankenhagen 2012); es gilt, sie vom Rand ins Zentrum zu rücken.
Dazu wird im Folgenden versucht, den Platz der Populärkultur in Deutschland und v.a. das Geflecht der Wertungen, Distanzierungen und Legitimierungen ein wenig zu erhellen, die die öffentliche Wahrnehmung und ihre (Vor-)Urteile seit mehr als 100 Jahren bestimmt haben und ohne die auch die Anerkennung von POP nicht richtig zu verstehen ist. Der Blick zurück ins 19. Jahrhundert ist erhellend, weil da der Aufstieg moderner Populärkultur begann. Und weil wir dort sehen, dass ein verbreitetes Denkmuster – der guten, anspruchsvollen Hochkultur steht eine zweifelhafte Massenkultur gegenüber – bereits damals zu schlicht war. Dann wird der Aufstieg der Popkultur in Deutschland seit den 1950ern skizziert, um anschließend die verschiedenen Lesarten des Begriffs in der heutigen Debatte zu beleuchten. Der folgende Abschnitt versucht knapp zu begründen, inwiefern der sogenannte Mainstream der Massenkultur einen erstrangigen Faktor ästhetischer Erfahrung und ästhetischer (Selbst-)Bildung (Geisthövel 2014) darstellt, um abschließend einige Gedanken zu entwickeln, wie Kulturpolitik und Kulturarbeit zu gezielt dort eingreifen könnten.
Zweierlei Populäres – seit Beginn der Massenkultur
Die Forschung setzt heute den Beginn der modernen, kommerziellen und zunehmend massenmedial vermittelten Populärkultur in Westeuropa meist um die Mitte des 19. Jahrhunderts an (Prügel 2014; Maase 2007; Kalifa 2001). Die neuen Unterhaltungsformate waren derart erfolgreich, dass man sagen kann: Nach quantitativen Maßstäben, gemessen an Produktionsumfang, Einfluss und Größe der Publika stand Populäres spätestens um 1900 im Zentrum deutscher Kultur (Maase/Kaschuba 2001); das ist mit Gewissheit keine Errungenschaft des 20. oder gar des 21. Jahrhunderts. Allerdings unterschied die bürgerliche Öffentlichkeit seit dem 19. Jahrhundert stets zwei Varianten von Populärkultur; es gab die legitime „gute Unterhaltung“ – und es gab eine verachtete und bekämpfte Popkultur, die nannte man Schund, Kitsch, später Massenkultur und heute Unterschichtfernsehen.
Die tonangebenden Deutschen, die Bürger, markierten von Beginn an eine strikte Grenze zwischen dem harmlosen und dem gefährlichen Populären, zwischen legitimer und illegitimer Vergnügung. Man zog diese Linie in theoretischen Erörterungen ebenso wie mit Polizei- und Zensurmaßnahmen; vor allem aber zog man sie praktisch, mit der Entscheidung für und gegen konkrete Kulturangebote. Man hatte Goethe, Schiller, Büchmanns Zitatenschatz repräsentativ im Bücherschrank; doch im Alltag präferierten auch die Oberschichten und die Bürger, mit Ausnahme einer kleinen Minderheit von Bildungsbürgern, das Reizvolle, Eingängige, Spektakuläre, sinnlich Überwältigende (Maase 2014). So unterschied man um 1900 „Amüsement“ und „gepflegte Unterhaltung“ (die eigene Vergnügung also) von „Schund“ und „Afterkunst“ (dem Vergnügen der anderen, der Arbeiter und Kleinbürger). Hier Operette und Musiktheater, Revue und Varieté, Conan Doyle und Fortsetzungsromane – dort Gassenhauer und Groschenhefte, billiger Kintopp und Witzblätter.
In den folgenden Jahrzehnten änderten sich Genres und Etiketten, nicht aber die grundsätzliche Zweiteilung innerhalb des Populären. In der jungen, restaurativ orientierten Bundesrepublik bekämpfte man „Schundliteratur“, „Kitsch“, Comics, „Gangsterfilme“ mit Eifer; antiamerikanische und antikommerzielle Argumente wurden stärker und verdichteten sich zum Feindbild der „Massenkultur“. Andererseits bezog man in das Bemühen um „gute Unterhaltung“ den Jazz ein und versah das neue Fernsehen programmatisch mit einem Bildungsauftrag (Bollenbeck/Kaiser 2000). Was zur guten, sauberen und was zur gefährlich schmutzigen Unterhaltung gehören sollte, war in vielen Einzelfällen umstritten. Dass es sich jedoch grundsätzlich um eine sinnvolle und notwendige Unterscheidung handelte, blieb weithin Konsens.
Der Aufstieg der Popkultur
Diese Grenzziehung demonstrierte eine erstaunliche kulturelle Selbstgewissheit der Bürgerlichen. Nicht nur, dass sie ihre Bildung mit Hochkultur gleichsetzten. Auch wenn sie sich entspannten und vergnügten, galt ihnen die eigene Unterhaltungsware als der der Anderen, der Massen, turmhoch überlegen. Die unerschütterliche Fähigkeit, das eigene Tun fraglos für legitim zu halten, auch wenn es von dem der DurchschnittsbürgerInnen kaum zu unterscheiden war, wurde seit den späten 1950ern auf neue Weise bedeutsam und produzierte durchaus ungewollte Effekte. Damals begann nämlich in ganz Westeuropa eine Entwicklung, die das tradierte Dreiebenenmodell – Hochkultur / anerkannte und gute Unterhaltung / problematische Massen- und Trivialkultur – erschütterte und letztlich beseitigte: Es begann der Siegeszug der Popkultur, auch und gerade unter der bürgerlichen Jugend und im Nachwuchs der Eliten.
Worin lag die unwiderstehliche Anziehungskraft des neuen Kulturformats für die Kinder der gebildeten Mittelschichten? Am Anfang stand der Rock’n’Roll, der seit 1956 Deutschland polarisierte. Arbeiterjugendliche forderten mit Bill Haley, Elvis Presley und wilden Tänzen die restaurative Ordnung heraus und verlangten mehr amerikanischen Fortschritt; es gab öffentliche Debatten über den – so zeitgenössische Headlines – „Terror der Halbstarken“. Im Windschatten der Aufregung über die Unterschichten begannen sich Jungen und Mädchen auf den Gymnasien über das Empowerment zu verständigen, über die Selbstermächtigung, die dem harten, direkten Sound und den jugendbezogenen Texten abzugewinnen war: über deren rebellische Kraft gegen die spießig-autoritäre Welt der Alten, gegen eine Tradition, die ihnen als wahr, gut und schön aufgenötigt wurde und die sie nach eigenem Empfinden daran hinderte, ihre Jugend zu genießen (Baier 1986).
Das artikulierte sich zunächst eher individuell und in der peer group, wurde dann aber mit der Beatlemania und den Hippies zu einer öffentlichen Protestbewegung der Mittelschichtjugend (Siegfried 2006). Rockmusik erlebte seit der Mitte der 1960er eine Kreativitätsexplosion; sie wurde anschlussfähig an musikalische und performative Avantgarden (Stichwort Frank Zappa) einerseits, an traditionelle Musizierweisen und Institutionen andererseits (Stichwort Symphonic Rock). Zunehmend selbstbewusste Klangkünstler erhoben Rockmusik zum Medium der Ausbruchs- und Alternativsehnsüchte der Mittelschichtjugend und zur Verkörperung einer weltweiten Gegenkultur. Auch die konnte nun – wie vorher nur die Klassik – das Wahre, Gute und Schöne in einer entfremdeten Welt zum Gegenstand überwältigender sinnlicher Erfahrung machen (Wicke 1998:246-264; 2004).
Kurzum: Pop forderte den tradierten Hochkultur-Kanon auf Augenhöhe heraus – und zwar in zeitgemäßer ästhetischer Sprache, in aktuellen Kontexten und mit politischem Engagement (Hecken 2009). Pop prägte Erfahrungen, Gefühle, Selbstbildungsprozesse (Alkemeyer/Budde/Freist 2013) einer Generation heranwachsender AbiturientInnen und HochschulabsolventInnen, nicht zuletzt kultureller Eliten. Und trotz des erfolgreichen Marschs ins kulturelle Zentrum blieben im Pop-Kontext „oppositionelle Modelle für das Verhältnis … zum Ganzen der Gesellschaft als Selbstbeschreibung dominant“ (Diederichsen 2014:XXVII; Hervorh. KM). POP war alternativ, nicht konform, und verstand sich zunehmend als die Bildungskultur der Postmoderne.
Oder anders formuliert: Man etablierte eine zweite Variante von Hochkultur – neben der traditionellen jetzt auch eine popmoderne. Sehr detailliert und hoch differenziert hat Thomas Hecken (2012a; 2012b) unter dem Begriff des „Avant-Pop“ den „veränderten Zuschnitt“ der im 21. Jahrhundert als „wertvoll oder hoch eingestuften Kultur“ (Hecken 2012a:40) herausgearbeitet. Ästhetische Verfahrensweisen und Produkte, die als kommerziell-populär und sinnlich krass galten, wurden seit den 1960ern theoretisch-argumentativ wie kunstpraktisch zunehmend aufgewertet hin zu „erneuerten Formen“ der von Gebildeten anerkannten „Hochkunst“ (ebd. 48).
Die Karriere des anspruchsvollen, exklusiven POPdiskurses wird verständlich, schaut man, wie sich seit 1945 die Sozialisation der Jugend in der bildungsorientierten Mittelschicht veränderte. Liberalisierte Erziehung (Herbert 2002) und beispielloser Zugang zu Medien fielen zusammen mit einem massiven Autoritätsverlust überkommener Bildungsmodelle. Nach dem Krieg und den NS-Verbrechen überzeugte eine antipolitisch am Wahren, Schönen, Guten ausgerichtete Kunstgläubigkeit kaum noch. Pop(musik) hingegen ermöglichte intensive Erfahrung des eigenen Selbst und seiner Entwicklung in ästhetischer Gegenwärtigkeit. Die Gegen- und Subkulturen der 1960er und 1970er vereinten innovative Klänge und geradezu existenzielle Musikerfahrung mit alternativer Lebensführung. Es etablierte sich ein modernisiertes Kulturverständnis, das tradierte Bildungsgüter und Habitusformen nicht gänzlich verwarf, sie vielmehr mit Akzeptanz und Hochschätzung pop(ulär)kultureller Erfahrungen und Werte verband (Göschel 1990). Also keine Ersetzung herkömmlichen Bildungswissens, sondern dessen Erweiterung durch und Verknüpfung mit Pop(ulär)kulturellem. Nicht wie die Eltern: Brahms statt Boogie und Hölderlin statt Hitchcock – vielmehr Arvo Pärt plus Iggy Pop und Houellebecq plus House of Cards.
Das heißt: Die anerkannte Populärkultur hat ihren Charakter und ihren Status im vergangenen halben Jahrhundert auf revolutionäre Weise verändert. Nur am Rande noch geht es um „gepflegte Tanzmusik“ oder historische Romane für den Urlaub. Seit etwa 1980 stellt sich Popkultur als zunehmend intellektualisierte und akademisierte Szene dar, die biedere Unterhaltung in jeder Form ächtet (Geer 2012). Hier wird POP geradezu kunstrichterlich als Norm und Programm verstanden und „als eine Art Prädikat für besonders avantgardistische oder politisch korrekte Gegenwartskunst verwendet“ (Geisthövel/ Mrozek 2014:19). Dieses Populäre hat inzwischen, vermittelt über Zeitschriften wie Spex, testcard und neuerdings, von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert, POP sowie über brillante Vertreter wie Diedrich Diederichsen, den Büchner-Preisträger Rainald Goetz oder Moritz Baßler, kulturelle Autorität erworben. POP macht der alten E-Kultur ernsthaft Konkurrenz in Sachen Ästhetik, Komplexitätsanspruch, Erlesenheit; er bezieht ständig neue Vitalität aus den Kreativitätslabors der kommerziellen Kulturbranchen und führt am populären Material Niveau, Originalität und Tiefgründigkeit des eigenen Geschmacks vor.
So hat POPkultur traditionelle Bildungskompetenz mit subkulturellen und avantgardistischen Elementen aus der Populärkultur zu einem zeitgeistigen Hybrid verschmolzen. Dessen Basisprinzip lautet: Auf keinen Fall Mainstream! Weder verstaubte, pathosverklebte Klassik noch Hits aus dem Dudelfunk oder gehobenes Entertainment bei Schampus und Häppchen. Damit wurde das Dreiebenenmodell aus Hochkulturkanon, „guter Unterhaltung“ und „trivialer Massenkultur“ aufgelöst. Extrem verkürzt, zeichnet sich eine neue hierarchische Formation ab: Unterhalb der legitimen und legitimierenden „anspruchsvollen“ Kultur, gekennzeichnet durch ein spannungsvolles Neben- und Ineinander von tradiertem Bildungskanon und POP, fließt der wegen seiner kompensatorischen Effekte akzeptierte Strom der Mainstream-Unterhaltung und -vergnügung; noch darunter wird eine „neue Massenkultur“ der „neuen Unterschichten“ situiert. Der Historiker Paul Nolte (2004:57) betrachtet sie als „Ergebnis von Vernachlässigung“ (Nolte 2004:62) und als relevante Ursache dafür, dass die Unterklasse das bürgerliche „Leitbild der Verantwortlichkeit, des Aktivismus und Individualismus“ abweise und sich damit selbst marginalisiere (Nolte 2004:68). Dass im neuen wie im alten Modell die konkreten Grenzen und Zuordnungen jeweils unscharf und heftig umstritten sind, versteht sich.
Zwischenbilanz
Eine kurze Zwischenbilanz in zwei Punkten.
Erstens: Gemessen am herkömmlichen Bildungskanon und seiner Subjektivitätsform, haben sich hierzulande die gelebten Proportionen von „ernsthafter, anspruchsvoller Hochkultur“ einerseits, populärer, unterhaltender Kultur andererseits seit dem frühen 20. Jahrhundert nicht grundlegend geändert. Mit Ausnahme der – allerdings deutlich gewachsenen – Bildungsschichten schätzen und nutzen die Deutschen überwiegend oder einzig Populärkultur; so betrachtet, bildet die das Zentrum deutscher Kultur. Das ist also nicht neu. Massiv gewandelt haben sich allerdings die innere Struktur des Populären und die vorherrschende Bewertung seiner verschiedenen Ausformungen. Die Stigmatisierung des populären Mainstreams wurde abgelöst durch eine Mischung von Besorgnissen (Gewalt, Sexualisierung, falsche Werte, Verdummung) und Verständnis für dessen vermutete kompensatorische Leistungen; elaborierte Kenntnisse des Populären tragen inzwischen zum kulturellen Kapital bei. POPkultur ist sogar zum elitären Kulturmuster auf gleicher Stufe mit dem Bildungskanon avanciert.
Zweitens: Grundlage des Wandels waren veränderte (Selbst-)Bildungsprozesse im Nachwuchs des gesellschaftlichen Führungspersonals. Seit den 1990ern kommt die wirtschaftswissenschaftliche Aufwertung des Kultursektors unter dem Schlagwort der „creative industries“ hinzu. Davon hat der etablierte Kunstbetrieb als „weicher Standortfaktor“ kaum profitiert, wohl aber ein heterogenes Netz moderner auf keinen Fall mainstreamverdächtiger Unternehmungen: Werbung und Coaching, Eventagentur und Galerie.
Umstrittene Begriffe
Die kulturelle Landschaft ist also mächtig in Bewegung; Abgrenzungen verschwimmen und werden ständig neu gezogen. In dieser Situation wirft „Kulturpolitik für die Popkultur“ viele Fragen auf, formuliert aber noch kein konsistentes Programm. Denn es treffen ganz unterschiedliche Vorstellungen von Pop und Populärkultur aufeinander; die hier dargelegte historische Lesart ist eine davon.
Vielleicht kann ein Vorschlag des Kulturwissenschaftlers Marcus S. Kleiner (2013:18) Struktur in die Debatte bringen. Er sieht hierzulande vereinfachend, aber durchaus hilfreich, zwei Lesarten von Pop, die zwei Seiten einer Medaille bilden. Einerseits Pop als Medium der Rebellion und des Widerstandes, als „Einspruch gegen die Ordnungs- und Ausschlusssysteme der Dominanzkultur“; dies gilt als authentisch und kulturell anspruchsvoll. Das Gegenbild ist Pop als Konsum: minderwertig, Mainstream und Inbegriff von Affirmation. „Pop als Rebellion wird zumeist der Status autonomer, widerständiger, inkommensurabler Kunst im hochkulturellen Verständnis zugeschrieben, Pop als Konsum unterliegt dem Verdacht kulturindustrieller Standardisierung und Instrumentalisierung.“
Das ist freilich eine analytische Zuspitzung. Aktuelle Kommentare aus der Politik klingen längst nicht so eindeutig; guter, förderungswürdiger Pop wird meist nur vage bestimmt. Nehmen wir die Versuche des Deutschen Kulturrates, populäre Kultur in die „Mitte der Kulturpolitik“ zu rücken. Der Bereich entziehe sich jeder eindeutigen Zuordnung, heißt es. Er umfasse „das leicht Konsumierbare, den Hit“ ebenso wie „moderne Kunstformen“ als „bewusste Abkehr vom Mainstream“. Kunst, Kitsch und Markt lägen nahe beieinander, das mache die „Ambivalenz Populärer Kultur“ aus (Zimmermann 2013).
Offenbar gibt es Bereiche des Populären, mit denen sich die Kulturförderung unwohl fühlt, und die liegen mit hoher Wahrscheinlichkeit im Bereich dessen, was unter „Gebildeten“ als anspruchslos gilt. Denn abwertende und sozial ausgrenzende Lesarten von Massenkultur als Schund und Massenbetrug sind durchaus lebendig hierzulande. Ihnen geht es nicht um Förderung, sondern um Eindämmung, Überwindung oder zumindest Verdammung.
Demokratische Kulturpolitik und kultureller Mainstream
Wie ist mit der Abwertung des Mainstreams umzugehen? Die Frage stellt sich nicht, wenn konkrete Genres, Formate, Inszenierungen kritisiert und als ekelhaft oder menschenverachtend angeprangert werden. Darüber kann und muss man in der Sache diskutieren, und nicht selten werden auch Befürworter des Mainstream die Besorgnisse nachvollziehen. Sehr viel schwieriger ist es, eine sachbezogene, kompetente, lernbereite Debatte zu führen über den unausgesprochenen, fraglosen und mehr von Klischees als Kenntnissen bestimmten Konsens, wonach große Bereiche der Massenkultur ästhetisch – und damit kulturell – wertlos seien. Dass zig Millionen Deutsche solche Angebote lieben, spielt für diese Überzeugung keine Rolle. Wer fragt, ob man nicht einmal den Mainstream mit den Augen seiner Nutzer betrachten sollte, läuft gegen die Gummiwände des (identitätsrelevanten) Vorurteils. Da liegt die Befürchtung nahe, Förderung der Populärkultur könnte zusammenschnurren auf Politik für die POPkultur – und das wäre ausgesprochen unbefriedigend.
Denn es ist der Hauptstrom der alltäglich genutzten Massenkünste, der für die Mehrheit der Bürger die wesentliche Quelle ästhetischer Erfahrung bildet (Hesmondhalgh 2013; Fluck 2007; Johnson 2006; Hausmanninger 2002; Shusterman 2000); er ist – oft als Mittel zur „Alltagsästhetisierung“ (Reißmann/Hoffmann 2015) – die wichtigste Ressource kultureller Durchdringung des Lebens in diesem Lande. Demokratische Kulturpolitik und Akteure im Feld der Kulturellen Bildung sollten diese alltäglichen, millionenfachen Bildungsprozesse nicht dem Markt überlassen. Viele Beteiligte müssten dazu allerdings nicht weniger als eine kopernikanische Wende vollziehen: Weg vom Apriori, kulturelle Bildung verlange Abwendung vom Mainstream und Hinwendung zur ernsthaften Kunst; verlangt ist vielmehr: sich einlassen auf die ästhetischen Regeln und Voraussetzungen des Mainstreams und überlegen, wie auf dieser Basis das Projekt „mehr – vielfältigere, reizvollere, anregendere – Kultur für alle“ voranzubringen ist.
Ein erster Schritt dahin wäre wohl, dass wir „ExpertInnen“ darauf verzichten, den eigenen Geschmack für allgemein verbindlich zu halten, und vielmehr (beispielsweise) jugendliche Fans und Szenemitglieder „als kulturelle ExpertInnen ansehen und entsprechend behandeln“ (Schmidt 2012:821). Dann nämlich könnte die Tatsache ins Gewicht fallen, dass die Mehrheit unserer MitbürgerInnen ihre ästhetischen Erfahrungen im Wesentlichen mit Mainstream-Material macht – mit Helene Fischer und Daily Soaps, Discopop und Gangstarap, Sitcoms und Actionkino, lokalem Popmusikradio und Liebesromanen im Taschenheft, Computerspielen, Youtubeformaten und Bildern aus dem Postershop (und auch, ja, mit Mozart in der Werbung, Eichendorff im Blog und Schubert im Blockbuster-Soundtrack). Dieses Publikum empfindet den Hunger nach Schönheit nicht weniger stark als Opernabonnenten, Vernissagebesucher und Spex-Leser. Es greift allerdings nach einem anderen Repertoire, um ästhetisches Vergnügen und sinnliche Erkenntnis zu erleben.
Diese MitbürgerInnen bevorzugen hoch professionell gemachte Massenkünste, zugeschnitten auf Alltagsstruktur, Erfahrungen und Träume derer, für die ein gutes Leben eine ziemlich anstrengende Aufgabe darstellt. An solchem Material bilden Millionen ihre ästhetischen Erwartungen, Vergleichsmöglichkeiten, Genussweisen und Reflexionsmodi. Es handelt sich hier um Massenkünste, weil bei allen Unterschieden zwischen Blues und Beethoven, Opernball und Discotanz, Blockbuster und Entwicklungsroman, Vermeer-Reproduktion und Kaufhausbild doch die wesentlichen Leistungen des Umgangs mit Künsten in dieselbe Richtung weisen: intensive Erfahrung und tieferes Verständnis des eigenen Selbst und der Welt, in der dieses Ich sich bewegt – mit bewegenden Empfindungen, sinnlich-körperlichen Sensationen, ergreifenden Einsichten und den einzigartigen Glücksgefühlen, die Schönes und Erhabenes vermitteln können.
Ich sprach etwas vollmundig von einer kopernikanischen Wende. Gemeint ist: Wir sind es gewohnt, Kulturpolitik und Kulturförderung angebotsorientiert, von der Produktionsseite her zu denken. Man fördert KünstlerInnen und Institutionen, die quali-tätsvolle Werke anbieten und verbreiten. NutzerInnen, Publika kommen ins Bild als diejenigen, die indirekt von Kulturförderung profitieren – aber sie stehen nicht am Ausgangspunkt der Überlegungen. Deswegen gelten Branchen, die erfolgreich für ein Massenpublikum produzieren und damit ordentlich Geld verdienen, als Bereich, um den Politik sich nicht zu kümmern braucht – und Kritikern als verachtenswerte „Kulturindustrie“, unausrottbares Schandmal unserer Moderne.
Das stellt sich anders dar, wenn man vom Anspruch aller BürgerInnen auf kulturelle Entfaltung und ästhetischen Genuss ausgeht. „Anspruch“ meint keine abstrakte Möglichkeit nach dem Muster „Jeder Deutsche hat die Chance, Millionär zu werden“, sondern die Pflicht nüchterner und vorurteilsloser Prüfung, welche Möglichkeiten zur Teilhabe die Mehrheit wirklich nutzt: eben Mainstream und Massenware. Diesen Menschen kann man nicht mit Rilke empfehlen: Du musst Dein Leben ändern! Wechsle zu 3sat und ARTE, geh ins Programmkino, in den Jazzclub oder zur Volkshochschule, folge der Bestenliste des SWR, besuch die Einführung im Museum für Moderne Kunst!
Frech zugespitzt, steht ein veritabler Paradigmenwechsel an: Weg von einer kulturellen Bildung, die vor allem schützen und imprägnieren will gegen Massenkultur, gegen vermutete Verführung, Verdummung und Vernichtung ästhetischer Sensibilität – hin zu Programmen, die reicheres Vergnügen und menschliches Gedeihen (Hesmondhalgh 2013) im Umgang mit Mainstream-Künsten zum Ziel haben (Shusterman 1994). Dazu braucht es ein Sicheinlassen auf deren Spielregeln und Qualitätsmaßstäbe, das Ernstnehmen der Erfahrungen und Kenntnisse von Fans und Publika, letztlich das Anerkennen der Tatsache, dass in der Geschichte alle Versuche gescheitert sind, die Massen von ihren ästhetischen Wünschen wegzuerziehen (Mühlberg 1994:68-73; Cullen 2002; Maase 2000, 2012; Kühn 2015).
Auszugehen ist also von den praktizierten kulturellen Präferenzen und Gewohnheiten; von hier aus ist zu überlegen, wie Menschen unter diesen Voraussetzungen ihre Teilhabechancen ausweiten könnten. Das macht „der Markt“ nicht, zumindest nicht systematisch; deswegen darf demokratische Kulturpolitik das Publikum, das in Sachen Künste und Schönheiten auf den Mainstream angewiesen ist, nicht dem Markt überlassen – weder aus wirtschaftsliberaler Ideologie noch aus Selbstbezogenheit oder Überheblichkeit sogenannter Gebildeter.
Ermunterung
Ist das überhaupt ein realistisches Ziel? Gibt es nicht ein ehernes Gesetz der konkurrenzgetriebenen Kulturindustrien, wonach im Wettbewerb immer primitivere, immer anspruchslosere, immer extremere Mittel eingesetzt werden, um Massenpublika zu binden? Erfreulicherweise gibt es immer mehr Forschung, die mit historischem wie systematischem Zugriff Gegentendenzen beleuchtet .
Die Entwicklung der Massenkünste im Mainstream lässt seit Jahrzehnten zwei Haupttrends erkennen. Das durchschnittliche ästhetische Potenzial wächst in vielen Bereichen, bei den Produkten wie bei den NutzerInnen; und zugleich geht die Schere zwischen zwei Tendenzen auseinander: auf der einen Seite Angebote und Gebrauchsweisen, die zum Gedeihen, zum Aufblühen menschlicher Fähigkeiten, Genüsse und Beziehungen beitragen – andererseits Angebote und Nutzungsformen, die geeignet sind, Menschen auf dem Stand ihrer Fähigkeiten und Beziehungen zu fixieren, und dabei kreative Einstellungen und sozial verbindende Praktiken eher schwächen.
In dieser Situation scheint es angebracht – wie dies etwa von Appen (2007), Jenkins (2006) oder Johnson (2006) tun –, nach den Ursachen der positiven Trends zu suchen und sie gezielt zu verstärken. Empirische Studien wie eigene Erfahrungen weisen darauf hin, dass das ästhetische Anspruchsniveau im Mainstream der Massenkünste – die Substanz der Produkte wie die Kompetenz der NutzerInnen – durch das 20. Jahrhundert bis heute anhaltend gestiegen ist und weiter steigt (Maase 2010, 2008, 2007; Schenk 2006; Faulstich 1996). Verzweigte, komplexe Narrative, die Gestaltung vielschichtiger Konflikte und ambivalenter Figuren, episch ausgreifendes Erzählen und visuelle Kraft sowie nicht zuletzt genrebezogene Reflexivität und Witz zeichnen nicht nur neuere amerikanische und skandinavische TV-Serien aus; das gilt grosso modo auch für Vorabendserien und die boomende Krimiware - Derrick ist schon ewig nicht mehr Maß aller Dinge. Wer schon etwas länger ins Kino geht, wird bemerkt haben, wie allgemeine Standards gestiegen sind. Filmische Expositionen entfalten heute scheinbar unabhängige Erzähllinien, deren Zusammenhang sich vielleicht nach einer Viertelstunde, teilweise auch erst im dramatischen Finale erschließt. Das ist mittlerweile für Mainstreampublikum und Primetimeprogramm nicht nur zumutbar, solche Herausforderungen intensivieren das Vergnügen und sind auf dem Weg zur Norm.
Also alles wunderbar auf der Andrea Doria? Produkte und Praktiken der Populärkultur kritisch zu diskutieren, bleibt fraglos notwendig. Vor allem jedoch sagt ein positiver Gesamttrend definitiv nicht, auf die unsichtbare Hand des Marktes sei eben Verlass. Gewiss, die Ursachen sind komplex und vielfältig. Aber ebenso gewiss haben sie erstens mit Bildungspolitik zu tun und zweitens mit wachsenden intellektuellen, sozialen und emotionalen Anforderungen im formellen wie informellen Arbeitssektor. Drittens wurden Zentralisierungs- und Monopolisierungstendenzen der Kulturbranche immer wieder durch kultur- und wirtschaftspolitische wie technologische Weichenstellungen aufgehalten. Der Hinweis auf ästhetische Qualitäten steht hier jedenfalls als Ermunterung, über effektive Interventionen von Kulturpolitik und Kulturarbeit nachzudenken. Als Beispiele, aus denen zu lernen ist, wären etwa die Etablierung der Popakademie Mannheim 2003, die mit der Verleihung eines nationalen Kulturpreises für Computerspiele seit 2008 verbundenen Debatten und Entwicklungen oder auch – bei allen Problemen einer Verschulung ästhetischer Praxis (Haller/Herm 2015) – die Aufnahme von Themen der Popmusikgeschichte in Schullehrpläne zu nennen.
Schlussfolgerungen
Dazu abschließend einige Überlegungen. Die Rede von Massenkünsten und ästhetischen Erfahrungen ihrer RezipientInnen sagt auch: Die ProduzentInnen dieser Angebote sind KünstlerInnen wie alle anderen, denen wir diese respektheischende Bezeichnung zugestehen, und sie haben, wir haben Anspruch auf eine Kritik, die ihrer Arbeit gerecht wird. Es sind nun mal Künste eigener Art; sie orientieren sich an deutlich anderen Anforderungen und Erwartungen als der Bereich der etablierten Musen. Sie wollen sich im Alltag behaupten, und sie wollen zur Unterhaltung von Menschen beitragen, die weder Kunstprofis noch hochgebildete Connaisseurs sind, sondern interessierte (manchmal überwältigend kenntnisreiche) Laien, die ihr Vergnügen suchen.
Wird hierzulande ausreichend gelehrt, einem solchen Publikum ansprechende ästhetische Angebote zu machen und dafür angemessene Urteilsmaßstäbe zu entwickeln? Jede amerikanische Hochschule hat ihre Kurse für creative writing – und Deutschland? Wird ernsthaft genug untersucht und erprobt, was die besten Formen populärer Kunstproduktion sind? Das Unterhaltungsgewerbe ist arbeitsteilig und hoch spezialisiert. Film- und Fernsehhochschulen behandeln inzwischen künstlerische Fragen der Populärkultur; aber tun wir wirklich genug, damit der Nachwuchs entsprechendes know-how halbwegs systematisch erwerben kann? Geht es dabei um ästhetische Qualität oder vorrangig darum, sich in kommerzielle Strukturen einzupassen? Die hoch gelobten amerikanischen und nordischen Serien hängen untrennbar zusammen mit der weitgehenden Autonomie und der strukturierten Kooperation vieler kreativer Köpfe bei Konzept, Drehbuch und Produktion; jetzt hechelt man hierzulande hinterher. Ausbildung ist auf jeden Fall einer der wichtigsten Hebel jeglicher Kulturpolitik für die Populärkultur. Weiter ist politisch zu überlegen, wie man die Position der Kreativen im Kulturgeschäft gegenüber Kaufleuten und Marketingmanagern stärkt.
Grundsätzlich ist zu klären, wo Förderung eigentlich ansetzen soll: bei den KünstlerInnen, beim Werk, bei den NutzerInnen oder – ein selten gehörter Gedanke – bei der professionellen Kritik, die ganz wesentlich zu Qualitätsdebatten und Qualitätssteigerung beiträgt? Bereitschaft zu und Freude an Innovation, Vielfalt, ernstem Spiel sind jedenfalls nicht allein auf der Angebotsseite zu fördern, sondern auch im Massenpublikum selbst. Momentan wird vielerorts über audience development debattiert; dabei geht man allerdings meist von bestehenden Kultureinrichtungen aus. Ist aber nicht auch zu fragen, wie man den Menschen, die das Massenpublikum bilden, hilft, ihre bestehenden Wünsche und Kompetenzen reicher zu entwickeln? Deutschland verfügt über ein eindrucksvolles Instrumentarium kultureller und ästhetischer Bildung, doch es wird fast ausschließlich zur Vermittlung „ernsthafter, anspruchsvoller“ Werke genutzt. In diesem Kontext taucht Mainstream praktisch nur als abschreckendes Beispiel auf. Dabei wäre es für KulturpädagogInnen ein Leichtes, im Austausch mit Genreliebhabern zu thematisieren, was gut gemachte von weniger gut gemachter Action, Fantasy oder Sitcom unterscheidet; oder SchülerInnen mit Game DesignerInnen diskutieren zu lassen, was für Computerspiele sie gerne entwickeln würden (Deeg 2012) – also mit vorhandenen Kompetenzen und Erwartungen zu arbeiten und nicht gegen sie.
Um den Kernpunkt in einem Satz zu formulieren: Kulturpolitik für die Popkultur verlangt, den real existierenden Mainstream, sein Publikum und deren gemeinsame Potenziale ästhetisch ernst zu nehmen; der Werkzeugkasten der Kulturellen Bildung enthält bereits jede Menge Instrumente, die für einen solchen Ansatz zu adaptieren sind.