Kompetenzlosigkeitskompetenz als Perspektive einer diversitätssensiblen Theaterpädagogik

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von Thomas Blum

Erscheinungsjahr: 2024

Peer Reviewed

Abstract

Theaterpädagogische Praxis findet in Deutschland im Kontext gesellschaftlicher Diversität statt. Im vorliegenden Text werden zentrale, sich aus dieser Rahmung ergebene Spannungsfelder theaterpädagogischen Arbeitens vorgestellt. Grundliegend ist hierbei eine machtkritische Perspektive, der es um die Frage danach geht, wie Theaterpädagogik einen Beitrag zu weniger struktureller Gewalt gegenüber „Anderen“ leisten kann. Diese Frage wird am Beispiel der Wirkungsweisen von Rassismus und der Bedeutsamkeit von Weißsein für diese Wirkungsweisen konkretisiert. Ausgehend vom nicht-essentialistischen Subjektbegriff der Cultural Studies werden die Positioniertheiten von Subjekten als Effekte von Diskursen zu verstehen gegeben, die durch Spannungsverhältnisse geprägt sind. Mit Bezug auf rassismuskritische Theorieperspektiven werden zwei dieser Spannungsverhältnisse und ihre Bedeutsamkeit für die theaterpädagogische Praxis diskutiert: Das Spannungsverhältnis zwischen Differenzfixierung und Differenzignoranz sowie das Spannungsverhältnis zwischen Wissen und Nicht-Wissen. Als Perspektive für eine diversitätssensible theaterpädagogische Praxis wird abschließend Kompetenzlosigkeitskompetenz als Ansatz für die Entwicklung theaterpädagogischer Professionalität im Kontext von Diversität vorgestellt.

Positionierungen: Diversität, Subjekt, Rassismuskritik, Weißsein

Der Begriff „Diversität“ (engl. „Diversity“) ist in den letzten Jahren zu einem zentralen Schlagwort in den gegenwärtigen gesellschaftlichen Debatten ebenso wie in der Theaterpädagogik geworden. Seine Ursprünge liegen in den weltweiten sozialen Bewegungen Mitte des 20. Jahrhunderts. Ausschlaggebend war hier u.a. die amerikanische Bürgerrechtsbewegung und ihr Kampf gegen Rassismus. An den Geist dieser sozialen Bewegungen und ihrer Kämpfe für Gleichberechtigung und soziale Gerechtigkeit schließt der folgende Text an. Diversität adressiert vor diesem Hintergrund hier nicht bloß eine Unterschiedlichkeit von Menschen, wie dies etwa der „Gemengebegriff“ (Dirim und Mecheril 2018, S. 27) Heterogenität tun kann. Auch einer ebenfalls populären Lesart von Diversität als ausschließliche Betrachtung der Potenzialität von Vielfalt etwa für die Leistungssteigerung und den Erfolg von Unternehmen, wie sie in ökonomistischen Diversity-Managements vertreten wird, schließe ich mich hier nicht an. Sondern Diversität bezieht sich im Folgenden auf jene aus sozialen Konstruktionen und Normen hervorgegangenen, intersektional miteinander verschränkten Unterschiedsdimensionen, die Menschen strukturell diskriminierbar machen: Race, Geschlecht (gender), Klasse, Behinderung (ability), Staatsbürgerschaft, Religionszugehörigkeit, Alter, Herkunft aus Ost- oder Westdeutschland und weitere. In dieser Perspektive ist es mir wichtig, Diversität als eine nicht nur deskriptive, sondern auch normative Perspektive zu verstehen, der es um eine gesellschaftliche Veränderung hin zu weniger struktureller Diskriminierung und Gewalt gegenüber „Anderen“ geht und um die Frage, welchen Beitrag Theaterpädagogik zu dieser Veränderung leisten kann.

Dieses Anliegen verfolge ich sowohl aus bestimmten theoretischen und biografischen Perspektiven heraus als auch ausgehend von einem bestimmten, und zwar einem reflexiven Verständnis theaterpädagogischer Praxis (Pinkert 2017). In einem solchen Verständnis erscheint Theaterpädagogik nicht primär erst dann als ein politisches Feld, wenn die Theaterpädagogik sich politischen Themen wie beispielsweise Rassismus zuwendet. Sondern ein solches Verständnis geht davon aus, dass Theaterpädagogik per se maßgeblich in politisch-gesellschaftliche Verhältnisse involviert ist, welche sich in der Theaterpädagogik widerspiegeln und von ihr reproduziert und verschoben werden. In diesem Verständnis ist theaterpädagogische Praxis immer politisch (vgl. ausführlicher: Blum 2015), da sie sich immer zu sich in Bewegung befindenden gesellschaftlichen Ordnungen und Machtverhältnissen verhält und auf diese Bewegungen Einfluss nimmt. Im Sinne machtkritischer Perspektiven ist es vor diesem Hintergrund notwendig, sich als Fachwissenschaft und Praxisfeld der Involviertheiten und der damit einhergehenden Politizität der Theaterpädagogik bewusst zu werden.

Da es im Folgenden auch und besonders um das Differenzverhältnis Rassismus gehen wird, ist es für diese Perspektiven besonders bedeutsam, dass ich diesen Text als ein weiß positionierter Theaterpädagoge und Wissenschaftler schreibe. Im Anschluss an Ansätze der Britischen Cultural Studies (vgl. Hall 1999) und an Perspektiven der Critical Whiteness Studies (vgl. Eggers 2005) beziehe ich mich mit der (Selbst-)Positionierung weiß auf eine historisch mit der „Erfindung“ von Weißsein im europäischen Kolonialismus entstandene gesellschaftliche Positioniertheit. Im Zusammenspiel mit sich verändernden historischen und geografischen Kontexten befindet sich diese Positioniertheit in permanenten Transformationsprozessen und mit ihr auch die Vorstellung davon, was es (zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort) bedeutet, weiß zu „sein“. So gibt für den deutschen Kontext Wolf Hund (2017) in seinem Buch „Wie die Deutschen weiß wurden. Kleine (Heimat)Geschichte des Rassismus“ einen lesenswerten Einblick in das historische Entstehen und die spezifischen Ausprägungen und Verständnisse von Weißsein in Deutschland. Theoretisch fußt die Rede von Weißsein als Positioniertheit in den angeführten Perspektiven auf einem nicht-essentialistischen Subjektverständnis, wie es maßgeblich für jüngere Ansätze rassismuskritischer Forschungsansätze ist (vgl. Mecheril 2014). Statt als relativ souveränes und kreatives Wesen rücken diese das Subjekt als Produkt von es beeinflussender und steuernder ökonomischer, gesellschaftlicher, geistiger, politischer oder triebhafter Mächte und Kräfte in den Blick. Der britisch-jamaikanische Soziologe Stuart Hall, Mitbegründer der Cultural Studies, fasst den hiermit verbundenen grundsätzlichen Perspektivwechsel auf das Subjekt in seinem Text zu „Identität und Differenz“ prägnant zusammen:

Gegenüber dem Versprechen der Modernität von der großen Zukunft: ‚Ich bin, ich bin der westliche Mensch, also weiß ich alles. Alles beginnt mit mir‘, sagt der Modernismus: ‚Immer langsam. Was ist mit der Vergangenheit? Was ist mit den Sprachen, die du sprichst? Was ist mit dem unbewussten Leben, über das du nichts weißt? Was ist mit all den anderen Dingen, die dich sprechen?‘. (Hall 1999, S. 86)
(In der hier zitierten deutschen Übersetzung steht „Modernität“ für modernity und „Modernismus“ für modernism, meistens werde die Begriffe jedoch mit „Moderne“ (modernity) bzw. Spätmoderne (modernism) übersetzt.) 

Diskurstheoretische Perspektiven (Butler 2006) verstehen das Subjekt grundsätzlich nicht als eine dem Denken, Fühlen und Handeln vorgängige Instanz, sondern als Effekt von Diskursen und Praktiken. Als Teil einer derart verstandenen Subjektivität beschreibt Weißsein (vgl. für eine Diskussion des Begriffs und den Ambivalenzen seiner Verwendungsweise: Blum 2023, S. 21) eine durch Diskurse und Praktiken strukturierte und sich permanent neu hervorbringende Subjektposition. Diese existiert nicht losgelöst von anderen Positioniertheiten und kann entsprechend auch nicht als losgelöste, vermeintlich immer gleiche Größe, beobachtet werden, sondern stets bloß in ihrer jeweiligen Spezifik. Trotzdem und gleichzeitig ist die soziale Position weiß in Deutschland durch bestimmte gemeinsame Merkmale gekennzeichnet. Eines von ihnen ist es, dass weiß positionierte Menschen strukturell von globalen wie lokalen Ordnungen des Rassismus eher profitieren als von ihnen behindert zu werden. In vielen Situationen wirkt Weißsein auf weiße Menschen wie ein kaum spürbarer Rückenwind beim Fahrradfahren. Es unterstützt das eigene Vorwärtskommen und erlaubt der fahrenden Person gleichzeitig, ihre Erfolge (auch im Vergleich mit anderen) ausschließlich den eigenen Fähigkeiten zuzuschreiben und nicht einem strukturellen Vorteil. Wie Ursula Wachendorfer (2001) treffend beschreibt, ist Weißsein in Deutschland dabei Teil einer „herrschenden Normalität“ und kann vor diesem Hintergrund mit einer scheinbar selbstverständlichen Passung und Zugehörigkeit von Menschen, etwa zum Zugehörigkeitsraum Theater, verbunden sein. Dass die Erfahrungen, die weiß positionierte Menschen machen ebenso wie ihre Wissensbestände und Perspektiven mit ihrer Positioniertheit zu tun haben ist dabei vielen nicht bewusst. Und leider gibt es – auch im Kontext der theaterpädagogischen Ausbildung – noch immer sehr wenig systematisch-reflexive Beschäftigungen mit den Effekten der eigenen Positioniertheiten auf das eigene Denken, Fühlen und professionelle Handeln.

Anzuerkennen, dass man selbst „rassistisch ist“, ist bei weißen Menschen häufig mit Scham und Ablehnung verbunden (vgl. Kilomba 2016). Dass der (pädagogische) Umgang mit dieser Scham bildungsrelevant ist, zeigt Tobias Linnemann in seiner jüngst erschienenen Dissertation „Bildet Scham? Zusammenhänge von Scham und Bildungsprozessen von weiß-mehrheits-deutsch Positionierten bezüglich ihrer Involvierung in rassistische Verhältnisse“. Förderlich für eine herrschaftskritische Auseinandersetzung mit der Verbindung von Weißsein und Rassismus seien nicht Praktiken der (zusätzlichen) Beschämung, sondern vielmehr „die Akzeptanz, Anerkennung, Reflexion und Begleitung von aktuellem oder vergangenem Schamerleben“ (Linnemann 2023, S. 315). In meiner forschenden und künstlerisch-pädagogischen Praxis bemühe ich mich vor diesem Hintergrund um eine nicht-beschämende Herangehensweise. Verinnerlichte rassistische Wissensbestände, Denk- und Fühlweisen sowie Verhaltensweisen rücken in dieser Perspektive nicht als individuelle Verfehlungen, sondern als vorherrschende und erlernte routinisierte gesellschaftliche Praktiken und Affekte in den Blick. Diese gilt es zu reflektieren und nach theaterpädagogischen Wegen ihres „Verlernens“ (vgl. Castro Varela 2017) zu suchen.

Spannungsverhältnisse als Kern theaterpädagogischer Arbeit

Einen weiteren relevanten Hintergrund der vorliegenden Überlegungen bildet meine Auseinandersetzung mit der Bedeutung von Spannungsverhältnissen für eine herrschaftskritische theaterpädagogische Praxis in der Studie „Theaterpädagogik am Theater der Migrationsgesellschaft. Eine rassismuskritische Analyse“. Ein zentrales Ergebnis dieser Untersuchung besteht darin, dass eine herrschaftskritische theaterpädagogische Praxis als Teil Kultureller Bildung angehalten ist, sich mit den strukturell in Herrschaftsverhältnisse eingeschriebenen Ambivalenzen und Widersprüchen und den aus ihnen resultierenden Spannungsverhältnissen zu beschäftigen. Im Folgenden möchte ich eines dieser Spannungsverhältnisse, das Spannungsverhältnis zwischen Differenzfixierung und Differenzignoranz, in der gebotenen Kürze erläutern. Dies auch deshalb, weil mir sowohl Studierende als auch praktizierende Lehrkräfte und Theaterpädagog*innen in einer Vielzahl an Seminaren, Workshops und Fortbildungen, die ich in den letzten Jahren geben durfte, immer wieder die Rückmeldung gegeben haben, dass die Beschäftigung mit diesem Spannungsverhältnis für ihre Auseinandersetzungs- und Reflexionsprozesse besonders hilfreich war. Gleichzeitig schließe ich mit diesem Fokus an eine strukturtheoretische Perspektive erziehungswissenschaftlicher Professionalitätsforschung an, in der das Wissen um und der Umgang mit für das pädagogische Feld konstitutiven Spannungsverhältnissen als Grundlage professionellen Handelns verstanden wird  (vgl. einführend Combe und Helsper 2002).

„Race doesn´t exist, but it does kill people“ 

Mit diesem drastischen Satz fasst die französische Soziologin Colette Guillaumin für das Herrschaftsverhältnis Rassismus eine paradoxe Struktur zusammen, welche sich auch auf andere soziale Differenzverhältnisse (Diversitäten) beziehen lässt.

Zum einen sind diese durch ihren Konstruktionscharakter geprägt. Für das Sprechen über „Diversität“ grundlegende Kategorien wie race, class, gender, sexuality oder ability lassen sich als gesellschaftliche Konstruktionen verstehen, die nicht natürlich gegeben sind. Unsere Vorstellungen davon, was ein „Migrationshintergrund“, was ein „Mann“ oder was eine „Behinderung“ ist und nicht ist, lassen sich als Effekte historisch gewachsener machtvoller (und umkämpfter) gesellschaftlicher Diskurse verstehen. Als solche sind sie hinsichtlich ihrer Funktion für die Herstellung und Legitimation von gesellschaftlichen Macht- und Herrschaftsverhältnissen zu hinterfragen und auch zu problematisieren.

Zum anderen sind diese Kategorien trotz ihres Konstruktionscharakters wirkmächtig. Im äußersten Fall, wie im obigen Zitat bis hin zur Tötung von Menschen, weil sie in der jeweiligen Kategorie als Andere hervorgebracht werden. Prozesse der Konstruktion Anderer zeitigen Effekte auf materieller wie symbolischer Ebene und verändern die Selbst-, Fremd- und Weltverhältnisse aller von Differenzverhältnissen betroffenen (und damit schlicht: aller) Subjekte. „Rassismus [und Sexismus, Ableismus, etc.] bildet“ (Broden und Mecheril 2010) in diesem Sinne auch alle Schüler*innen, alle Lehrer*innen, alle Theaterpädagog*innen und alle Schulsozialarbeiter*innen, denn es gibt keinen Ort, an dem wir außerhalb dieser Kategorien Subjekte sein könnten. Und es gibt auch keinen Ort, an dem wir mit anderen Subjekten in ein (pädagogisches, professionelles oder persönliches) Verhältnis eintreten könnten, ohne dass die unter „Diversität“ firmierenden Kategorien dieses Verhältnis mit strukturieren würden.

Praxisimpuls

In ihrem Gedicht „For the White Person Who Wants to Know How to Be My Friend” schreibt die afroamerikanische Feministin Pat Parker 1978 über (ihre) Wünsche und Forderungen an potenzielle weiße Freund*innen. Die ersten beiden Zeilen lauten: „The first thing you do is to forget that I’m black. Second, you must never forget that I’m black.“ (vgl. Parker 1999). Immer wieder biete ich in Seminaren und Weiterbildungen zum Thema Rassismus diese beiden Zeilen als Impuls für Zwiegespräche an und lade die Teilnehmenden dann ein, ihre in den Gesprächen untereinander entstandenen Gedanken, Gefühle und Assoziationen zu teilen. Diese Seminare bestehen zumeist sowohl aus weißen Teilnehmenden, als auch aus Teilnehmenden, die selbst negativ von rassistischer Diskriminierung betroffen sind sowie aus solchen, die sich selbst nicht eindeutig einer der beiden Gruppen zuordnen wollen oder können. Häufig ist es so, dass Teilnehmende mit eigenen rassistischen Diskriminierungserfahrungen anhand der beiden Zeilen von Pat Parker sehr präzise und mit einer Vielzahl an Beispielen aus dem eigenen Leben und/oder der eigenen (theater-)pädagogischen Praxis ein Spannungsverhältnis beschreiben können, welches in der rassismuskritischen theaterpädagogischen Theoriebildung als Spannungsverhältnis zwischen Differenzfixierung und Differenzignoranz bezeichnet wird (vgl. Blum 2017).

Das Spannungsverhältnis von Differenzfixierung und Differenzignoranz

Es war lange ein Merkmal von in einem Differenzverhältnis strukturell privilegierten Subjektpositionen, dass diesen ihre strukturell privilegierte Positioniertheit relativ unbewusst war und wenig entgegenschlug. So spricht etwa Ursula Wachendorfer in dem oben erwähnten Text von der „Unsichtbarkeit“ der Positioniertheit weiß, eine Unsichtbarkeit, welche auch im Kontext von etwa Vernetzungstreffen oder Weiterbildungsangeboten in den Bereichen Theaterpädagogik und Kulturelle Bildung, , die nicht explizit Diversität zum Thema haben, häufig weiterhin scheinbar besteht.

In meinen Seminaren frage ich die Teilnehmenden vor diesem Hintergrund häufig, welche Wirkung ein Gedichtanfang hätte, in dem die Positionierungen Schwarz und weiß umgekehrt wären. Also das von einer weißen Person verfasste Gedicht: „For the black person, who wants to be my friend“. Im Gespräch über dieses Gedankenexperiment erfahren wir häufig viel über Weißsein. Zentral ist, dass über einen langen Zeitraum hinweg der Wunsch danach, nicht auf sein Weißsein reduziert zu werden („forget that I´m white), eben wegen oben erwähnter Unsichtbarkeit, bzw. präziser der gesellschaftlichen „Norm und Normalität“ (Butler 2001) von Weißsein, für die meisten Teilnehmenden eine gewisse Absurdität hatte. Seit einigen Jahren verliert Weißsein im deutschen Kontext zunehmend den Status einer vermeintlichen Nicht-Posioniertheit und einer damit einhergehenden vermeintlichen Objektivität und Neutralität. Vielmehr ist auch die weiße Positioniertheit von Kolleg*innen und Teilnehmer*innen eine Positioniertheit im Kontext von Differenzverhältnissen, für die ein reflexiver Umgang mit dem Spannungsverhältnis von Differenzfixierung und Differenzignoranz notwendig ist.

Mit dem Spannungsverhältnis von Differenzfixierung und Differenzignoranz versuche ich (mindestens) einer Gleichzeitigkeit Rechnung zu tragen, die auch in meinem Verständnis des Beginns von Pat Parkers Gedicht den Kern bildet. Die Gleichzeitigkeit, sowohl (im Rassismus) positioniert zu sein (und mit dieser Positioniertheit einhergehend auch entsprechend festgelegt auf bestimmte Erfahrungsräume, während andere Erfahrungsräume verwehrt bleiben) als auch viel mehr zu sein als nur der Effekt einer Positioniertheit innerhalb einer Differenzordnung, die weiße Menschen erschaffen haben, um die Ausbeutung Anderer zu legitimieren. 

Diese Gleichzeitigkeit begegnet theaterpädagogisch Tätigen täglich in ihrer Praxis. Sowohl bezogen auf die eigenen Positioniertheiten und deren Einfluss auf die eigenen Erfahrungen, Perspektiven, Möglichkeiten und Wissensbestände. Als auch bezogen auf die Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen, mit denen gearbeitet wird. Hier kommt allerdings der Umstand erschwerend hinzu, dass wir als theaterpädagogisch Tätige gar nicht wissen und nie umfassend wissen können, wie unsere jeweiligen Gegenüber in den verschiedenen Differenzkategorien positioniert sind und sich positionieren. Und noch weniger können wir wissen, was diese Positioniertheiten und Positionierungen im Moment für die jeweiligen Personen bedeuten und welche bestehenden Erfahrungen, Wissensbestände, Vulnerabilitäten oder Widerstandsstrategien mit ihnen einhergehen. Besonders, wenn wir selbst diese Erfahrungen schon aus strukturellen Gründen nicht machen können.

Das Spannungsverhältnis von Wissen und Nicht-Wissen

Mit dem Spannungsverhältnis von Differenzfixierung und Differenzignoranz geht also ein weiteres Spannungsverhältnis einher: das Spannungsverhältnis von Wissen und Nichtwissen. Theaterpädagogisches Handeln findet in Interaktionssituationen und mit Bezug auf einen künstlerischen Gegenstand (Theater) statt, die (auch) nicht komplett durchschaubar, mehrdeutig, ambivalent, widersprüchlich und durch (Un-)Gleichzeitigkeiten geprägt sind. Theaterpädagogisches Handeln ist durch Dimensionen des Nichtwissens strukturiert.

Da es weder allgemeine Regeln noch Möglichkeiten für eine 1:1-Übersetzung etwa von in Ausbildungskontexten gelernten theaterpädagogischen Handlungsstrategien in situationsspezifisches Handeln gibt, gilt auch für die Theaterpädagogik, was der Erziehungswissenschaftler Michael Wimmer grundsätzlich mit Blick auf jedes pädagogisches Handeln anmerkt: Es „bleibt stets ein Rest, der nicht Wissen ist und nicht Wissen werden kann und dessen Verhältnis zum Wissen unklar ist.“ (Wimmer 2002, S. 425). Mit diesem „Rest“ einher geht eine Unsicherheit theaterpädagogischen Handelns, die nicht überwindbar ist. Das Wissen um die und der Umgang mit den strukturell in der theaterpädagogischen Praxis bestehenden Unsicherheiten bildet eine Grundlage professionellen Handelns in der Theaterpädagogik.

Kompetenzlosigkeitskompetenz als Professionalität theaterpädagogischen Handelns

Mit Blick auf ein professionelles theaterpädagogisches Handeln im Kontext von Diversität verkompliziert sich das Spannungsfeld von Wissen/Nicht-Wissen zusätzlich in der Dimension des Wissens über „die Anderen“ und der Geschichte dieses Wissens – auch und besonders im Kontext pädagogischen Handelns. Wissen ist nicht nur aus postkolonialer Perspektive eng mit Macht verknüpft, so dass vor diesem Hintergrund  auch die Gewaltförmigkeit von Wissen in den Blick gerät. Weil es „[…]keine Machtbeziehung gibt, ohne dass sich ein entsprechendes Wissensfeld konstituiert, und kein Wissen, das nicht gleichzeitig Machtbeziehungen voraussetzt und konstituiert“ (Foucault 1992, S. 39) ist auch das Verhältnis von Wissen und Nicht-Wissen ein politisches Verhältnis und der Umgang mit ihm eine politische Dimension theaterpädagogischer Praxis.

Um ein Spannungsverhältnis handelt es sich zwischen Wissen und Nicht-Wissen deshalb, weil die Anerkennung des (eigenen) Nicht-Wissens allein einer diversitätssensiblen und herrschaftskritischen theaterpädagogischen Praxis eher nicht zuträglich ist. Aus diskriminierungskritischer Perspektive läuft sie Gefahr zu exotisieren, da sie die „Erkennbarkeit des Anderen in seiner Unerkennbarkeit“ (Mecheril 2008, S. 29) voraussetzt und reproduziert. Statt die Mechanismen und Funktionen der Herstellung von Menschen als „Andere“ in den Blick zu nehmen, schreibt eine derartige Reduktion auf Nicht-Wissen den/die „Andere“ in einer vermeintlich wesenhaften, sozusagen „im inneren Kern“ bestehenden Andersartigkeit und Fremdheit fest. Die hierbei vollzogene essentialisierende Trennung zwischen „Eigenem“ und „Anderen“ legt den Grundstein für die exotisierende Abspaltung von Eigenschaften aus dem „Eigenen“ in den „Anderen“; dies geschah historisch beispielsweise im Topos des „Edlen Wilden“ und geschieht aktuell in dem der „exotischen Orientalin“. Zweitens läuft eine ausschließliche Fokussierung des (eigenen) Nicht-Wissens bei weißen Menschen im Kontext Rassismus Gefahr, durch eine „einseitigen Betroffenheitsfokussierung“ (Blum 2023, S. 353) einer Verantwortungsdelegation zuzuarbeiten und die „kritische Auseinandersetzung mit migrationsgesellschaftlichen Repräsentationsverhältnissen als Aufgabe derjenigen zu verorten, die im Rassismus und in anderen Differenz- und Herrschaftsverhältnissen als Andere positioniert werden“ (ebd.).  

Statt einer bloßen (nur vermeintlich: bescheidenen) Zurücknahme im Sinne eines „Überlassens von Räumen“ geht es für eine professionelle theaterpädagogische Leitung im Kontext von Diversität darum,

  • Wissen und Nicht-Wissen als ineinandergreifend zu denken und die hieraus resultierende Verantwortung nicht an Andere zu delegieren,
  • aus dem reflexiven Umgang mit dem eigenen Nicht-Wissen Erkenntnisse über die Grenzen des eigenen Wissens zu erlangen,
  • ein Wissen über die Eingebundenheiten des eigenen Wissens in gesellschaftliche Macht- und Herrschaftsverhältnisse zu entwickeln.

Paul Mecheril (2008) hat für diese Fähigkeit den Ausdruck der „Kompetenzlosigkeitskompetenz“ gefunden, einen Ausdruck, der in seiner Paradoxie treffend „ein Wissen um die Grenzen des Wissens“ adressiert. Eine so verstandene Kompetenzlosigkeitskompetenz halte ich für einen produktiven Bezugspunkt für eine professionelle diversitätssensible theaterpädagogische Praxis, in der weder das Spannungsverhältnis von Differenzfixierung und Differenzignoranz, noch das von Wissen und Nicht-Wissen aufgelöst werden. Da es keine theaterpädagogische Praxis außerhalb der von unterschiedlichen Positioniertheiten geprägten gesellschaftlichen Verhältnisse geben kann, bildet eine reflexive Auseinandersetzung mit diesen Spannungsverhältnissen meines Erachtens nicht einen Nebenschauplatz, sondern einen Kernbestandteil theaterpädagogischer Professionalität, der in der theaterpädagogischen Aus- und Weiterbildung systematisch verankert werden sollte.

Verwendete Literatur

Blum, Thomas (2015): Theaterpädagogik ist immer politisch! Zu Konstruktionen des 'Anderen' in der theaterpädagogischen Praxis. In: Ursula Jenni und Janka Panskus (Hg.): Blick Zurück – Fallstudien. Praxis Kultureller Bildung, S. 64–76.

Blum, Thomas (2017): … und alle machen mit! Rassismuskritische Gedanken zum Thema Partizipation in der Theaterpädagogik. In: Christoph Scheurle, Melanie Hinz und Norma Köhler (Hg.): Partizipation: teilhaben/teilnehmen. München: kopaed, S. 61–78.

Blum, Thomas (2023): Theaterpädagogik am Theater der Migrationsgesellschaft. Eine rassismuskritische Analyse. Berlin, Milow: Schibri-Verlag.

Broden, Anne; Mecheril, Paul (Hg.) (2010): Rassismus bildet. Bildungswissenschaftliche Beiträge zu Normalisierung und Subjektivierung in der Migrationsgesellschaft. Bielefeld: transcript.

Butler, Judith (2001): Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Butler, Judith (2006): Haß spricht. Zur Politik des Performativen. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Castro Varela, María do Mar (2017): (Un-)Wissen. Verlernen als komplexer Lernprozess. Online verfügbar unter http://www.migrazine.at/artikel/un-wissen-verlernen-als-komplexer-lernprozess, zuletzt geprüft am 03.05.2021.

Combe, Arno; Helsper, Werner (Hg.) (2002): Pädagogische Professionalität. Untersuchungen zum Typus pädagogischen Handelns. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Dirim, Inci; Mecheril, Paul (Hg.) (2018): Heterogenität, Sprache(n), Bildung. Die Schule der Migrationsgesellschaft. Bad Heilbrunn: UTB.

Foucault, Michel (1992): Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Hall, Stuart (1999): Ethnizität: Identität und Differenz. In: Jan Engelmann (Hg.): Die kleinen Unterschiede. Der cultural studies-reader. Frankfurt/Main: Campus Verl., S. 83–98.

Hund, Wulf D. (2017): Wie die Deutschen weiß wurden. Kleine (Heimat)Geschichte des Rassismus. Berlin: J.B. Metzler.

Kilomba, Grada (2016): Plantation memories. Episodes of everyday racism. Münster: Unrast-Verlag.

Linnemann, Tobias (2023): Bildet Scham? Zusammenhänge von Scham und Bildungsprozessen von weiß-mehrheits-deutsch Positionierten bezüglich ihrer Involvierung in rassistische Verhältnisse. Berlin: Logos.

Mecheril, Paul (2008): „Kompetenzlosigkeitskompetenz“. Pädagogisches Handeln unter Einwanderungsbedingungen. In: Georg Auernheimer (Hg.): Interkulturelle Kompetenz und pädagogische Professionalität. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 15–34.

Mecheril, Paul (Hg.) (2014): Subjektbildung. Interdisziplinäre Analysen der Migrationsgesellschaft. Bielefeld: transcript.

Parker, Pat (1999): Movement in black. Expanded ed. Ithaca, NY: Firebrand Books.

Pinkert, Ute (2017): Sich zu den Vorannahmen der eigenen Wissensproduktion zurückbeugen Kritik innerhalb einer reflexiven Theaterpädagogik. In: Max Fuchs und Tom Braun (Hg.): Kritische Kulturpädagogik. Gesellschaft - Bildung - Kultur. München: kopaed.

Wimmer, Michael (2002): Zerfall des Allgemeinen – Wiederkehr des Singulären. Pädagogische Professionalität und der Wert des Wissens. In: Arno Combe und Werner Helsper (Hg.): Pädagogische Professionalität. Untersuchungen zum Typus pädagogischen Handelns. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 404–446.

Anmerkungen

Eine kürzere Version dieses Texts erschien unter dem Titel „Spannungsverhältnisse. Theaterpädagogische Professionalität im Kontext von Diversität" in: Driemel, Ina/Kup, Johannes (2024): Zeitschrift Schultheater, Nr. 57: theater*divers, Friedrich Verlag. Siehe: https://www.friedrich-verlag.de/shop/theater-divers-545057.

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Thomas Blum (2024): Kompetenzlosigkeitskompetenz als Perspektive einer diversitätssensiblen Theaterpädagogik. In: KULTURELLE BILDUNG ONLINE: https://www.kubi-online.de/index.php/artikel/kompetenzlosigkeitskompetenz-perspektive-einer-diversitaetssensiblen-theaterpaedagogik (letzter Zugriff am 16.07.2024).

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