„Ich sehe was, was du nicht siehst“ – Kunstpädagogik, Kulturelle Bildung und Inklusion

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von Stefanie Marr

Erscheinungsjahr: 2016

Peer Reviewed

Der originäre Gegenstand der kunstpädagogischen Praxis ist das Bild (vgl. Grünewald 2009:14). Kernaufgabe des Kunstunterrichts ist, die SchülerInnen zu befähigen, sich in der Welt der Bilder orientieren und mit Bildern umgehen zu können (vgl. Seydel 2008:210). Durch den im Kurs angeregten Bildumgang sollen sich die Lernenden bilden. Die angestrebte Bildungswirkung erfordert, dass sich in der pädagogischen Praxis nicht beschränkt werden darf auf die mechanische Vermittlung von Fähigkeiten zur Bildherstellung noch auf die rezeptartige Vermittlung von Wissen über Bilder (vgl. Bering u.a. 2004:100). Vielmehr müssen bildliche Darstellungen von den Menschen als Mittel erfahren werden, um sich Lebenswirklichkeit aneignen und gestalten zu können (vgl. Marr 2003). Bilder müssen als Medien erkannt werden, mit deren Hilfe man sich sein eigenes Bild von sich und der Wirklichkeit machen – bilden kann.

Eigenart als Chance

Was unter Bildhandeln als eine Form lebensweltlicher Praxis zu verstehen ist (vgl. Sowa 2000:8), lässt sich an der Kinderzeichnung eines 5-jährigen Mädchens ablesen (Abb.1).

 

Abb. 1 Kinderzeichnung aus dem Archiv der Autorin

Als ihre Mutter beruflich ein paar Tage unterwegs war, hat sie für sich und ihren Vater einen Merkzettel gezeichnet. Auf diesem hat sie abgebildet, an was sie denken muss, bevor sie ins Bett geht: Mama anrufen, waschen, duschen und Zähne putzen, eine frische Unterhose anziehen, auf Toilette gehen und von Papa ins Bett bringen lassen. In ihrer Zeichnung hat das Mädchen ihre Gedanken dargestellt. Sie hat ihre Situation für sich geklärt. Beim Betrachten gewinnen wir – über das Dargestellte hinaus – Einblicke in die Lebenswirklichkeit des Mädchens u.a. über die in der Familie herschenden Rituale, Erziehungsvorstellungen und Rollenbilder.

Das Mädchen hat ihren Eindrücken in ihrem Bild einen eindeutigen Ausdruck verliehen. Dies gelang ihr, obwohl sie – ihrem Alter und Entwicklungsstand entsprechend – beim Zeichnen nur auf ein sehr begrenztes Abbildungs- und Ausführungswissen zurückgreifen konnte. Obgleich das Mädchen weder eine körperhaft-plastische noch eine räumliche Illusion auf ihrem Zeichenblatt mittels bildnerischer Mittel erzeugt hat, können wir ihr Bild ohne Weiteres lesen. Und wenngleich ihre Darstellung – gemessen an der abbildgetreuen Wiedergabe der Wirklichkeit – ungenau und unvollständig ist, zum Beispiel fehlen den abgebildeten Personen Körperteile, verstehen wir zweifelsfrei, was das Mädchen für sich klären, darstellen und mitteilen wollte. Es ist offensichtlich, dass das hier getätigte Bildhandeln für das Mädchen eine bedeutende Form lebensweltlicher Praxis darstellt hat, die ihm geholfen hat, sich in ihrer Welt zu orientieren und zu verorten.

Keine Unterschiede mit Folgen

Bildumgang trägt allerdings nicht voraussetzungslos zur Bildung der Gestaltenden bei. Bildender Bildumgang stellt Ansprüche. Diese werden in der schulischen und außerschulischen kunstpädagogischen Regelpraxis nur selten erfüllt. Kunstunterricht bleibt sehr oft, immer wieder und schon sehr lange unter seinem bildenden Potenzial.

"Und dann hat unsere Lehrerin gesagt: “Heute malen wir einen Vulkanausbruch bei Nacht.” Ina fragte, wie denn ein Vulkan aussähe. Das sei ein großer Berg und oben sprühe das leuchtende Feuer und die Lava heraus. Also haben wir alle so einen großen Berg gemalt, mit Feuer drauf. Achtundzwanzig mal hing er dann an der Wand. Ich wußte kaum noch, welcher meiner gewesen war. Die Bilder, die ich von Vulkanausbrüchen kenne, sehen jedenfalls anders aus als die, die wir malen mussten (Andreas 12 Jahre, zitiert in Kämpf-Jansen 1998: 222).“

"Und dann hat unsere Lehrerin gesagt: “Heute malen wir einen Baum im Herbst”, und sie sagte noch, dass er formatfüllend sein soll. Das sagt sie immer ... Ich hatte ... keine Lust, tausend bunte Blätter an den Baum zu malen, und habe also beschlossen, dass die meisten bereits vom Wind runtergeweht sind. Ich habe dann das Bild bald abgegeben. “Willst du nicht noch was dazu malen?” hat die Lehrerin gefragt, “es ist noch so viel Platz auf deinem Bild. Mal doch einen Vogel”. Ich hatte keine Lust auf den Vogel und habe ihn dann irgendwie so hingefummelt. Er sah ziemlich mickrig aus. Die Lehrerin aber meinte: “Schön, schön.” (Axel 12 Jahre, zitiert in Kämpf-Jansen 1998:221).“

Betrachtet man die Arbeiten aus der kunstpädagogischen Praxis, die in Internetportalen abgebildet oder in den Fluren und Klassenräumen nebeneinander aufgehängt sind, dann vermittelt sich nicht, dass die kunstpädagogische Regelpraxis „an der Weiterentwicklung der individuellen Wahrnehmungs- und Gestaltungsfähigkeiten, der Vorstellungs- und Ausdruckskräfte“ der Lernenden beteiligt ist und sie durch einen „sensiblen, schöpferischen und reflektierten Bildgebrauch“ befähigt, „Kultur selbst mitzugestalten“ (www.bdk-online:2012). Ins Auge sticht vielmehr die Ansammlung des Immer-Gleichen (vgl. Kettel 1998:7). Überall und von jedem müssen seit Jahrzehnten die immer gleichen Aufgaben auf dieselbe Art gelöst werden. Schon in den 1980er-Jahren haben Heranwachsende Gemüse oder Schuhe naturalistisch gezeichnet. Bereits damals haben die Lernenden mit Scriptol Wunderwesen dargestellt. Und auch Straßenfluchten in Zentralperspektive sind schon in den 1980er-Jahren im Kunstunterricht entstanden. Werden die Ergebnisse betrachtet, dann ist offensichtlich: Die Verschiedenheit des Ein- und Ausdrucks ist kein wesentliches Merkmal kunstpädagogischer Praxis. Eine eigenständige Wirklichkeitswahrnehmung der TeilnehmerInnen lässt sich an den Unterrichtsergebnissen häufig nicht ablesen. Nach individuellem Ausdruck sucht man vergebens. Schülerarbeiten haben seit Jahrzehnten ein Gesicht (vgl. Kämpf-Jansen 2000:83).

Die Haltung, das Eigensinnige in kulturellen Bildungsprozessen auszuschließen, ist folgenschwer. Der Prozess der Gestaltung verkümmert zum Diktat. Im Gestaltungsprozess wird der Schüler zum Ausführungsorgan der Vorstellungen der Lehrperson degradiert: Sagen sie mir, was ich tun soll, und ich tue es (vgl.Stielow 2004:148). Da das Vorstellungsbild der Lehrperson von den Schülern in ihren Darstellungen schlicht nachbuchstabiert wird, sind die Arbeiten aussagearm. Allein Offensichtliches wird wiedergegeben (vgl. Bertram 2008:347). Von Bildhandeln als eine Form lebensweltlicher Praxis kann hier nicht gesprochen werden. Selbstbildung findet nicht statt. Bedenklich ist darüber hinaus, dass sich bei einem solchen Unterrichtsvorgehen ein persönlicher „handschriftlicher“ Duktus des Gestaltens (vgl. Reiß 1996:17) vorangig bei Nicht-Vermögen zeigt. Nur wenn die Lernenden den Anleitungen aufgrund mangelnder Fähigkeiten – welcher Art auch immer – nicht folgen können, findet Eigenart ihren Ausdruck. Feinmotorische Ungeschicklichkeit oder fehlende Konzentration führen dann beispielsweise dazu, dass ein Kreis eher wie eine „Pflaume“ aussieht, Linien übermalt werden oder Details fehlen.

Das sich in Kinderzeichnungen spiegelnde Andersartige erfreut – zumindest zunächst. (Erinnern sie sich z.B. an die Gefühle und Gedanken, die das Merkbild des fünfjährigen Mädchens (Abb. 1) in Ihnen hervorgerufen hat.) Die Freude über eigentümliche Gestaltungen ist allerdings nicht von Dauer. Zeigen sich Abweichungen von der von der Lehrperson erwarteten Form in einem fortgeschrittenen Alter, lösen diese andere Gefühle aus. Ins Auge sticht jetzt nicht mehr die Eigenart sondern im Fokus steht das „Noch-Nicht“. Wahrgenommen wird jetzt, dass – im Vergleich mit den anderen Kindern – die Zeichnerin oder der Zeichner mit ihrer Darstellung außerhalb der Norm liegt. Die Abweichungen werden nun als Defizit gelesen und von daher negativ bewertet.

Werden z.B. die Ergebnisse zum Thema „Mit bunten Schirmen raus in den Schnee“ betrachtet (Abbildungen siehe http://www.grundschule-lunestedt.de/print.php?page=1818567085&f=1 / Schuljahr 2008/2009), fällt auf, dass das Kind, welches die obere linke Zeichnung gemacht hat, die Aufgabenstellung weniger gut bewältigt hat als seine KlassenkameradInnen. Seine Darstellung des Körpers wirkt im Vergleich mit den Arbeiten der anderen Kinder weniger weit entwickelt. Die dargestellten Beine sind nur Striche. Es fehlt ihnen an Volumen. Die Arme wurden nur als Flächen angedeutet. Als bewegliche und bewegte Körperteile überzeugen sie im Bild nicht. Irritiert ist man auch über die Größe des Schirms. Ist er nicht viel zu klein geraten und wo ist eigentlich der Stock? Des Weiteren verunsichert die Betrachterin und den Betrachter, dass das Kind seine Figur nicht formatfüllend ins Bild gesetzt hat. Könnte das nicht ein Zeichen sein für ...? In Fragen wie diesen spiegelt sich, dass Abweichungen ab einem gewissen Alter als Defizit gelesen und negativ bewertet werden. Eigenständig gefundene, aber nicht dem erwarteten Ergebnis entsprechende Lösungen verlieren jetzt ihren Reiz. Ihre Ungleichheit stellt nun einen Mangel dar.

Da die meisten Erwachsenen von einem Darstellungsverständnis ausgehen, welches das Ziel in einer linear fortschreitenden Entwicklung sieht – von der „primitiven“ schematischen zur „gekonnt“ naturalistischen Darstellung – , kann davon ausgegangen werden, dass Zeichnungen von Erwachsenen genutzt werden, um festzustellen, wo das Kind in seiner Entwicklung steht. Anhand des Dargestellten wird überprüft, ob es in der Norm liegt oder aber von ihr abweicht. Nur bei den Arbeiten „besonderer Kinder“ wird wohl – wie bei jüngeren Kindern auch – „Narrenfreiheit“ gewährt. Eigenartige Vielfalt wird gestattet, „können es doch diese Kinder einfach nicht besser“.

In den bisher dargestellten Unterrichtsergebnissen spiegelt sich die Auffassung der Erwachsenen von Gestaltung als Produktion. In dem Prozess werden die Kinder zu Malmaschinen zur Herstellung von bestimmten vorherdefinierten Bildern degradiert. Das einzelne Kind ist in diesem Vorgehen austauschbar. Seine Wahrnehmungen, Erfahrungen und Fragen spielen keine Rolle. Anstatt Kinder in der pädagogischen Praxis nacheinander isolierte Tätigkeiten ausführen zu lassen („Holt eure Scheren, schneidet aus dem Papier jene Form aus und klebt sie dann auf die zuvor bemalte Pappe“), sollten Heranwachsende in der kunstpädagogischen Praxis Gestaltung als das kennen lernen, was es ist: eine Weise der Weltaneignung und Weltgestaltung. Wesentlich ist, dass sie erfahren, dass sich in der Gestaltung ihr Entwurf der Welt und des Selbst zeigt.

Es ist normal, verschieden zu sein

Dass sich in künstlerischen Arbeiten gerade die Verschiedenheit der Entwürfe als bereichernde Vielfalt zeigen kann, möchte ich nun anhand von zwei Fotoserien verdeutlichen. Die Arbeiten, auf die ich zurückgreife, wurden beim Deutschen Jugendfotopreis 2010 eingereicht und prämiert. Die erste Serie hat eine Gruppe von zehnjährigen Mädchen und Jungen in einem Jugendtreff in Böblingen hergestellt (Abbildungen siehe http://www.jugendfotopreis.de/bilderberg/bestof2010/show.php?id=501 / Gruppe A: 1. Preis). In der Serie zeigen sie, wo und wie sie leben. Die Fotos sind im Außengelände ihrer Siedlung entstanden. Es gibt Nahaufnahmen und Totalen. Die Kinder haben ihre Lebenswelt aus der Normal-, Vogel- und Froschperspektive fotografiert. Auf den Abbildungen ist Winter. Am Boden sind Schneereste zu sehen. Der Himmel ist grau. Die Bäume sind kahl. Bettwäsche hängt auf der Leine. In der Gartenanlage toben sich die Kinder aus. Sie spielen mit dem, was da ist. Sie klettern einen Ballfangzaun hoch. Sie fotografieren sich stehend in einem alten Plastikkorb. Sie haben Spaß. Die Farben der Fotografien sind gedeckt. Zu den Bildern und dem Herstellungsprozess wurden die Kinder interviewt. Sie haben sich wie folgt geäußert:

Wie seid ihr auf die Idee zu eurer Serie gekommen und um was geht es euch dabei?
DIRK: Der Robert hat uns gefragt, ob wir Bilder machen wollen, wie wir hier leben und so. Und wir ham dann alle mitgemacht.
Wie sind die Bilder entstanden? Welche Technik habt ihr benutzt?
ARSIM: Wir hatten zwei so richtig gute Kameras und haben uns mim Fotos Machen abgewechselt. Da war auch ein richtiger Fotograf dabei, der hat uns so gezeigt, wo man drücken muss und wie man die Kamera einstellt und gute Bilder macht. Des ging immer so eins bis zwei Stunden jeden Tag.
DIRK: Der Fotograf hat uns am Anfang was gezeigt und dann durften wir selber machen. Dann hat er uns gezeigt, was man besser machen kann. Ich hab viele Fotos gemacht, wo die so alle aufs Tor geschossen ham.
TONI: Des ging so n paar Tage, ich war aber nur an einem da, da ham wir auch noch gekickt. Die scheiße war nur, dass da Winter war. S war so arschkalt. Am ersten Tag warn nur Jungs da, dann aber auch Mädchen.
Warum habt ihr euch dafür entschieden, genau diese Bilder einzusenden? Was fasziniert euch an ihnen?
DIRK: N paar haben wir ausgesucht, weil wir da drauf sind. Und n Bild, wo wir alle drauf sind.
ARSIM: Wir durften aber auch welche aussuchen, die wir dann mit heim nehmen durften.
Seit wann fotografiert ihr? Und wie seid ihr zur Fotografie gekommen?
ARSIM: Ich hab da des erste Mal Fotos gemacht. Jetzt mach ich manchmal Bilder mim Handy.
DIRK: Des war des erste Mal mit so ner guten Kamera, sonst mach ich mim Handy Bilder.
TONI: Ich hab schon mal mim Fotoapparat von meinem Vater Bilder gemacht. Also so versucht.
Wo und wem zeigt ihr eure Bilder? Habt ihr eine Online-Galerie?
ARSIM und DIRK: Wenn die Bilder so ganz gut sind, dann stellen die so auf facebook oder kwick, und schülerVZ. Und im casa.
Welche persönliche Bedeutung hat die Fotografie für euch?
ARSIM: Ich mach Fotos zum Spaß und des Fotoprojekt hat auch voll Spaß gemacht und ich hab da auch schon so was gelernt mit Bilder Machen.
DIRK: Des macht Spaß, man kann die Freunden zeigen. Ich mach jetzt mehr Fotos als früher.
(Deutscher Jugendfotopreis 2010b)

Die zweite prämierte Serie stammt von einem Jungen aus Leipzig. Für den Wettbewerb hat er zum Ende seiner Grundschulzeit seine KlassenkameradInnen fotografiert. Alle MitschülerInnen hat er an ihren Lieblingsorten abgebildet. Auf einem Foto sehen wir ein Mädchen, das mit offenen Haaren in einem wallenden Blumenkleid Klavier spielt. Auf einem anderen Bild ist ein Junge im Schwimmbad in kerzengerader Haltung und mit ernstem Blick auf dem Einmeterbrett zu sehen. (http://www.jugendfotopreis.de/bilderberg/bestof2010/show.php?id=529 Gruppe B: 1. Preis). Auch er wurde zu seiner Arbeit interviewt. Er hat sich wie folgt geäußert.

Wie bist du auf die Idee zu deiner Serie gekommen und um was geht es dir dabei?
Am Ende der Grundschulzeit wollte ich eine Erinnerung an meine Mitschüler haben. Als ich das Porträtbuch „EXCHANGE“ von Valentina Seidel sah, hatte ich die Idee.
Wie sind die Bilder entstanden? Welche Technik hast du benutzt?
Ich hab mich mit den Kindern an ihren Lieblingsorten verabredet, um sie ungefähr 1-2 Stunden zu fotografieren. Das war in Leipzig und auch weiter weg.
Dabei benutzte ich die Kamera meiner Mutter, ein Stativ und einen Aufheller. Bei den ersten zwei Bildern hat mir meine Mutter mit der Technik geholfen, dann hat sie mir nur noch den Aufheller gehalten und auf ihre Kamera aufgepasst.
War es leicht, deine Mitschüler für das Projekt zu gewinnen?
Ja!
Warum hast du dich dafür entschieden, genau diese Bilder einzusenden? Was fasziniert dich an ihnen?
Weil ich 8 Monate fast jede Woche 1 Kind fotografiert habe, wollte ich diese Arbeit zeigen. Die Bilder erzählen viel über meine Mitschüler.
Seit wann fotografierst du? Und wie bist du zur Fotografie gekommen?
Mit 6 Jahren begann ich zu fotografieren, weil ich auch Lust hatte zu fotografieren, wie meine Eltern, die Künstler sind.
Wo und wem zeigst du deine Bilder? Hast du eine Online-Galerie?
Einmal gewann ich auch den Kinder- und Jugendkunstpreis Leipzig und stellte im Museum der Bildenden Künste Leipzig aus.
(Deutscher Jugendfotopreis 2010a)

Beide Preisträger sind durch ihr Umfeld geprägt. Sie lassen sich durch das Was abgebildet ist und wie es dargestellt und kommentiert wurde bestimmten gesellschaftlichen Gruppen zuordnen. Während die Böblinger Kinder aus einem sozial benachteiligten Umfeld kommen, ist der Junge aus Leipzig dem Bildungsbürgertum zuzuordnen. An den Bildern und an den Äußerungen der beiden Preisträger lässt sich in vielerlei Hinsicht eine Verschiedenheit ihrer Lebensbedingungen ablesen. Es liegt auf der Hand, dass diese Verschiedenheit beiden Parteien nicht die selben Chancen für eine gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben eröffnet. Im Alltag werden wohl die Besonderheiten der Kinder aus Böblingen in der Regel wenig Wertschätzung erfahren.

Obwohl die sich in den Bildern und in den Äußerungen spiegelnden Lebensumstände in unserer Gesellschaft auf Misserfolg schließen lassen, haben die Kinder des Jugendtreffs aus Böblingen beim Deutschen Jugendfotowettbewerb im Jahr 2010 gewonnen. Ihre Unbekümmertheit im Umgang mit dem Fotoapparat – ohne Wissen, was gefordert ist, das zu tun, was ihnen einfällt – stellte ihr kulturelles Kapital dar. Unterscheidet sich dieses auch von dem des Leipziger Jungen, – dieser ist durch sein Elternhaus im Bildumgang geschult und wird von seiner Mutter bei der Durchführung seines Fotoprojekts unterstützt –, spielt das hinsichtlich der Güte der hier besprochenen Bildergebnisse keine Rolle. Die Bildserien sind andersartig, aber in ihrer Qualität gleichwertig. Dass in der Kulturellen Bildung die AutorInnen selbst letztlich nebensächlich sind, schließlich zählt am Ende nur das Produkt, stellt eine Chance dar. Eigenart kann Wertschätzung erfahren. Dafür müssen allerdings vorhandene Barrieren erfasst werden. Während der Junge aus Leipzig im Jahr 2013 zum zweiten Mal den Deutschen Jugendfotopreis gewonnen hat, hat man von Toni, Arsim und Dirk nach ihrem Erfolg nie wieder etwas gehört. Auf die Dauer üben wohl die in einem Stadtteil wirkenden unausgesprochenen Werte und Haltungen eine sehr viel größere Wirkung aus als ein vereinzelter erzieherischer Eingriff der Kulturellen Bildung.

Wenigstens die ganz normale Vielfalt

An dieser Stelle fasse ich die bisherigen Ergebnisse zusammen. In den Angeboten der Kulturellen Bildung geht es den Ansprüchen der Theorie zufolge nicht darum, dass Menschen malen oder zeichnen, sondern zentral ist, was sie malen oder zeichnen. Von den TeilnehmerInnen ist gefordert, ihren individuellen Eindrücken im Bild Ausdruck zu verleihen. Von ihnen wird erwartet, dass sich ihre Verschiedenheit in ihren künstlerischen Arbeiten spiegelt. Individuelle Unterschiede werden demnach als Ressource betrachtet. Sie erlauben den einzelnen Menschen aus unterschiedlichen Perspektiven und mit andersgearteten Fähigkeiten, Stellung zu beziehen. Beim Betrachten der einzelnen Ergebnisse wird der Blick aller auf die Welt um die persönliche Perspektive der anderen TeilnehmerInnen erweitert. Es liegt auf der Hand, dass, damit diese Wirkung erzielt wird, auf Seiten der TeilnehmerInnen zumindest bestimmte Grundfähigkeiten voraussetzt werden müssen.

Können sich die Aneignungs- und Gestaltungsprozesse auch bezüglich ihres Reflexionsniveaus unterscheiden, so ist es außerordentlich wichtig darauf hinzuweisen, dass es sich bei den Angeboten der Kulturellen Bildung weder um ein Ausbildungstraining für bestimmte Fähigkeiten noch um eine Beschäftigungs- oder Unterhaltungsmaßnahme handelt. Kulturelle Bildung ist ein Bildungsangebot. Damit es seinem theoretischen Anspruch gegnügt, muss es qualitativ hochwertig sein (vgl. Bamford 2007: 58). Die dafür erforderlichen Standards zu erfüllen, gelingt der kunstpädagogischen Praxis seit Jahrzehnten nur in Einzelfällen. Regelfall in der Bildungslandschaft von Kita und Schule ist auch heute, 25 Kinder auf engstem Raum unter Anleitung von fachfremden Personal nach Vorlagen oder Vorgaben malen oder Mandalas und Perlentiere herstellen zu lassen. Das heißt, unabhängig von der Frage nach Inklusion, hat die Kulturelle Bildung – zumindest in formalen Bildungskontexten - ein massives Umsetzungsproblem. Dieses gilt es zu lösen. Würde es gelöst, so vermute ich, wäre die Frage nach Inklusion in der Kulturellen Bildung keine drängende Fragestellung mehr. Denn in qualitativ hochwertigen Angeboten Kultureller Bildung wird ohnehin Vielfalt als Ressource und werden individuelle Unterschiede sowieso als Kapital verstanden.

Literatur

Bamford, Anne (2007): Bildbereit - Die Bedeutung visueller Bildung. In: Niehoff, Rolf/Wenrich, Rainer (Hrsg.): Denken und Lernen mit Bildern / Interdisziplinäre Zugänge zur Ästhetischen Bildung (56-80). München: kopaed.

Bertram, Ursula (2008): Navigieren im offenen System. In: Busse, Klaus-Peter/Pazzini, Karl-Josef (Hrsg.): (Un)vorhersehbares Lernen: Kunst – Kultur – Bild (342-361). Dortmund: books on demand.

Bering, Kunibert/Heimann, Ulrich/Littke, Joachim/Niehoff, Rolf/Rooch, Alarich (2004): Kunstdidaktik. Oberhausen: Athena.

Deutscher Jugendfotopreis (2010a) (Interview). Online verfügbar unter: http://www.jugendfotopreis.de/bilderberg/bestof2010/show.php?id=501, (letzter Zugriff am 8.9.2016).

Deutscher Jugendfotopreis (2010b) (Interview). Online verfügbar unter:http://www.jugendfotopreis.de/bilderberg/bestof2010/show.php?id=529, (letzter Zugriff am 8.9.2016).

Grünewald, Dietrich (2009): Orientierung Bild. In: Kunst und Unterricht 334/335, 14-21.

Kämpf-Jansen, Helga (1998): Von der Last kunstpädagogischer Wirklichkeit und der Lust einer Kunstpädagogik von morgen. In: Richter, Heidi/Sievert-Staudte, Adelheid (Hrsg): Eine Tulpe ist eine Tulpe ist eine Tulpe. Frauen, Kunst und Neue Medien (222-228). Königstein: Helmer.

Kämpf-Jansen, Helga (2000): Ästhetische Forschung. Aspekte eines innovativen Konzeptes ästhetischer Bildung (83-114). Köln: Salon.

Kettel, Joachim (1998): Zur Gewaltförmigkeit des Kunstunterrichts. In: BDK Mitteilungen 1/1998, 5-9.

Marr, Stefanie (2003): Lebenskunstunterricht / Bildliche Aneignung und Gestaltung von Lebenswirklichkeit in der Kindheit. Siegen: Universität.

Marr, Stefanie (2014). Kunstpädagogik in der Praxis – Wie ist wirksame Kunstvermittlung möglich? Bielefeld: transcript.

Marr, Stefanie (2015): Tischgesellschaft 2. Guter Kunstunterricht: Wie geht das? Oberhausen: Athena.

Marr, Stefanie (2016): Staub aufwirbeln – Eine Anleitung zum Zeichnen lehren. Oberhausen: Athena.

Reiß, Wolfgang (1996): Kinderzeichnungen / Wege zum Kind durch seine Zeichnung. Neuwied, Kriftel und Berlin: Hermann Luchterhand.

Seydel, Fritz (2008): Sich in der Welt der Bilder orientieren – mit Bildern umgehen/ Zu einer Kernaufgabe des Kunstunterrichts. In: Billmayer, Franz (Hrsg.): Angeboten – Was die Kunstpädagogik leisten kann (210-213). München: kopaed.

Sowa, Hubert (2000): Ausstellen, Lagern, Erinnern. In: Kunst und Unterricht 246/247. 8-21.

Stielow, Raimar (2004): Zäsur 2003/2004 und was kommt dann? Hoffentlich eine längst überfällige fachdidaktische Diskussion. In: Kirschenmann, Johannes/Wenrich, Rainer/Zacharias, Wolfgang (Hrsg.): Kunstpädagogisches Generationengespräch(145-152) . München: kopaed.

www.bdk-online (2012): Ziele. Abrufbar unter: www.bdk-online.info/der-bdk/ziele (letzter Zugriff am 8.9.2016)

www.grundschule-lunestedt.de/print.php?page=1818567085&f=1

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Stefanie Marr (2016): „Ich sehe was, was du nicht siehst“ – Kunstpädagogik, Kulturelle Bildung und Inklusion. In: KULTURELLE BILDUNG ONLINE: https://www.kubi-online.de/artikel/ich-sehe-was-was-du-nicht-siehst-kunstpaedagogik-kulturelle-bildung-inklusion (letzter Zugriff am 14.09.2021).

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