Concept In Progress: (Post-)Digitale Transformationsprozesse in Jugendkunstschulen
Abstract
Jugendkunstschulen sind als intermediales Einrichtungskonzept angetreten – mit der konzeptionellen Pflicht zur permanenten Offenheit, Erneuerung und Selbsthinterfragung. Die unter dem Schlagwort Digitalität zusammengefassten tiefgreifenden gesellschaftlichen, sozialen und ästhetischen Veränderungen stellen die Jugendkunstschulen einerseits vor neue konzeptionelle Herausforderungen. Andererseits bergen diese auch ein enormes Entwicklungspotenzial.
Ohne einen Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben, versucht der Beitrag, diese Veränderungs- oder Transformationstendenzen auf drei verschiedene Dimensionen herunterzubrechen: erstens die Programm- und Angebotsebene, zweitens den Betrieb und drittens die kommunikativen Praktiken der Jugendkunstschularbeit. Den komplexen transformatorischen Dimensionen auf der Programm- und Angebotsebene nähert sich der Text anhand zahlreicher Beispiele mit Blick auf Konzeption und Methodik, Inhalt und Ästhetik sowie neue spartenspezifische oder -übergreifende Angebotsbereiche der kulturpädagogischen Praxis. Je nach Setting werden digitale Medien als Werkzeuge der kulturpädagogischen Praxis eingesetzt, Schnittstellen zur Medienpädagogik in reflexiven ästhetischen (Medien-)Räumen aufgemacht oder programmatische Innovationen und neue Angebote entwickelt.
Jugendkunstschule: Ein intermediales Einrichtungskonzept zwischen Anspruchsüberfrachtung und Verausgabung?
Das Konzept Jugendkunstschule wurde 1967 mit der „Denkschrift Jugendkunstschule“ in die Bildungsreformdiskussion eingeführt. Außerschulische musisch-kulturelle Jugendbildung müsse zur Chancengleichheit beitragen und für alle Gesellschaftsschichten zugänglich sein: „Nicht zuletzt zwingt die Jugendkunstschule durch ihre Existenz die traditionellen Einrichtungen musisch-kultureller Jugendbildung (…) ihre bisherigen Konzepte hinsichtlich ihrer gesellschaftlichen Relevanz zu überprüfen“ (Erhart, Preise-Seithe, Raske 1980: 15). Jugendkunstschulen wollten „der Konsumideologie entgegentreten und den aktiven, eigenschöpferischen Umgang mit Kunst und Kultur fördern“ (ebd.: 16). Jugendkunstschulen wollten alles für alle: alle Künste unter interdisziplinärer Bezugnahme aufeinander in Kursen, Projekten und offenen Angeboten und für alle Kinder und Jugendlichen unter einem Dach verlässlich vorhalten, vernetzende Knotenpunkte im kulturpädagogischen Netzwerk sein, dabei aber flexibel bleiben, an den Lebenswelten und Sozialräumen der Kinder und Jugendlichen orientiert neue Impulse aus Kunst, Gesellschaft und Populärkultur aufnehmend als kreative Anwält*innen für Kinder und Jugendliche deren Interessen, Sichtweisen und Ideen in der Stadtgesellschaft und auf dem Lande sicht- und hörbar machen. „Das Mehrspartenkonzept mit Einzelakzentuierungen und intermediärer, interdisziplinärer Kooperation schon im eigenen Haus hat sich bewährt: Kooperation und Vernetzung, Cross-over und integrative Ansätze, Intermedialität und ästhetische Konvergenz sind so aktuell wie nie zuvor. Permanente Profilsuche ist unser Motor […]“ (Wolfgang Zacharias in: infodienst 2008: 16).
„Jugendkunstschule“, so hat es Max Fuchs noch 2008 aus Anlass von 25 Jahren bjke bilanziert – „sind kulturpädagogische Labore für die Zukunft von Bildung“. Spätestens hieran lässt sich der paradoxe Anspruch permanenter Erneuerung greifen, der für die Jugendkunstschulen – wohl mehr als für jeden anderen Einrichtungstyp – zutrifft.
Als es aber darum ging, Strukturen zu schaffen und zu sichern, mussten Standards definiert werden: Qualitätsstandards, Förderkriterien, Vergleichsmaßstäbe, Kennzahlen. Trotz teilweise beachtlicher Strukturerfolge etwa in Nordrhein-Westfalen, Berlin, Thüringen, Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Mecklenburg-Vorpommern sind die vorhandenen Einrichtungen größtenteils unzulänglich ausgestattet und ungenügend abgesichert: Während für das gesamte Bundesgebiet zwar von der belastbaren und ohnehin schon niedrigen Zahl von 1,2 festen (Vollzeit-)Stellen pro Einrichtung ausgegangen werden kann, ist die Abweichung von diesem Durchschnitt in Form von ehrenamtlicher Leitung bzw. Honorar- oder Teilzeitstelle oftmals prägender Alltag vor Ort, während die Ansprüche und Aufgaben stetig steigen. Große Aufgaben lasten auf schmalen Schultern. Für die wichtigen Querschnittsaufgaben, wie z.B. Schulkooperationen, ästhetische Frühbildung, Prävention, Diversität, Nachhaltigkeit, Inklusion oder Digitalität, gibt es in der Regel kein zusätzliches festangestelltes Personal (vgl. Kelb 2020: 13ff).
Jugendkunstschulen in einer von digitalen Medien geprägten Welt
Ein intermediales Einrichtungskonzept, das sich die konzeptionelle Pflicht zur permanenten Offenheit, Erneuerung und Selbsthinterfragung auferlegt, neigt erstens zur Anspruchsüberfrachtung; nicht selten um den Preis der Verausgabung. Zweitens ist es in einer von digitalen Medien geprägten Welt gefordert, diese mitzugestalten, Impulse aufzunehmen und vor dem Hintergrund dieser tiefgreifenden gesellschaftlichen, sozialen und ästhetischen Veränderungen das eigene kulturpädagogische Handlungskonzept zu reformulieren. Dieser Anspruch ist enorm und in der Praxis eigentlich kaum zu erfüllen.
Jugendkunstschulen müssen sich in einer Welt verändern, in der
- sich soziale, ästhetische und kulturelle Praktiken verändern;
- gesellschaftliche und politische Prozesse ohne digitale Technologien kaum noch denkbar sind und wo ein Internetzugang auch über kulturelle Teilhabe entscheidet;
- digitale Medien sozialisationsrelevant sind und ein kritischer, kompetenter Umgang mit ihnen Voraussetzung für gesellschaftliche Gestaltungsfähigkeit und für ein selbstbestimmtes Leben ist;
- sich einerseits kaum mehr überschaubare, spannende, kreative, soziale und internationale Experimentierfelder für die informelle und non-formale Kulturelle Bildung eröffnen und sich andererseits Schutzaufträge ins Digitale verlängern.
Ohne einen Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben, kann man versuchen, diese Veränderungs- oder Transformationstendenzen auf drei verschiedene Dimensionen herunterzubrechen: erstens die Programm- und Angebotsebene, zweitens den Betrieb und drittens die kommunikativen Praktiken der Jugendkunstschularbeit.
Dies bedeutet nicht, dass ‚klassische‘ Spartenangebote wie etwa Zeichenkurse, rein körperliche Tanzperformances oder analoge Fotografie-Workshops verschwinden. Jugendkunstschulen sollten in einer von digitalen Medien geprägten Welt auch weiterhin ablenkungsarme, handyfreie Räume bieten, als Ausgleich zum Dauerinput im Alltag. Im konzentrierten künstlerischen Schaffensprozess entwickeln die Teilnehmer*innen andere (auch motorische) Fähigkeiten (vgl. Lankau 2014: 15ff).
Transformatorische Dimensionen im Programmtableau und Methodenrepertoire
Den komplexen transformatorischen Dimensionen auf der Programm- und Angebotsebene kann man sich mit Blick auf Konzeption und Methodik, Inhalt und Ästhetik sowie neue spartenspezifische oder -übergreifende Angebotsbereiche der kulturpädagogischen Praxis nähern. Der Medieneinsatz selbst erscheint in den meisten Praxisfällen weniger als Motor denn als Verstärker von Prozessen, die wiederum eigene Ziele verfolgen. So soll der Einsatz bestimmter Medien zum Beispiel dazu beitragen, die Teilnahme bestimmter Personen oder Gruppenkonstellationen zu ermöglichen, mehr Verantwortung an die Teilnehmenden abzugeben oder von verschiedenen Orten aus zusammen arbeiten zu können.
Digitale Medien als Werkzeuge der kulturpädagogischen Praxis
Im Rahmen des Projekts „Transformers“ der Oldenburger Kunstschule waren Schüler*innen zum Beispiel aufgefordert, ihre Schule durch bildkünstlerische Interventionen zu verändern. Es gab ein überschaubares Set an Regeln und einen Fundus aus fünf Materialien (Bambus, Stoff, Kabelbinder, Draht und Klebeband). Die Lehrer*innen vor Ort und die lediglich über Tablets zugeschalteten Künstler*innen durften – so sahen es die Regeln vor – den Schüler*innen lediglich assistieren und nur auf Bitte der Schüler*innen aktiv werden. Wie die Schüler*innen ihre Schule mit den zur Verfügung gestellten Materialen umgestalteten, war ihre eigene Entscheidung, ebenso wie die Zeiträume, in denen sie arbeiteten, ob sie überhaupt arbeiteten und wann und wie sie Pausen machten. Im hierarchisch geprägten Raum Schule wurde die Gestaltungsmacht vollständig an die Teilnehmenden abgegeben. Entstanden sind dabei: Bänke, ein Tier für die Pausenhalle, ein Aufenthaltsraum, Skulpturen mit politischen Forderungen, Kunst am Bau. Gestützt durch digitale Kommunikationstechnologien wurden hier eine Projektstruktur und Rollenkonstellation geschaffen, in denen nahezu jede Entscheidung und alles Handeln im Rahmen der Projektzeit in Händen der Schüler*innen lagen, während die Projektarbeit in Präsenz und mit nicht-digitalen Materialien stattfand (Oldenburger Kunstschule 2021: 19ff).
Das mit dem Innovationspreis Soziokultur und dem BKM-Preis Kulturelle Bildung ausgezeichnete Tanztheater „KorresponDANSE 2“ hat digitale Datenträger und Kommunikationsmöglichkeiten genutzt, um die partizipative und gleichberechtigte Zusammenarbeit in einer bestimmten Gruppenkonstellation überhaupt erst zu ermöglichen. Auf Initiative der Kunstschule Offenburg in Zusammenarbeit mit der Compagnie Blicke, Straßburg, und dem Institut für deutsche Sprache EdS haben junge Menschen mit und ohne Fluchthintergrund eine gemeinsame Tanzperformance auf der „Passerelle des Deux Rives“ erarbeitet. Auf dieser „Brücke der zwei Ufer“, die die Städte Straßburg und Kehl verbindet, verläuft die Grenze zwischen Deutschland und Frankreich. Während der Aufführung werden einige Tänzer*innen diese Grenze immer wieder tanzend überschreiten, andere nicht. Diese Jugendlichen sind aus Nicht-Schengen-Staaten nach Frankreich oder Deutschland gekommen, haben eine Flucht aus einem Kriegsgebiet hinter sich, ihnen ist der Grenzübertritt nicht erlaubt. Diese Aufführung, die Zusammenarbeit dieser Gruppe junger Tänzer*innen, war nur dadurch möglich, dass Choreografien aufgenommen und hin- und hergeschickt wurden (vgl. Nierstheimer 2018: 16).
In beiden Projekten haben digitale Medien die Teilhabemöglichkeiten grundlegend verändert oder überhaupt erst ermöglicht, ohne dass Digitalität selbst Thema oder Medium gewesen ist. Beiden gemeinsam ist, dass der Medieneinsatz einherging mit einem hohen Partizipationsanspruch an die jungen Teilnehmenden, während die Fachkräfte eher die Rolle von Ermöglicher*innen oder Assistent*innen der künstlerischen Eigentätigkeit der Teilnehmenden einnahmen.
Über diese hier exemplarisch ausgeführten existieren in der Praxis zahlreiche weitere Anwendungspraktiken digitaler Möglichkeiten, die als Werkzeuge für die Ermöglichung kulturpädagogischer Praxis eingesetzt werden und die Reichweite von Projekten möglicherweise erweitern können. Hierzu zählen auch Internetplattformen, die als virtuelle, wachsende und/oder veränderbare Ausstellungsräume für Kinder- und Jugendkunst oder für museale Kulturvermittlung dauerhaft oder über einen längeren Zeitraum zur Verfügung stehen (vgl. Quartier 2022; Landesarbeitsgemeinschaft Kunst & Medien NRW e.V. 2020).
Reflexive ästhetische (Medien-) Räume und Schnittstellen zur Medienpädagogik
Andere Settings eröffnen reflexive, ästhetische Räume für eine (Jugend-)Kultur der Digitalität oder einzelner Aspekte derselben. Junge Menschen können hier relevante digitalitätsbezogene Themen bearbeiten, Haltungen entwickeln und hinterfragen, Positionen formulieren und eigene ästhetische Ausdrucksmöglichkeiten finden. Vorausgesetzt, die Fachkräfte erkennen die Wahrnehmungs- und Rezeptionsgewohnheiten, Themen und Vorlieben der Teilnehmenden an, sind bereit, sich mit diesen auseinanderzusetzen und neue Ästhetiken in der kulturpädagogischen Arbeit entstehen zu lassen.
Die eigentlich aus der Corona-Not geborene und mit dem Dieter-Baacke-Sonderpreis ausgezeichnete filmische Romeo-und-Julia-Adaption „Unter Druck“ des Krea-Jugendclubs der Kreativitätsschule Bergisch-Gladbach zum Beispiel behandelt u.a. das Thema Cybermobbing und spielt sich inhaltlich wie auch auf der Bildebene ausschließlich im digitalen Raum ab. Die Figuren haben ihre eigenen von den Teilnehmenden entwickelten Social-Media-Profile, sie treffen sich in Videokonferenzen, chatten, facetimen, tauschen Videos aus, nehmen (coronabedingt) am Tanztraining via Videokonferenz teil (gmk 2021). Andere Jugendkunstschulprogramme wie z.B. „BodyArt-Index“ des Kreativ-Haus Münster reflektieren und dekonstruieren medial vermittelte und inszenierte Körperbilder.
Medienpädagogik und andere Bereiche der kulturellen Kinder- und Jugendarbeit treten hier in produktive Austausch- und Überlappungsbereiche, die das Methodenrepertoire der Kulturellen Bildung insgesamt erweitern. Denn bestimmte Wirkmechanismen und Funktionsprinzipen von Big-Data-basierten Technologien können in den tradierten Kunst-Sparten wie auch im (analogen) Spiel genutzt, verfremdet, reflektiert und dekonstruiert werden.
Jugendkunstschulansätze, die Big Data und künstliche Intelligenz kreativ erforschen, reflektieren und in neue Kontexte setzen, sind in der Praxis jedoch noch nicht breit verankert. Das JFC-Medienzentrum hat z.B. in Zusammenarbeit mit der Akademie der Kulturellen Bildung in Remscheid und der Bundeszentrale für Politische Bildung im Rahmen des Projekts „BIG DATA. Medienkritik 4.0 – Mehr Methoden für die Jugendmedienarbeit“ spannende und für Jugendkunstschulen und andere Einrichtungen der Kulturellen Bildung anschlussfähige Methoden und Medien entwickelt, gesammelt und öffentlich zugänglich gemacht. Diese umfassen z.B. Plan- und Rollenspiele, Mitmachgeschichten, Brettspiele, Infomaterialien, Filmtipps und Links (vgl. jfc Medienzentrum 2018).
Die Bildende Künstlerin Johanna Reich etwa hat in Face Detection einen Tonklumpen solange bearbeitet, bis eine Handy-Kamera diesen als „Gesicht“ erkannt hat. Adam Harvey wiederum hat für „CV Dazzle“ seine Modelle so geschminkt und frisiert, dass sie von einem bestimmten Gesichtserkennungsalgorithmus nicht als menschliche Gesichter erkannt wurden. Er kann dies tun, weil er weiß, welche Bereiche des menschlichen Gesichts für die Gesichtserkennungssoftware entscheidungsrelevant sind, macht diese mit „CV Dazzle“ gleichzeitig sichtbar und stellt sie infrage (vgl. Kuhn 2020: 22).
Programmatische Innovationen und neue Angebote
Digitale Transformationsprozesse erweitern nicht nur das konzeptionell-methodische und inhaltliche Repertoire der Kinder- und Jugendbildung, es treten außerdem ästhetische Ausdrucksformen innerhalb aller Kunstsparten sowie eigenständige Angebote etwa aus den Bereichen Gaming, Making und Coding oder medienkünstlerische und medienpädagogisch orientierte Programmsettings hinzu. Akki e.V. lädt z.B. schon lange Kinder dazu ein, die eigene Stadt in Minecraft neu zu gestalten. Idee des Fri-X-Lab der Jugendkunstschule Friedrichshain-Kreuzberg war, dass Kinder und Jugendliche den Umgang mit digitalen Video- und Fotokameras, Bildbearbeitung, Programmieren sowie Gamedesign lernen, eigene künstlerische Projekte umsetzen und sich bei entsprechender Neigung auch für die Vorbereitung auf ein entsprechendes Studium coachen lassen können.
App-gestützte Stadtralleys wie „AUGEN AUF im Westpark-Viertel“ der Bleiberger Fabrik in Aachen sind bereits Alltag in manchen Jugendkunstschulen. In Hamburg arbeitet Bunte Kuh e.V. z. B. daran, die von Kindern entwickelten, begehbaren, aber temporären Lehmskulpturen mit dem 3-D-Scaner zu konservieren, um diese über die Projektlaufzeit hinaus in anderen Kontexten nutzen zu können. Die Oldenburger Kunstschule verwendet etwa im Rahmen ihrer Schulkooperation „perfect_oldenburg“ eine Open-Source-Software, mit der die Jugendlichen eine Zukunftsstadt unter Wasser gemeinschaftlich entwickeln und dann eigenständig und vernetzt im Programm (virtuell) umsetzen. Der gemeinsam erstellte Projektplan muss dazu durch die Teilnehmenden in kleine Arbeitspakete unterteilt werden, auf die jede*r Schüler*in zugreifen kann. In Kleingruppen wählen die Teilnehmenden dann immer ein Arbeitspaket aus und modellieren den entsprechenden Teil ihres gemeinsamen „perfect_oldenburg“. Ein 3D-Drucker ermöglicht es, Modelle vom Computer in den Klassen- bzw. Atelierraum zu holen. Im Rahmen der Begabungsförderung der Berliner Senatsverwaltung konnten Kinder der Klassen 5 bis 9 an der Berliner Jugendkunstschule ebenfalls Produkte oder Skulpturen mit einer 3D-Software entwickeln und am 3D-Drucker ausdrucken oder kleine Roboter mit entsprechenden Maschinenbausätzen selbst bauen und automatisieren. Die Buchkinder Weimar präsentierten unter Zuhilfenahme von Augmented-Reality-Anwendungen selbst entwickelte Spielgeräte, von denen die beliebtesten für einen Spiel- und Gemeinschaftsplatz zentral in der Innenstadt realisiert werden sollen.
Diese wenigen Bespiele – es ließen sich viele weitere Seiten damit füllen - geben einen Eindruck von dem enormen kreativen und vielfältigen Potenzial, das Digitalität in der Programmarbeit von Jugendkunstschulen bedeuten kann.
Weitere Ebenen: Betrieb und Kommunikation
Weniger spektakulär, aber nicht weniger relevant sind die Herausforderungen, die die Digitalisierung auf der betrieblichen Ebene mit sich bringt. Aus Gründen der Übersichtlichkeit können diese hier nur angetippt werden. Betroffen sind nahezu alle Bereiche des Betriebs Jugendkunstschule, die weiterhin Professionalisierungs- und Modernisierungsprozessen unterworfen sind. Diese stellen hohe Anforderungen an die Einrichtungsleitung (Stichwort: Kundenorientierung, Agiles Management), aber auch an eine professionelle Verwaltung. Gemeint sind z.B. die technische Infrastruktur der Einrichtung insgesamt, vom Rechner am Schreibtisch der FSJK-Kraft über die Kommunikation mit freien Mitarbeitenden bis hin zu Anmeldemanagement und Nutzungsstatistik, Veranstaltungs- und Belegungsdisposition, Organisation der Teamzusammenarbeit sowie Kenntnisse zum Datenschutz. Betroffen sind alle Kanäle der externen Kommunikation z.B. mit Teilnehmenden, Eltern, Kooperationspartner*innen, Öffentlichkeitsarbeit und Werbung. Aber auch der Schutzauftrag verlängert sich ins Digitale. Kinder und Jugendliche müssen auch hier in ihren Rechten geschützt werden und Fachkräfte in die Lage versetzt werden, sichere digitale Räume vorzuhalten, Gefährdungssituationen zu erkennen und entsprechend zu reagieren.
Zwischenfazit: Digitalität als zusätzliche Sparte oder postdigitale Jugendkunstschule?
Digitalität als kultureller Prozess stellt die Jugendkunstschulen einerseits vor neue konzeptionelle Herausforderungen und birgt andererseits ein enormes Entwicklungspotenzial. Gleichzeitig ist Digitalität (noch) nicht systematisch und flächendeckend in der Jugendkunstschullandschaft entwickelt oder verankert. Hierfür bräuchte es zielgerichtete Prozesse, die digitalitätsbezogene Reflexions- und Experimentierräume in der Breite der Einrichtungslandschaft ermöglichen, (bezahlte) Zeit für (vielfach auch autodidaktische) Weiterbildung, Zugang zu den notwendigen technischen Voraussetzungen im Bereich Software und Hardware, Ressourcen für Auswahl und Wartung von Geräten, die Implementierung einrichtungsspezifischer Digitalisierungsstrategien in den Bereichen Programm, Betrieb und Kommunikation und für Suchbewegungen nach geeigneten Honorarkräften und Kooperationspartner*innen. Die Grundvoraussetzung für einen gelingenden Transformationsprozess ist eine Struktur, die es sich zeitlich und betrieblich erlauben kann, nachzudenken und Neues auszuprobieren – zusätzlich zum Alten, Bewährten. Digitalität kann aufgrund der Vielfalt neuer künstlerischer Ausdruckformen und kultur- sowie medienpädagogischer Methoden auch als zusätzlicher Aufgabenbereich im Programmtableau von Jugendkunstschulen betrachtet werden. Dies wäre zu Beispiel als eigener auf digitale Medien oder Medienkunst fokussierter Fachbereich denkbar. Digitale Innovationen können aber auch im Rahmen einzelner, bestehender Kooperationen oder Angebotsformate experimentell entwickelt und Stück für Stück für andere Bereiche ausgebaut werden. Digitalität zu gestalten und Kinder und Jugendliche in ihrer (Welt-)Gestaltungsfähigkeit zu fördern, ist eine Aufgabe von Jugendkunstschulen in einer von digitalen Medien geprägten Welt. Menschen, die sich, wie Marina Weisband, intensiv mit gesellschaftlichen Veränderungsprozessen im Zusammenhang mit Digitalität beschäftigen, gehen sogar noch ein Stück weiter. Weisband nimmt Kultur- und Bildungseinrichtungen explizit als Orte zur Gestaltung von Digitalität in die Pflicht: „Die Kultur hat hier die Rolle (…) aus der Orientierungslosigkeit herauszuhelfen und ein neues Miteinander zu gestalten. (…) Ziel des Lernens sollte nicht länger sein, Wissen aufzunehmen, sondern Fähigkeiten zu erlernen, zu denen Maschinen auch mit künstlicher Intelligenz nicht in der Lage sind (…) Es ist daher zwingend notwendig, dass wir mehr in pädagogisches Personal, Sozialarbeiter*innen, Kunst- und Kulturpädagog*innen investieren und in außerschulische Einrichtungen“ (Weisband 2020: 15). Denn Maschinen können keine Verantwortung für sich und andere übernehmen, nicht empathisch handeln oder kritisch denken.