Kulturelle Bildung für alle – mit allen, also auch mit rechten Jugendlichen?
Ambivalenzen und Potenziale in der Jugendkulturarbeit im Kontext der Rechtsextremismusprävention
Abstract
Angebote Kultureller Bildung im Kontext von Prävention arbeiten vor allem mit Jugendlichen, die im Sinne des Empowerment-Ansatzes gestärkt werden sollen, um gegen Rechtsextremismus einzutreten. Selten gibt es Projekte, die mit Jugendlichen arbeiten, die rechtsextreme Orientierungen aufweisen. Ausgehend von unterschiedlichen Dimensionen der Präventionsarbeit mit Jugendlichen in Radikalisierungsprozessen stellt der Beitrag mehrere Handlungsfelder der Kulturellen Bildung dar, in denen sich sowohl besondere Potenziale als auch Ambivalenzen der Jugendkulturarbeit mit rechtsorientierten Jugendlichen ergeben. Dabei zeigt sich, dass es für eine erfolgversprechende künstlerisch-pädagogische Arbeit mit rechtsorientierten Jugendlichen nicht nur eines besonderen milieuspezifischen Wissens über die Lebenswelt der rechtsextremen Szene bedarf. Diese Arbeit erfordert auch eine pädagogische sowie politische Haltung, die rechtsorientierte Jugendliche als Personen und Menschen mit Bedürfnissen, Träumen, Lebenszielen usw. anerkennt und mit einer milieuübergreifenden, diversitätsbewussten Perspektive die unterschiedlichen Wege und Faktoren, die zu einer „rechten Karriere“ führen können, in der jugendkulturellen Arbeit berücksichtigt, ohne die menschenverachtenden Weltbilder zu akzeptieren.
Einführung in den Beitrag
Rechtsextremistisch motivierte Gewalttaten wie z.B. die tödlichen Anschläge Anfang Oktober 2019 auf eine Synagoge in Halle mit zwei Toten oder am 19. Februar 2020 in Hanau, wo insgesamt neun Menschen getötet wurden, zeigen auf, dass der Rechtsextremismus in Deutschland ein gefährliches und öffentliches Gesicht bekommen hat. Es sind aber nicht mehr die „ewig Gestrigen“, die den gesellschaftlich-politischen Diskurs um den Umgang mit den Flüchtlings- und Migrationsbewegungen nach Deutschland und Europa bestimmen wollen. Durch den Einzug der AfD in fast alle Landtage haben rechtspopulistische und rechtsextreme Positionen und Haltungen eine teils auch bürgerliche Form erhalten. Neben den zumindest zum Anschein bürgerlich wirkenden Politiker*innen der AfD gibt es eine sehr heterogene rechtsextreme Szene, die ihre Hassbotschaften von Rassismus, Antisemitismus und Islamophobie insbesondere über die sozialen Medien verbreitet. In ihren Aktionen folgen viele Akteur*innen der Szene einer rechtsextremen Ästhetik, die Anleihen aus dem eher linkspolitischen Spektrum aufweist. Rechtsextreme Bewegungen wie z.B. die „Identitären“ verstehen es, sich real und virtuell modern und hip zu inszenieren. Bei öffentlichen Aktionen wie beispielsweise bei der Besetzung des Brandenburger Tors in Berlin 2016 (vgl. Youtube-Video der Identitären Bewegung Deutschland: Besetzung des Brandenburger Tors 2016) agierte die Gruppe ähnlich wie Gruppen von Greenpeace oder Amnesty International, nur dass sich die Identitären nicht für die Umwelt oder die Menschrechte einsetzen, sondern für ein „sicheres Europa“ ohne Flüchtlinge (Pfahl-Traughber 2019:175ff.). Damit verpacken sie ihren ausgrenzenden Ethnopluralismus in eine vermeintlich harmlose Botschaft als Sorge um Europa (Fuchs/Middelhoff 2019:89f.; Speit 2018:69ff.).
Für die rechtsextreme Szene sind Jugendliche die Zielgruppe Nummer eins. Videos auf Youtube, die Inszenierung von Flashmobs, rechtsextreme Lifestyleprodukte, Events wie Konzerte oder Demos sind das Lockmittel für Jugendliche, die in den meisten Fällen noch kein stabiles Weltbild entwickelt haben. Die rechtsextreme Szene inszeniert sich zeitgemäß, dynamisch, cool, teils subversiv und provokant (Glaser/Pfeiffer 2017:14).
Rechtsextremismusprävention versucht dem entgegenzuarbeiten. Dabei geht es nicht nur um Aufklärung, um die modernen Strategien der rechtsextremen Szene zu entschlüsseln. Es geht auch um die Verhinderung des Abdriftens von Jugendlichen in die rechtsextreme Szene und um die Hilfe beim Ausstieg aus dem Teufelskreis von rechtsextremistischer Orientierung und Menschenverachtung.
Angebote Kultureller Bildung arbeiten in diesem Zusammenhang vor allem mit Jugendlichen, die im Sinne des Empowerment-Ansatzes gestärkt werden sollen, um gegen Rechtsextremismus einzutreten. Damit kommt die Kulturelle Bildung im Sinne eines subjektorientierten Ansatzes ihrer gesellschaftspolitischen Verantwortung nach, Jugendlichen die Möglichkeit zu geben, eine demokratische Gesellschaft mitzugestalten und sich von gesellschaftlichen Prozessen der Ausgrenzung und Gewalt zu emanzipieren.
Selten gibt es allerdings Projekte, die mit Jugendlichen arbeiten, die rechtsextreme Orientierungen aufweisen oder zumindest mit rechtsextremen Positionen sympathisieren.
Mit diesem Beitrag möchte ich vor dem Hintergrund des Postulats einer „Kulturellen Bildung mit allen“, die damit verbundenen Ambivalenzen aber auch Potenziale betrachten, die sich ergeben, wenn sich künstlerische Jugendarbeit jugendlichen Milieus öffnet, die sich in der Nähe einer rechtsaffinen Orientierung befinden.
Rechtsextremismus – eine begriffliche Klärung
Eine eindeutige gesetzlich abgesicherte Definition des Begriffs des Rechtsextremismus existiert bislang nicht (Stöss 2007:14). Dieser Sachverhalt liegt darin begründet, dass es sich beim Rechtsextremismus nicht um ein einheitliches, ideologisch geschlossenes Phänomen handelt. Rechtsextremismus umfasst unterschiedliche Strömungen, Ideologierichtungen und Organisationsformen (Grumke 2017:22). Auf diese Mehrdimensionalität nimmt der politikwissenschaftliche Rechtsextremismusbegriff nach Richard Stöss (2000; 2007) Bezug. Demnach unterscheidet Stöss zwischen rechtsextremen Einstellungsmustern und rechtsextremen Verhalten. Zu den Bestandteilen rechtsextremer Einstellungsmuster zählen z.B. Autoritarismus, Nationalismus, Ethnozentrismus, Rassismus, Sozialdarwinismus, Antisemitismus, Pro-Nazismus, Befürwortung einer Rechts-Diktatur und Sexismus (vgl. Stöss 2000:25f.).
Beim rechtsextremen Verhalten wird zwischen politisch zielgerichtetem, einem Programm verpflichteten, Verhalten und zwischen Protestverhalten, das primär der Provokation und/oder dem Ausleben von aggressiven Persönlichkeitsmerkmalen dient, unterschieden (Stöss 2007:7f.). Rechtsextremes Verhalten manifestiert sich unter anderem im Wählen rechtsextremer Parteien, in rechtsextrem motivierten und/oder begründeten Straf- und Gewalttaten, in der Zugehörigkeit zu rechtsextrem orientierten bzw. handelnden Parteien, Kameradschaften, subkulturellen Gruppen und rechten Cliquen (Frank/Glaser 2018:354).
Richard Stöss verweist zudem darauf, dass rechtsextremes Verhalten in der Regel auf rechtsextreme Einstellungsmuster zurückzuführen sei. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass aber nicht jede Person, die solche Einstellungsmuster aufweist, rechtsextremes Verhalten zeigt oder gar Gewalttaten vollzieht. Insofern wird man dem Gesamtphänomen Rechtsextremismus nur gerecht, wenn beide Dimensionen Berücksichtigung finden. Es ist nicht zulässig, von nur einer Dimension auf das Gesamtphänomen zu schließen. Oft zeigt sich dies in der allzu schnellen Gleichsetzung von fremdenfeindlichen Einstellungen und Rechtsextremismus (Stöss 2007:29).
Mit der mehrdimensionalen Perspektive auf Einstellungsmuster und Verhalten grenzt sich der hier referierte erweiterte Rechtsextremismusbegriff von dem eher engen Verständnis des amtlichen Begriffes ab. Staatliche Institutionen wie der Verfassungsschutz bezeichnen ausschließlich Gruppierungen, die im Sinne eines „politischen Extremismus“ Bestrebungen folgen, die sich gegen die Prinzipien der freiheitlichen demokratischen Grundordnung richten. Dieses Verständnis berücksichtigt aber nicht gesellschaftliche Bewegungen, die wohl rechtsgerichtet agieren, die demokratische Ordnung aber nicht unbedingt in Frage stellen, sondern eher eine Revision einzelner Normen anstreben (Grumke 2017:22).
Für die pädagogische Arbeit mit rechtsorientierten Jugendlichen und jungen Erwachsenen ist die Unterscheidung zwischen Einstellungsmustern und Verhalten unerlässlich.
Wege in rechtsextreme „Karrieren“
Für eine angemessene pädagogische Arbeit ist es wichtig zu wissen, wie Jugendliche in die rechtsextremistische Szene geraten können. Studien zu biografischen Verläufen ehemaliger Rechtsextremisten zeigen, dass es vielfältige (Risiko-)Faktoren sind, die zu einer rechtsextremen „Karriere“ führen können. Zu den wesentlichen Faktoren zählen:
- Belastende Familien- und Bindungserfahrungen, die sich unter anderem äußern in biografischen Brüchen (Trennung der Eltern, Wohnortwechsel), in Gewalterfahrungen durch Familienmitglieder oder in rechtsextreme oder fremdenfeindliche Haltungen innerhalb der Familie, machen eine Annäherung an die rechtsextreme Szene wahrscheinlicher.
- Erfahrung oder subjektiv wahrgenommene sozialer Desintegration, mangelnde soziale Sicherheit, Enttäuschungen bei der Erfüllung sozialer und wirtschaftlicher Vorstellungen und Ziele sowie Perspektivlosigkeit, gefühlte Benachteiligung im Vergleich zu anderen Bevölkerungsgruppen und auch daraus resultierender Vertrauensverlust in die Funktion des politischen Systems können rechtextreme Orientierungen bedingen.
- Mit dem Versprechen von Gemeinschaft, Zugehörigkeit und Orientierung scheinen daher rechtsextreme Gruppierungen diese Erfahrungen zu kompensieren und Bedürfnisse der Anerkennung und Zugehörigkeit betroffener Jugendlicher zu befriedigen. Im zunehmenden Maße wird die rechtsextreme Gruppe quasi zur Ersatzfamilie.
- Das Gruppenerlebnis wird durch den Eventcharakter der „Erlebniswelt Rechtsextremismus“ unterstützt und verstärkt. Bei den Freizeitaktivitäten, wie der gemeinsame Besuch von Rechtsrock-Konzerten, Demonstrationen, politischen Aktionen, „Kameradschaftsabende“ mit Lagerfeuer und Gitarrenmusik handelt es sich um Vergemeinschaftungsformen, die den Gruppenzusammenhalt stärken und fast wie nebenbei die rechtsextreme Ideologie vermitteln.
- Die Aktivitäten in der Gruppe sind von Tabubrüchen und Provokationen begleitet und bewegen sich in vielen Fällen an der Grenze der Legalität, wodurch das Gruppenerlebnis und der Zusammenhalt in der Gruppe noch deutlicher vertieft werden (Frank/Glaser 2018; Hohnstein/Greuel 2015; Koch/Pfeiffer 2009; Sigl 2016; Wiezorek 2006).
Die Gründe, warum nun Jugendliche in die rechtsextreme Szene abrutschen, lassen sich daher eigentlich nur aus der individuellen Biografie ableiten. Dabei sind es meistens mehrere Risikofaktoren, die im Lebenslauf zusammenwirken (Glaser/Schlimbach 2009:22ff.).
Für die präventive Arbeit mit rechtsorientierten Jugendlichen ist es daher unerlässlich, die individuellen Lebenssituationen und den Grad ihrer Szenezugehörigkeit zu kennen und zu analysieren.
Neben den beschriebenen individuell-biografisch bedingten Risikofaktoren scheint die rechtsextreme Szene mit ihren unterschiedlichen Freizeit- und Identitätsangeboten eine besondere Anziehungskraft auf viele Jugendliche zu haben. Daher ist es mir an dieser Stelle wichtig, im Folgenden die Gestalt der sogenannten „Erlebniswelt Rechtsextremismus“ mit ihren kulturellen Ausdrucksformen ausführlicher zu beschreiben.
„Erlebniswelt Rechtsextremismus“
Spätestens seit den 1990er Jahren hat sich das Erscheinungsbild des Rechtsextremismus erheblich verändert. Auch wenn die rechtsextreme Szene sich weiterhin der Symbolen und der Ästhetik des Nationalsozialismus bedient, bewegen sich heutige Akteur*innen der Szene in der Symbolsprache des 21. Jahrhunderts (Pfeiffer 2017:41). Für die ersten Anfänge dieser Entwicklung steht exemplarisch die rechtsextreme Gruppierung der „Autonomen Nationalisten“ (AN), die sich seit 2004 aus dem Kontext der Freien Kameradschaften entwickelt hat. Es handelt sich hierbei um rechtsextreme Aktivisten, die sich im Rahmen eines losen Netzwerkes bei Veranstaltungen in der Öffentlichkeit als martialisch auftretender, insbesondere männlich geprägter, schwarzer Block inszenieren. Dabei adaptieren die AN in schwarz gekleidet mit Sonnenbrille, Basecaps, Halstüchern und Handschuhen die Agitationsformen von eher linksautonomen Gruppen und weisen dabei schon popkulturelle Züge auf. Bei den Autonomen Nationalisten handelt es sich aber zweifelsohne um Neonazis, die im Großen und Ganzen ohne einen direkten Bezug zum Nationalsozialismus agieren und sogar in ihrem Erscheinen einen positiven Bezug zum Hier und Jetzt aufweisen. Das vom äußeren Erscheinungsbild eher linksautonome Auftreten wird seitens der AN als popkultureller Event verstanden, der in der Öffentlichkeit sehr werbewirksam für die eigene menschenverachtende Ideologie verwendet wird. So ist bei einem öffentlichen Auftritt z.B. im Rahmen einer Demonstration oft ein Filmteam dabei. Von den Inszenierungen werden dann Videoclips für die Internetplattform YouTube erstellt, die so professionell anmuten wie MTV-Produktionen (Schulze 2009:9ff.). Seitdem allerdings einige freie Kameradschaften und Vereinigungen wie beispielsweise der „Nationale Widerstand Dortmund“ und die „Kameradschaft Hamm“, die auch der Szene der AN zugerechnet werden, 2012 verboten wurden, gibt es nur noch wenige rechtsextreme Aktivisten, die dem popkulturellen Konzept der AN folgen (Klose/Richwin 2016:215).
Heutzutage sind es nicht mehr ausschließlich Wahlkämpfe und ideologische Debatten, die den Schwerpunkt rechtsextremen Auftretens in der Öffentlichkeit ausmachen. Vielmehr werden die ideologischen und menschenverachtenden Botschaften über kulturelle Medien verbreitet, die stärker auf die Lebenswelten originärer und potentieller Anhänger abzielen. Nach Pfeiffer sind diesbezüglich unter dem Begriff der „Erlebniswelt Rechtsextremismus“ die Gesamtheit aller Formen der gezielten Hinwendung von Rechtsextremisten an Jugendliche zu fassen (Pfeiffer 2017:42). Hierunter zählen Angebote die „Eventcharakter“ haben und insbesondere mit Gemeinschaft, Anerkennung, Action und Tabubrüchen bis an die Grenze der Legalität verbunden sind. Es sind, so Pfeiffer, Aktivitäten, die Erlebnisse verheißen (ebd.). Die besonderen Attraktivitätsmomente der „Erlebniswelt Rechtsextremismus“ macht Pfeiffer an vier Aspekten fest:
- Das Angebot der Gemeinschaft (Kameradschaft) stellt vielleicht den wichtigsten Reiz für Jugendliche dar, um an rechtsextremen Gruppierungen zu partizipieren.
- Der Grad der Modernisierung, also die Art und Weise, wie Stilelemente zeitgenössischer Jugendkulturen adaptiert werden, sind zudem relevant für eine gewisse Attraktivität.
- Die optische und verbale Tarnung der rechtsextremen Ideologie über jugendaffine Szene-Medien erhöht die Anschlussfähigkeit an Diskurse der Mehrheitsgesellschaft.
- Symbolik, Codes und Mythen bilden den Kitt, der die Gruppe zusammenhält und die gemeinsamen Aktivitäten emotional auflädt. Eine typische Symbolik stellen das stilisierte Keltenkreuz oder die „Schwarze Sonne“ dar. Codes wie beispielsweise „14 words“ (we must secure the existence of our people and a future for white children) stehen für eine ganz klare und unmissverständliche rassistische Botschaft (ebd. 42f.).
Da die Erlebnisangebote im rechtsextremen Kontext vor allem Gruppenerlebnisse darstellen, sind es insbesondere Freie Kameradschaften oder andere kleinere rechtsextreme Gruppierungen, welche die Basis der „Erlebniswelt Rechtsextremismus“ bilden. Die typische Form der rechtsextremen Vergemeinschaftung von Jugendlichen sind Szenen.
Nach Hitzler, Bucher und Niederbacher sind Szenen als thematisch fokussierte soziale Netzwerke zu verstehen, deren Mitglieder durch die interaktive Kommunikation gemeinsamer Interessen und über den sinnlich erfahrbaren Gebrauch szenetypischer Symbole, Zeichen und Rituale ihre Zugehörigkeit inszenieren. Dabei generieren die beteiligten Akteur*innen fast beiläufig die Szene. In eine Szene wird man nicht hineingeboren, sondern man tritt einer Szene freiwillig aus Interesse an dem thematischen Fokus bei. Als Gesinnungsgemeinschaften brauchen Szenen die öffentliche Wahrnehmung, um sich von anderen Szenen bzw. von Nicht-Zugehörigen abzugrenzen. Obwohl Szenen als „Inszenierungsphänomene“ so genannte „Wir-Gefühle“ immer wieder reproduzieren, sind sie aufgrund fehlender Sanktionsmechanismen zur Verhinderungen von Ein- und Austritten als eher labile Gebilde zu beschreiben. Damit ist die Szenezugehörigkeit für viele Mitglieder durchaus als zeitlich begrenztes Phänomen zu betrachten (Hitzler/Bucher/Niederbacher 2005:19ff.).
Im Kern, darauf verweist auch Pfeiffer, entspricht dieses Szeneverständnis der Gestalt der rechtsextremen Szene (Pfeiffer 2017:43). Allerdings ist die rechtsextreme Szene deutlich hierarchischer organisiert. Zudem ist es in den meisten Fällen nicht so einfach, seine Szenezugehörigkeit zu beenden. Dies gilt ganz besonders dann, wenn ein Mitglied zentraler Funktionsträger gewesen ist. So berichten viele Aussteiger*innen von massiven Bedrohungen aus der Szene, nachdem der Ausstieg bekannt wurde (Koch/Pfeiffer 2009). Außerdem ist es durchaus möglich, in die rechtsextreme Szene hineingeboren zu werden, was beispielsweise das mittlerweile doch recht prominente Beispiel von Heidi Benneckenstein gezeigt hat (Benneckenstein 2017).
Die Szene des Rechtsrock
Die rechtsextreme Szene bietet eine recht vielfältige Sinn- und Erfahrungswelt. Ein besonders breit gefächertes Angebot stellt in diesem Zusammenhang die Rechtsrock-Szene dar. Dabei ist der Rechtsrock nicht als eigener Musikstil zu bezeichnen, sondern er stellt ein Sammelsurium von vielen unterschiedlichen Musikgenres dar. Ein Großteil der existierenden Bands verfolgt eher einen härteren Punk- und Metalstil oder sind im Hardcore verortet. Es gibt aber genauso einige rechtsextreme Liedermacher wie z.B. Frank Rennicke, vielleicht einer der populärsten, die stärker ein generationenübergreifendes Publikum ansprechen wollen (Pfeiffer 2017:52ff.). Auch die Rap-Musik wird mittlerweile von der rechtsextremen Szene vereinnahmt. Zu den aktivsten Protagonisten zählen hierbei der rechtsextreme Rapper „Maks Damage“ oder aber auch die Rapper „Komplott“ und „Chris Ares“ (siehe: Youtube-Video „Komplott & Chris Ares – Betonblock" vom 17.04.2018), die der „Identitären Bewegung“ zuzuordnen sind (Begrich/Raabe 2018:176f.).
Darüber hinaus gibt es auch schon sehr skurrile Ausformungen wie beispielsweise die Youtube-Auftritte des „Varieté Identitaire“ (beispielsweise: Youtube-Video „A jamais Idealiste“ - Ein Gruß an den Verfassungsschutz vom 02.01.2017) bestehend aus der Sängerin Melanie Halle (eigentlich Melanie Schmitz) und Till-Lucas Wessels (mal am Klavier oder mit der Akustikgitarre) mit Anleihen aus einer Mischung von Chanson und Musik der 1930 Jahre im Anzug und Abendkleid (ebd.:178). Trotz der Vielfältigkeit der musikkulturellen Zugänge, bleiben die transportierten Botschaften dieselben: Rassismus, Menschenverachtung, Antisemitismus und Verherrlichung des Nationalsozialismus, mal aggressiv und direkt, mal subtil und implizit. Neben der Musik selbst bilden Musikfestivals mit vielen Tausend Rechtsextremen, kleine Musikveranstaltungen, Liederabende und Live-Musik auf Demonstrationen die Orte, an denen die rechtsextreme Szene sich ihrer selbst vergewissern kann (Pfeiffer 2017:52f.).
Zusammenfassend lässt sich am Beispiel des Rechtsrocks aufzeigen, wie heterogen diese Szene gestaltet ist und sie damit unterschiedliche subkulturelle Zugehörigkeitsangebote für viele Jugendliche schafft. Auch wenn Musik dabei nicht immer den zentralen Faktor für den Einstieg in die rechtsextreme Szene darstellt (Glaser/Schlimbach 2009:25ff.), so bietet sie doch auf eine eingängige Art und Weise die Möglichkeit, die rassistische und menschenverachtende Ideologie des Rechtsextremismus zu transportieren und fast wie selbstverständlich zu verinnerlichen. Die damit verbundene kulturelle Inszenierung von Rechtsrock-Konzerten stärkt die Vergemeinschaftung der Szeneangehörigen und ist daher als Szeneaktivität nicht zu unterschätzen.
Prävention in der Arbeit mit rechtsorientierten Jugendlichen
Spätestens seit dem 8. Kinder- und Jugendbericht gilt der Begriff der Prävention als zentrales Strukturmaxim in der lebensweltorientierten Kinder- und Jugendhilfe. Dabei unterliegt diesem Strukturmaxim der Grundgedanke, ein Problem nicht erst aufkommen zu lassen, sondern über präventive Maßnahmen dafür Sorge zu tragen, dass ein Problem erst gar nicht entsteht (BMFSFJ 1990:85; Scherr 2018:1013f.). Dies bedeutet zugleich, dass das Prinzip der Prävention nicht nur vorbeugende Maßnahmen beinhaltet, sondern auch als Intervention in bestehende soziale Ordnungen der Lebenswelt von Kindern- und Jugendlichen zu verstehen ist. In der Prävention im Rahmen von Radikalisierungsprozessen von Jugendlichen sind, in Anlehnung an das medizinische Modell der Sucht- und Gesundheitsprävention von George Caplan (1964), Rauf Ceylan und Michael Kiefer, drei Präventionsformen zu unterscheiden (Ceylan/Kiefer 2013:111ff.):
Im Kontext der primären Prävention geht es um Maßnahmen, die keine besondere gesellschaftliche Gruppe betreffen. Die Maßnahmen sind an alle Jugendlichen und jungen Erwachsenen gerichtet und zielen auf lebenswerte sowie stabile Verhältnisse in der Lebenswelt der Jugendlichen ab. Hier finden sich vor allem im Themenfeld Rechtsextremismus Bildungsangebote der politischen Bildung, der antirassistischen Erziehung aber auch der interkulturellen und/oder transkulturellen Pädagogik. Besonders hervorzuheben wären hierbei auch Empowerment-Workshops in „geschützten Räumen“ oder in so genannten „People of Color-Räumen“, die sich vor allem an Jugendliche oder junge Erwachsene richten, die in der Gesellschaft selbst von Ausgrenzung, Diskriminierung und Rassismus betroffen sind (Yiğit/Can 2009). Solche Angebote befinden sich in der Schnittstelle zur sekundären Prävention.
Im Rahmen der sekundären Prävention beziehen sich Maßnahmen auf Personen, die sich in einer belasteten Lebenssituation befinden oder auch durch bestimmte Risikofaktoren definiert sind. Im Kontext von Radikalisierungsprozessen gehören hierzu beratende Angebote für Eltern, Angehörige, Schulsozialarbeit und/oder Lehrkräfte bzw. auch für die betroffenen Jugendlichen selbst. Zu den Einrichtungen, die solche Beratungen und Angebote bereitstellen, zählen z.B. das bundesweite Programm „Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus“ (hier gibt es in NRW insgesamt fünf, für jeden Regierungsbezirk jeweils eine Beratungsstelle), die Landeskoordinierungsstelle gegen Rechtsextremismus (angesiedelt beim Ministerium Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen), NinA NRW mit Sitz in Recklinghausen oder aber auch das „Violence Prevention Network“ in Berlin (Glaser/Pfeiffer 2017:326ff.).
Im Bereich der tertiären Prävention fokussieren Maßnahmen Menschen, die sich in manifesten Problemlagen befinden und einen Ausweg aus der Radikalisierung, Gewalttätigkeit und Kriminalität suchen. Dieser Präventionsbereich gestaltet sich ganz besonders in radikalisierten Szenen als ein schwieriger und langandauernder Weg (Koch/Pfeiffer 2009). Die vielleicht bekannteste Initiative, die Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die aus der rechtsextremen Szene aussteigen wollen, hilft, ist das Projekt Exit Deutschland (siehe: Webseite der NGO-Initiative EXIT Deutschland)
Der Sozialwissenschaftler Kemal Bozay schreibt der Kinder- und Jugendhilfe insbesondere im Rahmen der primären und sekundären Prävention von Radikalisierungsprozessen einen gewichtigen Beitrag zu. Dabei sieht er drei besondere Handlungsfelder:
- Erstens zählen dazu ressourcenorientierte Projekte, die auf die Förderung und Entwicklung von Ambiguitätstoleranz und Dialogfähigkeit ausgerichtet sind und damit auch in einem Kontext von Empowerment zu sehen sind.
- Zweitens sieht er eine intervenierende Präventionsarbeit, die unterstützend das soziale Umfeld und die Familie der Betroffenen Jugendlichen mit einbezieht.
- Drittens ist darunter zu subsumieren eine intensive Beratungsarbeit, die sich an Eltern, Lehrkräfte in Schulen und/oder Mitarbeiter*innen in sozialen Einrichtungen sowie stattlichen Institutionen richtet (Bozay 2017:143).
Zusammenfassend ist zu konstatieren, dass die geschilderten Felder der Präventionsarbeit Bereiche beinhalten, die auch auf Themen- und Handlungsfelder der Kulturellen Bildung verweisen. In diesem Zusammenhang können Angebote der Kulturellen Bildung fruchtbar sein für die Präventionsarbeit gegen Rechtsextremismus.
Handlungsfelder der Kulturellen Bildung in der Präventionsarbeit mit rechtsorientierten Jugendlichen
Ein erstes Handlungsfeld der Kulturellen Bildung stellt die Auseinandersetzung mit Vorurteilen, Rassismus und Stereotypen dar. Auf dieser Ebene der primären und sekundären Präventionsarbeit können künstlerische Methoden ein besonders hilfreiches Mittel darstellen, eigene Vorurteile zu erkennen und sich konstruktiv damit auseinanderzusetzen. Dieser These liegt die Annahme zugrunde, dass pädagogische Settings ästhetischer und Kultureller Bildung einen besonderen Möglichkeitsraum für ästhetische Erfahrungen bieten, die ein Unterbrechen von Alltagsroutinen bedeuten, die zugleich von Vorurteilen durchsetzt sein können. Ästhetische Erfahrungen werden dann oft durch die Verfremdung des Gewohnten ausgelöst (Dietrich/Krinninger/Schubert 2013:110f.). Dies gilt sowohl für die Rezeption von Kunst und Kultur als auch im Prozess des produktiven künstlerischen Tuns (Bertram 2014:170ff.). Im Zusammenhang mit Bildung stellt die ästhetische Erfahrung als Fremdheits- und/oder Krisenerfahrung wiederum einen Raum dar, in dem Bildungsprozesse sich vollziehen können (Koller 2018; Kokemohr 2007; Schönfelder 2012:112ff.). Diese Bildungsprozesse münden im Idealfall darin, eine diversitätsbewusste Haltung zu entwickeln, die hilft, nicht nur Differenzkategorien und die damit verbundenen Diskriminierungsgefahren und ihre Ursachen zu identifizieren, sondern auch damit konstruktiv und produktiv im (pädagogischen) Alltag umzugehen. Dies bedeutet auf der einen Seite, Irritationen auszuhalten, erste Eindrücke und Urteile zu reflektieren, Konfliktsituationen zu ergründen, ohne vorschnelle Kulturalisierungen vorzunehmen (Keuchel/Rousseau 2018:247). Auf der anderen Seite heißt dies, die diversitätssensible Haltung im künstlerisch-pädagogischen Alltag einfließen zu lassen. Damit ist beispielsweise ein Aufmerksamsein auf die ästhetischen Vorlieben von Kindern und Jugendlichen unabhängig von kulturellen Zuschreibungen und Erwartungen gemeint. (Dietrich/Krinninger/Schubert 2013:107). Eine diversitätsbewusste künstlerische Praxis zeichnet sich also durch eine offene Haltung und Anerkennung der unterschiedlichen sozial, kulturell, biografisch usw. geprägten Vorlieben künstlerisch-kultureller Praxis von Kindern und Jugendlichen aus (ebd.:106f.). Der produktive Umgang bedeutet aber auch, Räume zu schaffen, um vielfältige subkulturelle, internationale und transkulturelle Ausdrucksformen kennen zu lernen. Dies können Beispiele aus der afrokosmopolitischen Literatur, arabische Klangkombinationen oder die Dramaturgie und Bildgestaltung des indischen oder nigerianischen Films sein. Es wird damit Raum gegeben für Irritationen und dem Hinterfragen eigener Rezeptionsgewohnheiten ((Keuchel/Rousseau 2018:238).
Ein zweites Feld, das sich auch noch auf der Ebene der primären und sekundären Prävention befindet, bildet die Auseinandersetzung mit kulturellen und medialen Ausdrucksformen der rechtsextremen Szene. Rechtsextreme Organisationen wie die „Identitäre Bewegung“ (IB) agieren auf einer sehr modernen Art und Weise in den sozialen Medien, um ihre rassistischen und islamfeindlichen Botschaften zu verbreiten. Dabei inszenieren sich die Protagonist*innen als hip und fortschrittlich, um eine junge und akademisch geprägte Klientel für ihre Botschaften und Verschwörungstheorien (z.B. der große „Austausch“) zu gewinnen (Speit 2018:70). Die „Identitären“ bedienen sich dabei einer rechtsorientierten Ästhetik, die auf den ersten Blick nicht gleich zu entschlüsseln ist. Exemplarisch für eine solche Ästhetik lässt sich die Verwendung des „Lambda“, dem elften Buchstaben des griechischen Alphabets, als Logo der IB anführen. Das Logo bestehend aus einem gelben Lambda auf schwarzem Grund verweist auf eine dahinterliegende Story, die im antiken Sparta verortet ist. Das Lambda galt als Kampfsymbol für die Krieger Spartas. Im Jahr 480 v. Chr. soll sich bei der Schlacht um Thermopylen eine Gruppe von 300 Elitekämpfern Spartas mit ihrem König Leonidas einem übermächtigen persischen Heer gestellt und dieses so lange aufgehalten haben, bis sich die griechischen Streitkräfte reorganisieren konnten. Dieses historische Ereignis ist auch Gegenstand der Graphic Novel „300“ von Frank Miller aus dem Jahr 1998 und der gleichnamigen Kinoverfilmung von Zack Snyder im Jahr 2006. Wahrscheinlich entlehnte die IB ihr offizielles Logo aus diesem Film (Frank 2017; Pfahl-Traughber 2019:171f.; Weiß 2013). So inszeniert sich die IB über das Lambda-Symbol als eine kleine Gruppe, die sich einer „ethnokulturellen Identität europäischer Völker“ zugehörig fühlt und sich gegen die Invasion einer übermächtigen Islamisierung von Fremden stellt, um die abendländische Kultur Europas zu verteidigen (Speit 2018:69ff.).
Angebote der Kulturellen Bildung wie beispielsweise die Programmreihe der Akademie der Kulturellen Bildung des Bundes und des Landes NRW „Kunst-Medien-Manipulation“ beleuchten die professionelle Nutzung künstlerischer Mittel durch Akteur*innen extremistischer Szenen mit einer medienkritischen Perspektive. Im Rahmen dieser Angebote steht insbesondere die Konstruktion von Wirklichkeiten mit visuellen und sprachlichen Mitteln im Fokus der Arbeit. Dies soll pädagogischen Fachkräften in Feldern der Extremismusprävention und der politischen Bildung helfen, für die vielfältigen Strategien und Formen extremistischer Szenen im Bereich der sozialen Medien zu sensibilisieren und gegebenenfalls auch (künstlerische) Gegenstrategien zu entwickeln (Smith 2017:242f.).
Ein drittes Feld lässt sich in der Auseinandersetzung mit der eigenen Lebenswelt verorten. Künstlerische Methoden bilden hierbei den Schlüssel, um eigene Talente zu entdecken und weiterzuentwickeln. Die betroffenen Jugendlichen und jungen Erwachsenen haben oft verborgene Talente, die es zu bergen gilt. Hier bietet sich der Ansatz der Kulturellen Bildung an, um sich über die Beschäftigung mit Kunst und kulturellen Ausdrucksformen von den rechtsorientierten Weltbildern zu emanzipieren. Dabei ist das Ziel zu verfolgen, alternative Lebensmodelle und Sichtweisen durch das künstlerische Tun zu entwickeln. Ein gutes Beispiel hierfür ist das in den Jahren 2009/2010 von der Organisation EXIT-Deutschland in Berlin mit Aussteigern*innen aus der rechtsextremen Szene initiierte Fotoprojekt „Lebensbilder“. Die im Rahmen biografisch orientierter, medien- und sozialpädagogischer Fallarbeit entstandenen Fotos wurden als Prozess individueller Bilderzeugung und als Mittel zur Reflexion der jeweiligen Lebenssituation der Aussteiger*innen verstanden und eingesetzt. Eine Ausstellung schloss die erste Phase des Projektes ab (Pilarczyk/Wichmann 2013:1).
Zugleich wird mit diesem Ansatz ein Bereich angesprochen, der dem Feld der akzeptierenden Jugendarbeit zu zuordnen wäre (Krafeld 1996), das sich nicht nur auf der Ebene der sekundären, sondern auch auf der Ebene der tertiären Prävention befinden kann. Dies verweist auch auf ein Spannungsfeld in der Rechtsextremismusprävention im Kontext Kultureller Bildung. Dabei steht insbesondere der Sachverhalt im Mittelpunkt, dass auf der einen Seite im Sinne der akzeptierenden Jugendarbeit alle Jugendlichen unabhängig von ihrer Herkunft, kulturellen und politischen Orientierung menschliche Zuwendung erfahren sollen. Dies begründet sich alleine schon aus dem Kinder- und Jugendhilfegesetz. In § 1 Abs. 1 SGB VIII heißt es: „Jeder junge Mensch hat das Recht auf Förderung seiner Entwicklung und Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit“ (SGB VIII 2012). Akzeptierende Jugendarbeit heißt in diesem Zusammenhang rechtsorientierte Jugendliche als Personen und Menschen mit Bedürfnissen, Träumen, Lebenszielen usw. anzuerkennen (Krafeld 2017:311ff.). Im Umkehrschluss darf dies aber nicht bedeuten, die menschenverachtenden, rassistischen Weltbilder des Rechtsextremismus zu akzeptieren. Um an der Lebenssituation von rechtsorientierten Jugendlichen ausgerichtete, angemessene Projekte Kultureller Bildung anzubieten, vollziehen Künstler*innen und Pädagog*innen, die mit der rechtsorientierten Klientel arbeiten, eine Gradwanderung. Sie müssen eine pädagogische Haltung aufweisen, die die Jugendlichen als Menschen anerkennt, ohne ihre rechtsorientierten Einstellungen zu billigen. Dies bedeutet, die (künstlerischen) Potentiale der Jugendlichen entdecken und fördern zu wollen. Dabei dürfen sie aber nicht Gefahr laufen, rechtsextreme Ausdrucksformen durch künstlerische Aktivitäten noch zu befördern. Dieses Spannungsfeld ist aber kein spezifisches Phänomen in Projekten der Kulturellen Bildung, sondern stellt eine grundsätzliche Problematik in der akzeptierenden Jugendarbeit mit rechtsorientierten Jugendlichen dar (Stützel 2017:10ff.). Auf der Ebene der tertiären Prävention sind die Möglichkeiten der künstlerischen Arbeit im Kontext der Kulturellen Bildung daher sehr begrenzt. Insbesondere dann, wenn die betroffenen Jugendlichen oder jungen Erwachsenen schon fest in der rechtsextremen Szene verhaftet sind und sich damit rechtsextreme Weltbilder derart verfestigt haben, dass diese nicht mehr aufgebrochen werden können.
Die tertiäre Prävention setzt dann ein, wenn die betroffenen Personen selbst den Entschluss gefasst haben, aus der rechtsextremen Szene auszusteigen. An dieser Stelle wäre es zumindest denkbar, dass Kulturelle Bildung neue Lebensperspektiven eröffnen kann und damit den Ausstiegsprozess begleitet, wie es im Fotoprojekt „Lebensbilder“ oben beschrieben wird.
Kulturpädagogisches Handeln in der Rechtsextremismusprävention – eine Schlussbetrachtung
Was braucht es nun für ein angemessenes kulturpädagogisches Handeln in der Jugendkulturarbeit mit rechtsorientierten Jugendlichen? Künstlerisch-pädagogisch Handelnde, so mein Resümee, sind gut beraten eine pädagogische Haltung zu entwickeln, die die Lebenswelten der Jugendlichen im Blick hat und sie als junge Menschen mit eigenen Bedürfnissen, Wünschen und Träumen anerkennt. In der Jugendkulturarbeit bietet sich dann die Chance, über die künstlerische Auseinandersetzung mit der eigenen (rechten) Biografie mögliche alternative Lebensperspektiven zu entdecken bzw. zu entwickeln.
Um diesen Erfahrungsraum zu bilden, ist ein milieuübergreifender Ansatz fruchtbar, wenn das kulturpädagogische Handeln geprägt ist von einer diversitätsbewussten Perspektive. Es gilt dabei eine gewisse Sensibilität für die unterschiedlichen Faktoren zu entwickeln, die den Weg in die rechtsextreme Szene ebnen können. Dabei ist es zugleich unabdingbar als künstlerisch-pädagogisch Handelnde, die eigenen Vorstellungen, Vorurteile und Stereotype über rechtsorientierte Jugendliche kritisch zu überprüfen, um vorschnelle Zuschreibungen zu vermeiden.
Hierzu ist es aber notwendig, neben der biografisch-individuellen Perspektive, eine milieuspezifische Perspektive auf die rechtsextreme Szene einzunehmen. Dies hilft, sich für die vielen unterschiedlichen Gemeinschaftsformen, kulturellen Ausdrucksformen und damit verbundenen Attraktivitätsmomente der rechtsextremen Szene zu sensibilisieren, um auch eigene mögliche Zuschreibungen kritisch hinterfragen zu können. Dabei bleibt allerdings immer ein bitterer Nachgeschmack der Herstellung von Differenz, da auch das Milieu der rechtsextremen Szene eine reine Konstruktion ist, bei der Jugendlichen, die sich unter ähnlichen Orientierungen vergemeinschaften, bestimmte Eigenschaften zugeschrieben werden, die von der gesellschaftlichen Norm moralisch-ethischen Handelns abweichen. (Zum kritischen Blick auf den Milieubegriff siehe auch den kubi-online-Beitrag von Kawthar El-Qasem: Plädoyer für ein Denken (Bau)Kultureller Bildung jenseits der Milieu-Kategorie).
In Bezug auf die Anerkennung der Jugendlichen und ihre Lebenswelten ergibt sich zugleich eine sehr ambivalente Situation, in der sich meist alle (kultur)pädagogisch Handelnden in der Arbeit mit rechtsorientierten Jugendlichen befinden. Denn es sind gerade die rechtsorientierten Jugendlichen, die im Kontext „ihrer“ Erlebniswelt Rechtsextremismus menschenverachtende Einstellungen aufweisen, anders aussehende und anders denkende Menschen ausgrenzen und oft gewalttätig angehen und i n diesem Zusammenhang dann als Täter*innen auftreten. Diese Ambivalenz gilt es in der künstlerisch-pädagogischen Arbeit auszubalancieren und stellt eine Herausforderung für die eigene ethische-moralische Position dar. Dabei ist zu berücksichtigen, dass es eben auch einer politischen Haltung bedarf, die sich gegen die menschenverachtende, rechtsextreme Ideologie positioniert. Damit ist das künstlerische Arbeiten im Rahmen der Präventionsarbeit gegen Rechtsextremismus immer auch politische Arbeit. Am Ende darf auch gefragt werden, ob Kulturelle Bildung in der Arbeit mit rechtsorientierten Jugendlichen nicht auch ihre Grenzen hat. So wie es Franz Josef Krafeld für die Jugendarbeit sagt (Krafeld 2017:314), könnte es auch für die Kulturelle Bildung formuliert werden: das der Rechtsextremismus im Kern ein gesellschaftliches Problem darstellt und nicht ein (kultur)pädagogisches.