Elfenbeinturm oder menschliches Grundrecht?
Die Fachtagung „MIND THE GAP! Zugangsbarrieren zu kulturellen Angeboten und Konzeptionen niedrigschwelliger Kulturvermittlung“ diente der Auseinandersetzung mit der Frage, warum kulturelle Angebote vor allem der öffentlich geförderten Hochkultureinrichtungen oft nur einen kleinen, meist hochgebildeten und finanziell gut situierten Teil der Gesellschaft erreichen. (Einen Rückblick von Prof. Dr. Birgit Mandel und Thomas Renz, verantwortlich für die Veranstaltung, finden Sie unter http://www.kulturvermittlung-online.de/pdf/tagungsrueckblick_mind_the_gap.pdf.)
Nachfolgend reflektiert Max Fuchs, Referent der Fachtagung, was man tun kann, um Teilhabe und die Zerstörung kultureller Infrastrukturen zu verhindern. Fuchs empfiehlt, sich über vier Stellschrauben für Teilhabe mehr Gedanken zu machen: Erreichbarkeit, Finanzierbarkeit, rechtliche Schranken, Bildung.
Einstieg: Ich beginne mit zwei Zitaten.
Das erste Zitat ist kurz und stammt von Max Frisch anlässlich einer Generalversammlung des Deutschen Bühnenvereins vor etlichen Jahren. Er sagte sinngemäß: „Stellen Sie sich vor, die Theater schließen und keiner merkt es.“
Das zweite Zitat ist etwas länger und stammt von der Marketing-Direktorin des Cincinnati Symphony Orchestra, Sonja Ostendorf-Rupp (2013): „Die neueste Umfrage des National Endowment fort the Arts zur Teilnahme der Bevölkerung an kulturellen Ereignissen… bestätigte, dass die Teilnahme an der so genannten Hochkultur weiter sinkt. Dies gilt für die Sparten Ballett, Theater, Oper, Symphonie und Museum. Besorgniserregend ist insbesondere der Besucherschwund bei der jungen, weißen und gut ausgebildeten Bevölkerung, die traditionell den Nachwuchs für das Kernpublikum der oben genannten Sparten bildete.… Die Erwartungen an die Präsentation und Vermittlung von Kunst und Kultur haben sich maßgeblich verändert.“
In der Diskussion, wie der seit Jahrzehnten anhaltende negative Besuchertrend umzukehren sei, fallen immer wieder drei Stichwörter: Relevanz, meaning and value (Sinn und Wert) und Engagement (im Sinne von Einbindung). Die meisten amerikanischen Institutionen sind ohne nennenswerte direkte staatliche Finanzierung abhängig von Eintrittsgeldern sowie Einnahmen aus Geschäftsbetrieb und Spenden. Das sinkende Verständnis der Bevölkerung für die traditionelle Arbeit von Kulturinstitutionen (abzulesen in den sinkenden Besucherzahlen als auch einem Spendenniveau, das immer noch unter dem von 2008 liegt) zwingt die Institutionen, neue Wege der Kommunikation, Kooperation und Programmgestaltung zu gehen. Immer häufiger verlassen die Institutionen ihre Stammhäuser, um Menschen außerhalb der mit Tradition und Riten besetzten Räumlichkeiten neu zu begegnen.“
Ich werde mich nun mit meinem Thema in zwei Teilen befassen.
In einem ersten Teil werde ich fragen, warum die in den Zitaten vorgestellten Befunde so schlimm sind. Denn Angebote kommen und gehen. Man kann sogar sagen, dass die Geschichte der Künste, vor allem die Geschichte des Theaters auch eine Geschichte des Scheiterns ist. Man erinnere sich etwa an das Scheitern von Lessing in Hamburg, der versucht hat, ohne Subventionen ein ästhetisch anspruchsvolles Theater durchzusetzen. Man erinnere sich daran, dass berühmte Maler wie van Gogh kaum etwas von ihren Werken haben verkaufen können. Goethe als Schauspielleiter in Weimar hatte alle möglichen seichten Stücke auf dem Spielplan. Nur zwei Namen tauchen kaum auf, nämlich die Namen Goethe und Schiller. Bei den Schriftstellern weiß man, dass über 90 % von ihnen einen Brotberuf brauchen, weil sie nicht von ihrem eigenen Schreiben leben können. Wozu also aufregen, wenn Kultureinrichtungen schließen müssen, weil sich die Menschen nicht mehr dafür interessieren?
In einem zweiten Teil geht es dann um die Frage, was man tun kann, um diese (Horror-)Vision einer Zerstörung von kultureller Infrastruktur zu verhindern.
Warum ist es schlimm, wenn Kultureinrichtungen verschwinden und wenn die Menschen sich immer weniger mit Künsten befassen?
Auf die in der Überschrift gestellte Frage gibt es mehrere Antworten.
Eine erste Antwort besteht darin, eine anthropologische Notwendigkeit der Künste für das Menschsein zu belegen (Fuchs 2008a, 2011a). Dazu muss man zurück zu den Wurzeln der Entstehung des Menschen gehen, denn hierbei kann man zeigen, dass von Anfang an eine künstlerisch-ästhetische Praxis zu finden ist. Man erinnere sich an die frühzeitlichen Musikinstrumente, die vor einigen Jahren gefunden wurden und bei denen Musikwissenschaftler herausgefunden haben, wie sie zu spielen sind. Man kennt die vielfältigen Höhlenmalereien aus der frühen Steinzeit, die mit beachtlicher ästhetischer Qualität Szenen aus dem Alltag der damaligen Menschen darstellen. All diese Funde weisen darauf hin, dass ohne Kunst menschliches Leben nicht bloß unvollständig ist, sondern hätte gar nicht entstehen können.
Über die Notwendigkeit einer ästhetischen Praxis bei der Menschwerdung gibt es viele interessante Theorien. Ich will an dieser Stelle nur darauf hinweisen, dass sich etwa Wolfgang Welsch, einer der wichtigsten deutschsprachigen Philosophen am Ende des letzten Jahrhunderts, inzwischen sich sehr intensiv mit einer evolutionären Ästhetik befasst. Andere Philosophen wie Ernst Cassirer oder Helmut Plessner geben in ihren anthropologischen Entwürfen einer ästhetischen Praxis einen wichtigen Platz. Allerdings muss man berücksichtigen, dass es bei diesen Untersuchungen um eine alltägliche ästhetische Praxis geht, die eine wichtige Rolle im Überleben der Menschen gespielt hat, die also eine Überlebensrelevanz hat. Verstehen kann man diesenTatsache nur, wenn man - zumindest zeitweilig - sich von dem mitteleuropäischen Begriff der „autonomen Kunst“ löst.
In eine ähnliche Richtung geht die Argumentation, dass es keine einzige menschliche Gesellschaft gibt, die ohne Tanzen, ohne Theaterspiel, ohne Gestaltungsprozesse auskommen. Auch in der Entwicklung jedes einzelnen Menschen, der Ontogenese, spielen ästhetische Praktiken eine unverzichtbare Rolle.
Diese Lebensrelevanz der ästhetischen Praktiken hat schließlich dazu geführt, dass es in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und in allen inzwischen existierenden Menschenrechtskonventionen und Pakten einen Artikel gibt, der von einem Menschenrecht auf kulturelle Teilhabe spricht. In der Kinderrechtskonvention heißt es sogar, dass Kinder ein Recht auf Spiel und Kunst haben. Wichtig ist hierbei, dass man immer daran denken muss, dass es hier um ein weites Verständnis von ästhetischer Praxis geht. Wie wichtig es ist, immer an diesen Tatbestand zu erinnern, kann man etwa an einem Fehler bei der Planung der ersten Weltkonferenz zur künstlerischen Bildung im Jahre 2006 in Lissabon erinnern: dort hatte die Geschäftsstelle der UNESCO sich sehr stark auf die mitteleuropäischen Traditionskünste wie Musik, bildende Kunst und Theater konzentriert, was dazu geführt hat, dass Kolleginnen und Kollegen aus Afrika, Südamerika und Asien darauf hinweisen mussten, dass in ihren Heimatländern ganz andere Kunstformen eine sehr viel wichtigere Rolle spielen (zum Beispiel Haareflechten, Stelzen laufen oder Weben).
Eine zweite Begründung für die Notwendigkeit von Kunst und ästhetischer Praxis ist eine politische. Diese bezieht sich zunächst einmal auf die westliche Tradition. Man erinnere sich, dass Ästhetik als Spezialdisziplin der Philosophie erst Mitte des 18. Jahrhunderts entstanden ist (Alexander Baumgarten). Der neue Ästhetikdiskurs war dabei eng verbunden nicht nur mit der Entwicklung der Moderne, sondern speziell mit der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft und der Genese des bürgerlichen Subjekts (Eagleton 1994).
Auch bei dem Aufbau der heute so oft angesprochenen dichten kulturellen Infrastruktur in Deutschland im 19. Jahrhundert spielte es eine entscheidende Rolle, dass es mit dem Bürgertum eine potente Trägergruppe gegeben hat, die nicht bloß die Mittel hatte, eine solche Infrastruktur aufzubauen und zu erhalten, sondern die auch ein genuines Interesse an dieser Infrastruktur hatte. Denn man kann zeigen, dass die Theater, Museen und Opernhäusern eine wichtige Rolle bei der Entwicklung und Festigung einer bürgerlichen Identität gespielt haben. Dies ist insofern heute noch relevant, weil - man erinnere sich an das Eingangszitat - man heute feststellen muss, dass es offenbar gerade in dieser Trägergruppe des Bürgertums ein abnehmende Interesse an dem Erhalt dieser Kultureinrichtungen gibt (Nipperdey 1990).
Ein weiterer wichtiger Hinweis bezieht sich auf den französischen Kultursoziologen Pierre Bourdieu (1987). In seiner umfangreichen Studie“ Der kleine Unterschied“ fasst er die Ergebnisse der bislang umfangreichsten empirischen Untersuchungen ästhetischer Präferenzen in der französischen Bevölkerung zusammen. Sein in unserem Zusammenhang wichtigstes Ergebnis besteht darin, dass ästhetische Praxis überhaupt keine harmlose Erscheinung ist, sondern ganz wesentlich dazu beiträgt, dass die Struktur der Gesellschaft erhalten bleibt. „Sage mir, womit du dich kulturell befasst, und ich sage dir, wo dein Platz in der Gesellschaft ist!“, so könnte man die zentrale Aussage dieser Studien zusammenfassen. Durch unterschiedliche ästhetische Praxen entstehen Prozesse der Distinktion, die nicht bloß die Verschiedenheit des Geschmacks in der Gesellschaft illustrieren, sondern die auch eine hohe politische Bedeutung haben.
Für die Pädagogik ist diese Erkenntnis insofern wichtig, als sich darin auch eine gute Begründung für eine umfassende ästhetische Bildung findet. So hat der damalige französische Staatspräsident das College de France beauftragt, ein Curriculum für die Schulen in Frankreich zu entwickeln. Auf der Basis der Ergebnisse der Studien von Bourdieu hat man sich dabei an dem Ziel orientiert, eine hohe ästhetische Souveränität für alle Kinder und Jugendlichen sicherzustellen. Dies bedeutete nicht, dass nun jeder die Werke der Hochkultur wertschätzen musste. Es sollte nur nicht länger so sein, dass man sie aufgrund einer ästhetischen Nicht-Kompetenz ablehnte.
So sehr man diese politische Wirkung einer ästhetischen Praxis bedauert, so muss man doch feststellen, dass sie immerhin eine Begründung für die Erhaltung von Kultureinrichtungen zumindest für eine bestimmte Trägergruppe liefert.
Nun verändern sich Gesellschaften, so dass sich die Frage stellt, ob der von Bourdieu festgestellte Distinktionsprozess auch heute noch in dieser Form stattfindet. Neuere Studien aus Frankreich zeigen allerdings, dass es in dieser Frage zu Veränderungen gekommen ist (Lahire 2006). So wird festgestellt, dass in den letzten Jahren eine Pluralisierung des ästhetischen Geschmacks bei jedem einzelnen stattgefunden hat, so dass sich jeder einzelne in unterschiedlichen Geschmacksgemeinschaften zuhause fühlen kann. Dies bedeutet allerdings auch, dass die hegemoniale Rolle einer hochkulturellen Geschmackspräferenz in dieser Form nicht mehr existiert. Dies bedeutet kulturpolitisch zugleich, dass das, was in wichtigen Kunstzeitschriften seit vielen Jahren diskutiert wird, eine Begründung erfährt: dass nämlich das traditionelle Stammpublikum kultureller Einrichtungen wegbricht einfach deshalb, weil es offenbar die Distinktionsfunktion dieser Einrichtungen nicht mehr benötigt.
Vor diesem Hintergrund wird vielleicht auch verständlich, dass es inzwischen in einzelnen großen Städten zu Demonstrationen gegen die Subventionierung der Oper gekommen ist. So hat man bei einer großen Demonstration in Bonn etwa die Tatsache beklagt, dass die Subventionierung einer einzigen Opernvorstellung mehr Geld benötigt, als für den Breitensport im ganzen Jahr zur Verfügung gestellt wird. Aus dieser Situation könnten sich schwierige Legitimations-Diskussionen ergeben, bei denen der Kulturbereich keine guten Karten hat.
Ein weiterer Aspekt ist bei der Frage nach der Relevanz der Künste in der modernen Gesellschaft zu beachten. Die Moderne ist angetreten mit einer Vielzahl vollmundiger Versprechungen: Wohlstand, Frieden, Freiheit, Menschenwürde, autonome Lebensgestaltung. Allerdings hat man relativ bald festgestellt, dass sich in der Entwicklung der Moderne erhebliche Pathologien ergeben, so dass heute eine Geschichte der Kultur der Moderne sehr gut als eine Geschichte der Kritik der Kultur der Moderne geschrieben werden kann (Bollenbeck 2007). Mitte des 18. Jahrhunderts hat Rousseau in seiner denkwürdigen Preisschrift einen ersten vehementen Protest gegen die Moderne formuliert. Am Beginn des 19. Jahrhunderts formierte sich die Romantik als Gegenbewegung zu einer Aufklärung, die an einen unablässigen Fortschritt der Gesellschaft glaubte. Am Ende des 19. Jahrhunderts wuchs die Bedeutung von Friedrich Nietzsche, der alle Protest- und Reformbewegung gegen die industrielle Moderne beeinflusste.
Vor dem Hintergrund einer solchen massiven Kritik an den Entwicklungstendenzen sah man in den Künsten und in den Künstlern Hoffnungsträger für eine bessere Welt. In der Romantik begann man, die Künste als funktionales Äquivalent für Religion zu sehen. Es entstand eine Kunstreligion, in der Kunst und Künstler auf ein Podest gestellt wurden. Dies hat die Erziehungswissenschaftlerin Yvonne Ehrenspeck zum Anlass genommen, die „Versprechungen des Ästhetischen“ (1998) kritisch zu hinterfragen mit dem Ergebnis, dass es zu erheblichen Überforderungen der Künste und des Ästhetischen gekommen ist.
Aktuell stellt sich daher die Frage, was die Künste und was eine ästhetische Praxis tatsächlich sowohl für den Einzelnen als auch für die Gesellschaft leisten können. Wir erleben im Moment eine Konjunktur kultureller Bildung. Viele nehmen dies mit großer Genugtuung zur Kenntnis. Möglicherweise steckt allerdings ein Wermutstropfen in diesen ganzen Prozessen einer verstärkten Förderung kultureller Bildung, insofern ein wichtiger Bestandteil aller Förderprogramme die Untersuchung realer Wirkungen der praktischen Bildungsarbeit ist. Man wird gespannt sein, wie - gerade in Zeiten einer evidenzbasierten Politik - diese Forschungen ausgehen werden.
Was tun – Stellschrauben für Teilhabe?
Das Ziel der Kulturpolitik und jeder einzelnen Kultureinrichtungen muss darin bestehen, die kulturelle Teilhabe zu verbessern. Es ist dabei daran zu erinnern, dass kulturelle Teilhabe international der am besten begründet und abgesicherte Leitbegriff ist. Doch was kann man tun? Ich fand es nützlich, sich in einem verwandten Nachbarbereich der Kulturpolitik, nämlich der Sozialpolitik, zu informieren, wie der Diskussionsstand dort ist. So hat sich der renommierte Sozialpolitikforscher Franz Xaver Kaufmann (2003) damit befasst, in welcher Weise soziale Teilhabe – wie kulturelle Teilhabe auch ein Menschenrecht – verbessert werden kann. Er hat dabei vier Stellschrauben identifiziert:
>>Erreichbarkeit,
>>Finanzierbarkeit,
>>rechtliche Schranken,
>>Bildung.
Zusätzlich scheint es mir sinnvoll zu sein, die in dem Eingangszitat erwähnten Begriffe wie Relevanz, Sinn und Wert und Einbindung mit zu berücksichtigen. Überträgt man diese Begriffe auf die Kulturpolitik, so stellt man schnell fest, dass sie auch im Hinblick auf kulturelle Teilhabe eine große Relevanz haben:
Erreichbarkeit: Gerade unsere großen Kultureinrichtungen befinden sich im Zentrum unserer Städte und sind aus verschiedenen Gründen von Menschen, die in den Randbezirken leben, nicht sonderlich gut erreichbar. Zum einen ist der öffentliche Nahverkehr nicht überall gut ausgebaut, zum andern entstehen hierbei erhebliche Kosten. Was kann man in dieser Situation tun? Eine Möglichkeit besteht darin, dass die Mitarbeiter von Kultureinrichtungen ihre Häuser verlassen und sich - zumindest zum Teil - auf eine aufsuchende Kulturarbeit umstellen. Ein wichtiges und funktionierendes Instrument ist zudem der Ausbau der Kooperationen mit solchen Einrichtungen, in denen man diejenigen findet, die man gerne als Besucher gewinnen möchte.
Ein sehr schönes Beispiel habe ich vor einiger Zeit bei der Komischen Oper in Berlin erlebt. Diese feierte ein rundes Jubiläum in Hinblick auf ihren Arbeitsbereich Kinderoper. Man konnte erleben, dass die gesamte Oper komplett gefüllt war mit neugierigen Kindern, was dadurch zu Stande kam, dass die Oper ein intensives Kooperationsprogramm mit Schulen betreibt. Ein weiterer Aspekt ist in diesem Kontext wichtig: die Tatsache nämlich dass die komische Oper ihren Arbeitsbereich Kinderoper genauso behandelt wie die Erwachsenenoper, d.h., dass für Produktionen dieselben Ressourcen zur Verfügung gestellt werden. Damit wird eine Wertschätzung des Publikums ausgedrückt.
Finanzierbarkeit: Natürlich spielt gerade bei Menschen mit geringem Einkommen der Eintrittspreis eine große Rolle. Man muss sich nur einmal überlegen, ein wie niedriger Betrag bei Hartz IV-Empfängern für Freizeitgestaltung vorgesehen ist. Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass im Hinblick auf eine kulturelle Teilhabe aller Menschen der Preis eine zwar wichtige, aber nicht alleine ausreichende Rolle spielt. Denn man hat in anderen Ländern (England, Niederlande, skandinavische Länder) die Erfahrung gemacht, dass bei einem Wegfall von Eintrittspreisen zwar die Anzahl der Besucher vergrößert wird, es kommen allerdings auch dann nur die Besucher aus derselben Gruppe der Bevölkerung. Das heißt, man braucht weitere Anstrengungen und weitere Ideen, um über den Kreis der traditionellen Kulturbesucher hinaus zukommen.
Bildung: Es liegt auf der Hand, dass sich Kunstwerke nicht immer unmittelbar jedem erschließen. Viele Werke brauchen zu ihrem Verständnis ein gewisses Vorwissen, ein Verständnis für die Arbeitsweise des Künstlers. Kulturelle Bildung ist also so gesehen in der Tat eine Voraussetzung für Teilhabe. Es gilt allerdings auch das Umgekehrte: Kulturelle Bildung entsteht erst dadurch, dass ich mich selber in eine ästhetische Praxis begebe oder mit künstlerischen Produkten und Prozessen auseinandersetze. Teilhabe ist also so gesehen auch die Voraussetzung dafür, dass kulturelle Bildung entstehen kann.
Diese scheinbare Widersprüchlichkeit löst sich in einer Weise, dass man kulturelle Teilhabe auf der einen Seite und kulturelle Bildung auf der anderen Seite als Kategorien ansehen muss, die sich auf derselben Abstraktionsebene befinden: Es gibt ein wechselseitiges Bedingungsverhältnis.
Schlussbemerkung
Es liegen inzwischen vielfältige Erfahrungen von Kultureinrichtungen vor, dass und wie man die kulturelle Teilhabe der Menschen verbessern kann. Aus meiner Sicht gibt es allerdings ein zentrales Hindernis: den Aspekt der Einstellung der Menschen, die in diesem Feld beschäftigt sind. Man muss nämlich akzeptieren, dass die Realisierung von kultureller Teilhabe ein gleichberechtigtes Ziel ist neben dem Ziel, interessante und innovative künstlerische Werke herzustellen. Dies bedeutet insbesondere, dass man neben einem Kulturauftrag auch akzeptiert, dass Kultureinrichtungen einen Bildungsauftrag haben.
Notwendig ist dabei auch, dass sich Kultureinrichtungen immer wieder neu erfinden. Wenn die Künste die Aufgabe haben, der Gesellschaft einen Spiegel vorzuhalten, dann werden die Einrichtungen, in denen diese Künste praktiziert werden, die Veränderungen in der Gesellschaft auch zur Kenntnis nehmen müssen.
Nach wie vor ist als kritischer Hinweis das Kapitel zu Kulturpolitik in dem damaligen kultursoziologischen Bestseller von Gerhard Schulze (Die Erlebnisgesellschaft 1992) ernst zu nehmen. Dort ist zu lesen, dass Selbsterhaltung eine zentrale Handlungsmaxime in der Kulturpolitik ist. Es könnte sein, dass aufgrund der oben skizzierten Legitimationsprobleme dieses Ziel von denjenigen, die die Finanzen bereitstellen, nicht länger akzeptiert wird.
Ich komme daher nochmal auf den eingangs zitierten Text von Sonja Ostendorf-Rupp zurück, die ihren Beitrag mit den Worten abschließt: „Der heute als Zwang empfundene Druck für US Institutionen, neue Wege zu begehen, führt langfristig hoffentlich zu einer Erhaltung oder Wiederbelebung der Relevanz der Kulturinstitutionen, damit diese auch weit in das 21. Jahrhundert hinein noch eine Rolle spielen – in einer dann zeitgemäßen Form.“