Sexismen entnormalisieren! Chancen und Herausforderungen im Zusammenspiel gendertheoretischer Ansätze und theaterpädagogischer Vermittlungsarbeit
Abstract
Die von der MeToo-Bewegung angestoßene Sexismus-Debatte wird in Deutschland derzeit von einer Reihe von theaterpädagogischen Projekten aufgegriffen. Ausgangspunkt der Vermittlungsarbeit ist dabei häufig die Entwicklung eines Bewusstseins für strukturell verankerten Sexismus. In den Projekten treffen gendertheoretische Ansätze auf theaterpädagogische Methodik. Die vorliegende Arbeit (eine Zusammenfassung meiner Masterarbeit), nimmt dies zum Anlass für eine intensive Auseinandersetzung mit theaterpädagogischer Vermittlungsarbeit von Genderbewusstsein. Im Fokus steht die Frage, welche Möglichkeiten und Herausforderungen sich im Zusammenwirken von gendertheoretischen Ansätzen und theaterpädagogischer Methodik für die Vermittlungsarbeit von Genderbewusstsein ergeben.
Ausgangspunkt der Arbeit ist eine Untersuchung des Begleitprogramms der Inszenierung STÖREN des Maxim Gorki Theaters in Berlin. Das Begleitprogramm von STÖREN setzt sich aus theaterpädagogischen Workshops für Schulen zusammen, die sich basierend auf der Inszenierung dem Thema Sexismus im öffentlichen Raum aus weiblicher Perspektive annehmen. Das Ergebnis der Untersuchung: Für die methodische Ausrichtung der Vermittlungsarbeit macht es einen Unterschied, aus welcher gendertheoretischen bzw. intersektionalen Perspektive Sexismus betrachtet wird. Für die theaterpädagogische Vermittlungsarbeit von Genderbewusstsein wird daher eine enge Zusammenarbeit von Theaterpädagog*innen und gendertheoretischen Expert*innen empfohlen.
Theaterpädagogische Sensibilisierungsarbeit für den Themenkomplex Sexismus
Die mit der MeToo-Bewegung zusammenhängende Sexismus-Debatte wurde unter anderem in einigen deutschen Theatern in Form von Inszenierungen und theaterpädagogischen Projekten verarbeitet. Eines dieser Projekte ist die vom Maxim Gorki Theater Berlin initiierte Inszenierung STÖREN mit einem theaterpädagogischen Begleitprogramm, in welchem das Thema Sexismus im öffentlichen Raum aus einer weiblichen Perspektive mit Schulklassen sowie Lehrer*innen in den Blick genommen wird. Eines der Ziele des STÖREN-Projekts ist es, dass Teilnehmenden des Begleitprogramms sowie Zuschauer*innen der Inszenierung STÖREN die Möglichkeit gegeben wird, ein Bewusstsein für Sexismuserfahrungen junger Frauen im öffentlichen Raum zu entwickeln.
Methodisches Vorgehen
Der Artikel thematisiert die theaterpädagogische Vermittlungsarbeit von Genderbewusstsein anhand des Projekts STÖREN. Theaterpädagogische Vermittlungsarbeit ermöglicht aufgrund der durch das Spiel angesprochenen Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsebenen eine besondere Plattform für die Auseinandersetzung mit gesellschaftspolitischen Themen (vgl. Martens 2012:59). Exemplarisch hierfür steht die feministische Theaterpädagogik, die sich im Speziellen der Selbstermächtigung von Mädchen und Frauen in einer patriarchal geprägten Gesellschaft annimmt. Welche Potenziale das Zusammenwirken von theoretisch fundiertem Wissen und theaterpädagogischer Methodik für die Vermittlungsarbeit von Genderbewusstsein entfalten kann und welche Herausforderungen darüber hinaus bestehen, liegt im Interesse des Beitrags und wird anhand der folgenden forschungsleitenden Fragestellung untersucht: Welche Möglichkeiten und Herausforderungen ergeben sich im Zusammenwirken gendertheoretischer Ansätze und theaterpädagogischer Methodik für die Vermittlungsarbeit von Genderbewusstsein?
Die vorliegende Auseinandersetzung ist keine wirkungsforschungsbasierte Analyse und behandelt daher nicht die Wirksamkeit der Vermittlungsarbeit auf Teilnehmende. Es geht in der vorliegenden Untersuchung vielmehr darum, in welcher Weise sich theoriegeleitete Reflexion von Gender und theaterpädagogische Praxis wechselseitig hinsichtlich der Vermittlung von Genderbewusstsein beeinflussen.
Zur Beantwortung der Forschungsfrage wurde eine teilnehmende Beobachtung durchgeführt sowie drei Expert*inneninterviews mit der verantwortlichen theaterpädagogischen Leitung und zwei Anleiterinnen des Begleitprogramms zur Inszenierung STÖREN. Die dabei gewonnenen Ergebnisse werden mithilfe der induktiven Kategorienbildung und Zusammenfassung ausgewertet.
Gender, die Vermittlung von Gender und Theaterpädagogik sind Themenkomplexe mit diversen Ansätzen und Perspektiven, die in theoriegeleiteten Diskursen verhandelt werden.
Diese Diskurse können in folgende zwei Ausrichtungen ausdifferenziert werden: den Egalitätsfeminismus und den Differenzfeminismus (vgl. Babka/Posselt 2016). Der Egalitätsfeminismus setzt sich dabei für die Gleichheit der Geschlechter ein, der Differenzfeminismus plädiert für die Berücksichtigung des Unterschieds zwischen den Geschlechtern in theoretischen Diskursen. Dem Differenzfeminismus liegt entweder Essentialismus oder Konstruktivismus zugrunde. Im Essentialismus wird davon ausgegangen, dass der Unterschied zwischen Geschlechtern naturbedingt ist. Im Konstruktivismus hingegen sind Unterschiede zwischen Geschlechtern gesellschaftlich konstruiert (vgl. ebd.:31). Für den essentialistisch-differenztheoretischen Ansatz wurden die Werke von Luce Irigaray (1979) und Simone de Beauvoir (2004) verarbeitet, für die (de-)konstruktivistische Perspektive die Werke von Judith Butler sowie Candance West und Jon H. Zimmerman (1987) zugezogen. Zudem wurde die intersektionale Perspektive durch das Konzept zur Intersektionalität von Kimberle Crenshaw (1989) vorgestellt.
Ausgangspunkt der Untersuchung: Projekt STÖREN
Gorki X ist der Bereich des Maxim Gorki Theater Berlin, an welchem theaterpädagogische Vermittlungsarbeit zu den Inszenierungen des Hauses angeboten wird. Gorki X führt vorbereitende sowie nachbereitende Workshops durch, die „eine aktive Beteiligung am Theater, seinen Themen, Diskurs- und Denkräumen ermöglichen“ (Maxim Gorki Theater 2019). Neben den interaktiv ausgelegten Angeboten wie Labor und Club schafft Gorki X über die Rubrik Schule einen Raum, in welchem eine Kooperation zwischen Theater und Schulen stattfindet und Schüler*innen sowie Lehrer*innen an theaterpädagogischen Workshops oder Projekten zu den Inszenierungen des Hauses teilnehmen können. (Maxim Gorki Theater 2019)
Das Stück STÖREN wurde entwickelt durch nicht-professionelle Darsteller*innen zwischen 18 und 24 Jahren, die sich mit weiblichen Positionen im öffentlichen Raum auseinandersetzten und auf Grundlage dessen und eigener Erfahrungen das Stück mitentwickelten. STÖREN thematisiert stereotype Geschlechterrollen, Sexismus und die Erfahrungen mit Sexismus im öffentlichen Raum aus der Perspektive von jungen Frauen.
Gorki X bietet zu der Inszenierung STÖREN ein Begleitprogramm für Schulen an zur Auseinandersetzung mit Sexismus und feministischen Sichtweisen auf patriarchale Strukturen. Anfang des Jahres 2019 fanden eine themenspezifische eintägige Fortbildung für Lehrer*innen sowie nachbereitende Workshops zur Inszenierung STÖREN für Schulklassen statt.
Die Lehrer*innenfortbildung fand im Maxim Gorki Theater Berlin mit der Zielsetzung statt, mit einem kurzen, theoretischen Input zu den Themen Sexismus und Feminismus die Fortbildung zu eröffnen, um darauffolgend in das Kennenlernen von vorwiegend theaterpädagogische Mitteln zur Reflexion und zum Aufbrechen einschränkender Geschlechterrollenbilder einzusteigen. Es handelte sich vorwiegend um diejenigen theaterpraktischen Mittel, die auch in den Nachbereitungsworkshops mit Schüler*innen durchgeführt wurden. Das erarbeitete Repertoire an methodischen Vorgehensweisen wurde anschließend den Teilnehmenden in einer Materialmappe zur Verfügung gestellt.
Nach der eintägigen Fortbildung für Lehrer*innen bestand das Vermittlungsprogramm aus nachbereitenden Workshops für Schüler*innen zur Reflexion der Inszenierung STÖREN.
Zusammenspiel gendertheoretischer Perspektiven und theaterpädagogischer Methodik
Aus den Ergebnissen meiner Masterarbeit gehen folgende Aspekte hervor, die für die theaterpädagogische Vermittlungsarbeit von Genderbewusstsein relevant sind: Es wurden verschiedene Genderdiskurse erkannt, die in Bezug auf die Planung und Durchführung des Begleitprogramms zu STÖREN thematisch er- und verarbeitet wurden. Die verhandelten Themen im Rahmen des Projekts STÖREN sind Feminismus, beziehungsweise Feminismen, Sexismus, Sexismus aus einer intersektionalen Perspektive sowie queere Gesichtspunkte. Es stellte sich heraus, dass die Themen an jeweils unterschiedlichen Bereichen des Projekts mehr oder minder zum Vorschein kamen. In der Fortbildung zu STÖREN etwa wurden seitens der Lehrer*innen vorwiegend queere Lebensrealitäten der Schüler*innen thematisiert, während in den nachbereitenden Workshops mit Schüler*innen die Reflexion ihrer Erfahrungen mit Sexismus im öffentlichen Raum im Vordergrund stand. Des Weiteren ist die intersektionale Perspektive bedeutsam, wenn sexistische Verhaltensweisen mit rassistischen Zuschreibungen in Verbindung gebracht werden. Beispielsweise wurden seitens der Teilnehmenden mehrmals junge Männer mit Migrations- bzw. Fluchthintergrund als Täterexemplare für sexistisches Verhalten ausgewiesen.
Die vorliegenden Ergebnisse verdeutlichen die Relevanz für die Einbindung gendertheoretischer Expertise und diesbezüglicher Kenntnisse. Insbesondere wurde die für die Vermittlungsarbeit entstandene Wechselwirkung von dem inhaltlichen Aspekt, in dem Fall gendertheoretische Diskurse, mit dem methodischen Aspekt, in dem Fall theaterpädagogische Methoden und Techniken, angesprochen und reflektiert. Sich diesem Themenspektrum anhand theaterpädagogischer sowie theatraler Mittel zu widmen, eröffnet neue Erfahrungen auf mehreren Ebenen – für Teilnehmende wie für Anleitende. Diese Annahme wurde sowohl in den Interviews geäußert als auch in der teilnehmenden Beobachtung wahrgenommen.
Für die Vermittlungsarbeit stellte sich zudem das Selbstverständnis der Anleiter*innen als Moderator*innen der entstehenden Diskussionen im Workshop als wichtige Voraussetzung heraus, um Teilnehmenden einen offenen Raum zu bieten, in welchem sie verschiedene Erfahrungen und Sichtweisen ohne Furcht vor Sanktionierung äußern und untereinander diskutieren können.
Multiperspektivische Beleuchtung der theaterpädagogischen Vermittlungsarbeit zum Themenkomplex Gender
Das Vorhaben, Genderbewusstsein zu vermitteln, ist komplex. Es impliziert erstens das Wissen um theoretische Genderdiskurse, zweitens die Reflexion dieser Diskurse sowie die Entscheidung, welche feministische oder gendertheoretische Annahme als Basis für die Vermittlung zugezogen wird. Darüber hinaus wird die methodische Kompetenz vorausgesetzt, um die Auseinandersetzung mit Genderbewusstsein in einem geschützten Kontext zu ermöglichen.
In der Planung des Begleitprogramms zu STÖREN stellte sich heraus, dass der Austausch zwischen theoretischer Expertin und Theaterpädagogin die Wechselwirkung von gendertheoretischen Diskursen und theaterpädagogischen Mitteln bedingt. Einerseits werden ausgehend von der Inszenierung STÖREN theaterpädagogische Formate für die Workshops gewählt. Da das Theaterstück ebenso mithilfe von Recherchen zur Sexismus-Debatte entwickelt wurde, ist zwar auch hier eine theoriegeleitete Basis vorhanden, die theaterpädagogische Übungen in den Workshops mittragen. Die theaterpädagogischen Übungen erneut auf theoriegeleiteter Ebene zu reflektieren, ist für die Prüfung ihrer Zielsetzung dennoch sinnvoll. Andererseits wurden bestimmte theoretische Aspekte in die Planung des Workshops mit aufgenommen und versucht, hierfür eine passende theaterpädagogische Übung zu finden. Dieses beidseitige Verhältnis führt zu einer besonderen Verknüpfung von Theorie und Praxis.
Wie kann es Theaterpädagog*innen gelingen, das Wissen um gendertheoretische Diskurse aufzubauen und weiter zu vertiefen? Der Themenkomplex Sexismus enthält eine Bandbreite an theoretischen Diskursen, die nicht ohne vertiefende und (zeit)intensive Auseinandersetzung zu überblicken sind. Um dieser Herausforderung gerecht zu werden, bedarf es einer Zusammenarbeit mit spezialisierten Expert*innen, die sich sowohl theoretisch als auch erfahrungsbasiert intensiv mit dem Thema befassen. Der Einbezug theoretischer Diskurse in die Planung des Projekts STÖREN kann zu einer Verflechtung von Theorie und Praxis und damit zu gewinnbringenden Erkenntnissen für die Ausrichtung des Workshops führen. Jedoch kann aufgrund des Fokus‘ auf gendertheoretische und feministische Annahmen ebenso eine Diskrepanz zur Praxis mit den Erfahrungen von Teilnehmenden entstehen. Wie Gitta Martens die Lage der feministischen Theaterpädagogik beschrieb, konnten gendertheoretische und feministische Ansätze nicht in theaterpädagogische Übungen transferiert werden, da die Teilnehmerinnen unterschiedliche Erwartungen an das jeweilige Projekt formulierten und dies zu einem Zielkonflikt für die Anleiterinnen führte. Zur Vereinfachung richtete sich die feministische Theaterpädagogik wieder nach parteilicher Mädchen- und Frauenarbeit aus (Martens 2003). Die Verortung im gendertheoretischen und feministischen Kontext ist ausschlaggebend für die Ausrichtung des Angebots. Die fortwährende Vertiefung gendertheoretischer Kenntnisse ist der Vermittlungsarbeit implizit – nicht nur das Wissen über Theorien, sondern auch um empirische Daten ist bedeutsam für das Argumentieren in Diskussionen. Das bedeutet auch, dass in einem Format wie dem Begleitprogramm zu STÖREN, in welchem auch Austausch und Reflexion stattfinden, Vermittler*innen ein theoretisches sowie bestenfalls statistisches Wissen benötigen, um beispielsweise das Hinterfragen von Geschlechterklischees zu begründen. Mit Zahlen und Fakten zu argumentieren, erscheint manchen Teilnehmenden plausibler als Erfahrungen von betroffenen Personen eher auf emotionaler Ebene zu erfassen.
Für die Vermittlung von Genderbewusstsein ist vor allen Dingen die Entscheidung von Belang, welches Themenfeld im Rahmen von Gender die Grundlage bieten soll. Wie im Projekt STÖREN selbst thematisiert wurde, gibt es nicht einen einheitlichen Feminismus, sondern Feminismen mit diversen Schwerpunktsetzungen. Die Entscheidung für einen essentialistisch-differenztheoretischen, (de-)konstruktiven Feminismus oder für eine intersektionale Perspektive auf Gender ist fundamental für die Vermittlungspraxis von Genderbewusstsein.
Inwiefern spielt die intersektionale Perspektive bei der Vermittlung von Genderbewusstsein eine Rolle? Mit dieser Sichtweise werden andere Differenzkategorien thematisiert und miteinander verwoben, die neben männlich dominierten Machtverhältnissen auch andere Hierarchien sichtbar macht, wie etwa Rassismus oder Klassismus. Doch wenn alle weiteren Differenzkategorien mitgedacht werden, inwiefern kann dann noch der Fokus auf genderbedingter Ungleichheit bestehen bleiben? Im Projekt STÖREN konnte die intersektionale Perspektive nur bedingt mitgedacht werden, da sie im Theaterstück zwar miteingeflochten, aber nicht schwerpunktmäßig in den Fokus genommen wurde. Die Inszenierung STÖREN konzentrierte sich explizit auf Sexismus im öffentlichen Raum aus der weiblichen Perspektive. Somit schaffte die Inszenierung eine Eingrenzung für die theaterpädagogische Begleitarbeit, die zu einer klaren Zielsetzung geführt hatte. Aufgrund der kurzen Zeitspanne von jeweils vier Stunden für die Nachbereitungsworkshops hätten intersektionale Aspekte auch nicht in angemessener Tiefe reflektiert werden können.
Sowohl in der Lehrer*innenfortbildung als auch in den nachbereitenden Workshops mit den Schüler*innen wurde jedoch deutlich, dass die intersektionale Perspektive wichtige Denkanstöße gegeben hätte, um die Verflechtung von Rassismus, Sexismus und Klassismus zu erkennen. In beiden Veranstaltungen wurde beispielsweise immer wieder auf junge Männer mit Migrationshintergrund verwiesen, die von vereinzelten Schülerinnen als besonders sexistisch bezeichnet wurden. Hierfür hätte es einen weiteren Raum gebraucht, in welchem die Verflechtungen verschiedener Ungleichheitskategorien und damit einhergehende machtstrukturelle Verhältnisse thematisiert und reflektiert werden. Diese Erkenntnis verweist auf die Relevanz thematischer Eingrenzung, wenn es um das Vermitteln von Genderbewusstsein geht. Mit dem Fokus auf Sexismus im öffentlichen Raum aus weiblicher Perspektive kann eine intersektionale Perspektive zwar mitgedacht, aber nicht als zentrales Element in der Vermittlungsarbeit behandelt werden.
Was bedeutet weibliche Perspektive? In der Inszenierung STÖREN werden verschiedene Themen von jungen Frauen mit unterschiedlichen Voraussetzungen aufgezeigt. Es wird etwa über das Entsprechen von Schönheitsidealen gesprochen. Je nach feministischem oder gendertheoretischem Ansatz ist ein Verständnis von Frau-Sein als Kollektiverfahrung gesetzt. Sowohl nach der Auffassung de Beauvoirs als auch Irigarays ist zwar nicht eindeutig zu fassen, was Weiblichkeit bedeutet. Der Zusammenhang zwischen Weiblichkeit und Frau als weiblicher Körper wird in beiden Ansätzen aber nicht unbedingt hinterfragt.
In den nachbereitenden Workshops wurde das Hauptaugenmerk auf der weiblichen Perspektive beibehalten. Es wurde vorwiegend koedukativ gearbeitet mit einer geschlechterspezifischen Übung gegen Ende des Workshops. In dieser Übung reflektierten die Mädchen eigene Erlebnisse und Erfahrungen mit Sexismus und entwickelten daraus eine Szene. Bei dieser Übung erhielten insbesondere die Mädchen einen geschützten Raum, in welchem sie sich explizit mit dem Thema Sexismus auseinandersetzen und untereinander austauschen konnten. Die Chance dieses Verfahrens ist das Problematisieren hegemonialer Gesellschaftsverhältnisse, die Sexismus bedingen, in einem geschützten Raum. Sexistische Erlebnisse zu entnormalisieren, wie es eine Schülerin aus dem nachbereitenden Workshop rückmeldete, ist der erste Schritt in Richtung Genderbewusstsein. Mit Entnormalisieren ist in diesem Kontext die Schärfung des Bewusstseins für sexistisches Verhalten gemeint, welches zuvor als normal und unveränderbar wahrgenommen wurde. Die Jungen setzten sich am Beispiel der Gillette-Werbung zum Thema Männlichkeit(en) mit sexistischem Verhalten gegenüber Frauen auseinander und entwickelten Handlungsstrategien, wie sexistisches Verhalten von Männern unter Männern reguliert werden könnte. Aus dekonstruktiver Sichtweise stellt sich allerdings die Frage, durch welche Determinanten bestimmt wird, wer Mädchen und wer Junge ist und inwiefern patriarchale Geschlechterrollenbilder durch die Aufteilung in Mädchen- und Jungengruppen reproduziert werden.
Anders als durch die monoedukative Praxis feministischer Theaterpädagogik oder parteilicher Mädchen- und Frauenarbeit ermöglicht die koedukative Praxis es, dass Jungen Erlebnisse und Erfahrungen von Mädchen aufnehmen und mithilfe der Szenenentwicklung erste Erfahrungen mit Handlungsstrategien gegen sexistisches Verhalten in der Öffentlichkeit generieren. Die Verantwortung bleibt nicht allein bei der betroffenen Gruppe, sondern wird als gesamtgesellschaftliches Anliegen erfasst, welches gemeinsam zu lösen ist.
Mit dem Szenenspiel hatten Mädchen und Jungen die Gelegenheit, die Rolle des jeweils anderen Geschlechts anzunehmen und somit neue Erfahrungen im geschützten Kontext des Spiels zu sammeln. Mit dem Rollentausch stellte sich die Parodie der Genderperformance heraus. Es fiel den Schüler*innen scheinbar leicht, Rollenklischees in ihren Szenen zu performen, da sie den jeweiligen Verhaltenskodex kannten und zum Teil internalisiert haben. An dieser Stelle lag allerdings eine große Verantwortung der theaterpädagogischen Anleitung darin, reproduzierte Machtverhältnisse nicht stehen zu lassen, sondern diese zu erkennen und gemeinsam mit der Gruppe zu reflektieren. Idealerweise kann mithilfe der Spielsituation ausprobiert werden, welche Handlungsstrategien möglich sind, um manifestierte Täter-Opfer-Positionen aufzubrechen. Wie an dem Beispiel der entwickelten Szene einer Mädchengruppe ersichtlich wurde, konnte die theaterpädagogische Leitung das manifestierte Rollenverhältnis zwischen einer Jungengruppe und einem Mädchen entschärfen, indem sie mehr Jungen aus der Gruppe zu dem Mädchen stellte. Eine Szene mehrmals spielen zu lassen und jedes Mal etwas an dem Rollenverhältnis zu ändern, ähnelt der Technik Widerstand gegen Unterdrückung aus Augusto Boals (1979) Theater der Unterdrückten. Für die Teilnehmenden, ob als Zuschauende oder Performende, erschließt sich in der Spielpraxis die Erkenntnis, welche Dynamik einer solchen Situation inhärent ist und wie sie verändert werden kann.
Teilnehmende können in ihrer Spielpraxis Selbstständigkeit erfahren und sich ihrer eigenen Lernprozesse bewusstwerden, wenn Theaterpädagog*innen ein Rollenverständnis von sich als begleitende, moderierende und beobachtende Anleitung verinnerlicht haben (Vaßen 2012:61). Die Anleiterinnen im Begleitprogramm zu STÖREN nahmen bewusst eine moderierende Rolle ein, um zum einen Schüler*innen auf Augenhöhe zu begegnen und zum anderen den Raum für verschiedene Positionen und Einstellungen zu öffnen.
Wie kann mit Positionen und Einstellungen von Seiten der Vermittlung umgegangen werden, die einer gendersensiblen Haltung entgegen stehen? Wie aus den vorliegen Ergebnissen deutlich wurde, ist empirisch fundiertes Wissen hilfreich, um dogmatische Aussagen infrage zu stellen. Bestenfalls diskutieren Teilnehmende untereinander, äußern sich kritisch zu den Aussagen der anderen und legen verschiedene Perspektiven auf ein Thema offen. Die Anleitung übernimmt lediglich die Moderation der Diskussion und lässt ihre Meinung außen vor. Je nachdem, welche Richtung die Diskussion einschlägt, reguliert sich die Gruppe selbst oder es wird ein Wissensinput von Seiten der Anleitung notwendig, um die Situation zu einer bereichernden Erfahrung zu machen. Das galt nicht nur für Workshops mit Schüler*innen, sondern auch für die Lehrer*innen-Fortbildung.
Welche Rolle spielt die eigene Betroffenheit oder subjektive Erfahrung der Anleitung für die Vermittlungsarbeit? Aus den Ergebnissen meiner Forschung ist zu entnehmen, dass die persönliche Betroffenheit für die Vermittlungsarbeit äußerst relevant ist, um Problematiken wie Sexismus anschaulich und nachvollziehbar zu gestalten. Sollte die Anleitung nicht über derartige Erfahrungen verfügen, ist der Miteinbezug von externen Personen empfehlenswert, die diese Betroffenheit innehaben und sich auf persönlicher sowie auf politischer Ebene mit dem Thema auseinandergesetzt haben. Wenn externe Expert*innen nicht miteinbezogen werden, ist die Integration von Zitaten oder Berichten betroffener Personen zur Affizierung eines Sachverhalts sinnvoll. Am Beispiel des Projekts STÖREN ist der Bezug durch die Inszenierung hergestellt, in welcher junge Frauen aus eigener Perspektive Erfahrungen mit Sexismus im öffentlichen Raum aus widerspiegeln. Die Vermittlungsarbeit erfolgte über drei weibliche Anleiterinnen. Wäre es auch für Männer möglich, ein solches Begleitprogramm für die Inszenierung STÖREN zu konzipieren und umzusetzen? Durch die Zugehörigkeit des Vermittlers zu der Kategorie Mann könnte die Thematisierung der weiblichen Perspektive auf Sexismus anders auf die Teilnehmenden wirken als durch weibliche Vermittlerinnen. Es ist möglich, dass die Betroffenheit der Anleitung Auswirkungen auf die Inhalte der Vermittlung hat, selbst wenn der Kontext durch Material oder durch ein Theaterstück gesetzt wird und nicht durch die Haltung der anleitenden Person. Diese lediglich theoretische Annahme kann anhand des zu untersuchenden Projekts STÖREN, welches ausschließlich aus weiblichen Vermittlerinnen bestand, nicht geprüft werden, könne aber im Rahmen eines anderen, gemischtgeschlechtlichen Projekts erforscht werden.
Feministische Pädagogik oder Mädchen- und Frauenarbeit auf differenzfeministischer Basis würde aufgrund des Parteilichkeitsprinzips nicht nur für Monoedukation stehen, sondern der Geschlechtszugehörigkeit der Anleitung erhebliche Relevanz beimessen – Mädchengruppen sollten dementsprechend von Frauen angeleitet werden. Aus konstruktivistischer Sicht ist das Nicht-Infragestellen von Sex Category, beziehungsweise dem CIS-Geschlecht, zu kritisieren. In solchen Konzepten wie der feministischen Mädchen- und Frauenarbeit ist das biologische Geschlecht Frau unmittelbar verbunden mit dem weiblichen sozialen Geschlecht. Was würde es bedeuten, wenn sich Personen mit dem biologischen Geschlecht Mann dem weiblichen sozialen Geschlecht angehörig fühlen oder im Rahmen dieser Binarität nicht zuordnen möchten? In welcher Weise würden diese Charakteristika auf die Vermittlungsarbeit von Genderbewusstsein wirken und inwiefern würden andere Themen mehr in den Vordergrund gerückt werden? Es ist die Entscheidung und Verantwortung der Anleitung, welche Themen in den Blick genommen und welche ausgegrenzt werden. Mit dem Festlegen der Themenschwerpunkte sowie der Workshopgestaltung ist zu beachten, dass sich die Anleitung auf ein oder mehrere theoretische Konzepte bezieht. Wenn bei der Thematisierung von Sexismus der Unterschied zwischen Frauen und Männern wesentlich ist, geht sie eher nach einem essentialistisch-differenzfeministischen Verständnis vor und hat gegebenenfalls Schwierigkeiten, (de-)konstruktivistische Perspektiven aufgrund von unterschiedlichen Zielsetzungen zu integrieren, sofern dies intendiert wird. Essentialistisch-differenzfeministische Sichtweisen akzentuieren den Unterschied zwischen Männern und Frauen und konzentrieren sich auf das Aufbrechen des patriarchal geprägten Verhältnisses, durch welches der privilegierte Status von Männern determiniert wird. Eine dekonstruktivistische Sichtweise hingegen intendiert das Aufbrechen des Dualismus zwischen den Geschlechtern und verweist auf die notwendige Differenzierung von biologischem Geschlecht, Geschlechtsidentität sowie Begehren und setzt queere Identitäten und Lebensweisen dem binären Verhältnis zwischen Frauen und Männern entgegen. Würde das Thema Sexismus im öffentlichen Raum aus einer weiblichen Perspektive dekonstruktivistisch betrachtet werden, stellt sich unter anderem die Frage, was die weibliche Perspektive ist, wer die Mädchen und Frauen sind, die Sexismus erfahren und wer die Männer sind, die sexistisches Verhalten aufzeigen. Hierdurch könnte die Gefahr bestehen, dass das Thema Sexismus aufgrund der Definitionsproblematiken in den Hintergrund rückt, obwohl die Erfahrungen der Schüler*innen in den nachbereitenden Workshops des Projekts STÖREN verdeutlichen, dass Sexismus als strukturelles Problem in ihrer Lebensrealität existiert. Daraus resultiert die Erkenntnis, dass beide Perspektiven Bestandteile des sensiblen Umgangs mit Gender sind und im Hinblick auf die Zielsetzung des jeweiligen Workshops abgewogen werden muss, auf welcher Perspektive die Vermittlung von Genderbewusstsein basiert.
Gleichsam sind auch eine inhaltliche Offenheit und Flexibilität sinnvoll, da zuvor nicht eingeschätzt werden kann, welche Themen die Teilnehmenden unter dem Stichwort Sexismus in die Workshops mit einbringen. Das können unter anderem intersektionale Aspekte sein, wie durch das Beispiel der Schülerinnen ersichtlich wurde, die sexistisches Verhalten insbesondere eher mit jungen Männern of Color verbinden, als mit weißen jungen Männern. Wie viel Raum ein solches Thema in der Debatte um Sexismus aus weiblicher Perspektive einnimmt, hängt von der inhaltlichen Ausrichtung, von vorhandenem Wissen über diesbezügliche theoretische Diskurse seitens der Anleitung und von den Rahmenbedingungen des Workshops ab.
Grenzen dieser Forschung und Perspektive für eine genderbewusste theaterpädagogische Vermittlungsarbeit
Aus meiner Masterarbeit leiten sich weitere Anknüpfungspunkte für andere, weiterführende Forschungen ab, die an dieser Stelle aufgrund der thematischen Eingrenzung nicht weiter ausgeführt werden konnten oder limitiert durch die methodische Vorgehensweise an Grenzen stieß. Sowohl die teilnehmende Beobachtung als auch das Expert*inneninterview sind Erhebungsmethoden, bei welchen unter anderem auf die Subjektbezogenheit der*s Forschenden hingewiesen werden muss. Bei der vorliegenden Durchführung der teilnehmenden Beobachtung ist zu berücksichtigen, dass das Beobachtungsprotokoll teilweise auf Grundlage des Gedächtnisprotokolls basiert, da es nicht möglich war, Beobachtungen während der Lehrer*innenfortbildung sowie der nachbereitenden Workshops unmittelbar schriftlich festzuhalten. Die Workshopatmosphäre sollte hier durch die protokollierende Beobachtende nicht negativ beeinflusst werden. Dieses Vorgehen begünstigt naturgemäß eine selektive, subjektive Wahrnehmung der*s Beobachtenden. Über das Expert*inneninterview hinaus wäre die zusätzliche Aufnahme der Erfahrungen von Lehrer*innen und Schüler*innen in das Forschungsdesign sinnvoll, um die theaterpädagogische Vermittlung von Genderbewusstsein mehrperspektivisch beleuchten zu können.
Wenn auch die vorliegenden Ergebnisse aufgrund ihrer Einzelfallbezogenheit nicht ohne weitergehende Prüfung zu generalisieren sind, können diese als Impulse fungieren sowie als Indizien zur konzeptionellen Ausrichtung weitere Forschungsarbeiten herangezogen werden. Ebenso kann das daraus entwickelte Kategoriensystem auf andere Projekte, die eine ähnliche Zielsetzung vorweisen, übertragen und weiter ausdifferenziert werden.
Die Auseinandersetzung mit Genderthemen gelingt im Theaterspielen auf mehreren Ebenen. Die Chance, im Spiel mit verschiedenen Szenarien zu experimentieren sowie diese im geschützten Rahmen auch wiederholen und verändern zu können, schafft für Teilnehmende nicht nur neue Gedanken, sondern neue Erlebnisse mit dem Thema Gender. Die Anleitung sollte das In-Szene-setzen von Erfahrungen mit Sexismus gemeinsam mit Teilnehmenden entsprechend reflektieren und unmittelbar alternative Handlungsstrategien zum Aufbrechen von Sexismus aufzeigen, damit für die Teilnehmenden ein Mehrwert an Erfahrungen entstehen kann.
Aus der vorliegenden Arbeit geht deutlich hervor, welche Bedeutung der Theorie-Praxis-Reflexion in der theaterpädagogischen Vermittlung von Genderbewusstsein beizumessen ist und welche Rolle die Zielsetzung der Vermittlung für ihre gendertheoretische und feministische Ausrichtung spielt. Die Verflechtung von theoretischem Hintergrund und theaterpädagogischer Methodik ist grundlegend, um das Potenzial theaterpädagogischer Vermittlungsarbeit in ihrer Gänze zu entfalten.