Ästhetisch-Aisthetisches Lernen

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von Gundel Mattenklott

Erscheinungsjahr: 2013/2012

Begriffsbestimmungen

Das Adjektivpaar ästhetisch/aisthetisch weist auf eine zweifache Bedeutung hin, die die Geschichte des Substantivs Ästhetik spiegelt. Durch die Geschichte der Ästhetik seit der lang­samen Einbürgerung dieses Begriffs im 18. Jh. zieht sich ein Changieren zwischen einerseits der Bedeutung von griechisch aisthesis als sinnliche Wahrnehmung/sinnliche Erkenntnis, deren Philosophie die Ästhetik sei, andererseits der Definition der Ästhetik als Philosophie der Kunst. Wie zwei farblich unterschiedliche Garnstränge sind beide Bedeutungen in historisch je unterschiedlichen Akzentuierungen miteinander verflochten. Mal scheint die eine, mal die andere zu dominieren, aber selbst in Phasen deutlicher Abgrenzung bleiben sie einander verbunden (vgl. Barck u.a. 2010:308-­400). Nicht zufällig freilich, denn trotz des historischen Wandels ist all dem, was im Lauf der Jahrhunderte als „Kunst“ bezeichnet worden ist und wird, gemeinsam, dass es in Produktion und Rezeption der Aisthesis bedarf. Diese beschränkt sich nicht auf die Reize und Leistungen der Sinnesorgane, sondern umfasst die Fähigkeit, sich Abwesendes vorzustellen. Daher gehört auch die geschriebene Literatur in den Bereich der Aisthesis: Die Lesenden verharren nicht bei den sinnlich wahrnehmbaren Schriftzeichen, sie erkennen in ihnen eine unsichtbare Welt als Schöpfung der Einbildungskraft.

Während in der frühen Diskussion über den Begriff „Ästhetik“ die griechische Wortbedeu­tung von „aisthesis“ auf die neuen deutschen Wörter Ästhetik und ästhetisch übertragen wurde, gewann vor allem in der zweiten Hälfte des 20. Jh.s das Adjektiv „ästhetisch“ ein recht diffuses Eigenleben. Umgangssprachlich oft gleichgesetzt mit schön, meint ästhetisch in den gegenwärtigen geistes-­ und kulturwissenschaftlichen Diskursen ein weites Bedeutungsfeld verschiedener Natur­-, Alltags-­, Lebenserfahrungen und -­gestaltungen, wobei es stets mit einer Reflexion auf den Gegenstand ebenso wie auf das Subjekt des Erlebens gekoppelt ist. Dieser weite Begriff wurde in den 1980er Jahren durch den sprachlichen Rückgriff auf Aisthesis zu einem emphatisch das Leibsinnliche betonenden aisthetisch zugleich differenziert und verdoppelt, sodass heute drei einander nahe Adjektive im Begriffsfeld verwendet werden: „ästhetisch/aisthetisch/künstlerisch“ (siehe Vanessa-­Isabelle Reinwand „Künstlerische Bildung – Ästhetische Bildung – Kulturelle Bildung“ ).

Zum Abschluss dieser Begriffsdifferenzierung steht noch die Bestimmung von „Kunst“ aus. Doch welche menschlichen Schöpfungen ihr zuzuordnen sind, ob sie als Qualitätssiegel oder als Ding­-Kategorie gilt, als aus dem Zeitstrom herausragendes Würde­-Objekt oder als mit ihm sich Wandelndes, nie geht ihre Vielfalt glatt auf in den philosophischen Definitionen. Es bleibt ein unreiner Rest – ein Zeichen ihrer Fülle.

Historischer Rückblick 1: Sinnliche Erkenntnis, Kunst und Spiel

Der Philosoph Alexander Gottlieb Baumgarten bezeichnet in seinen Vorlesungen (1750­-1758) Ästhetik als „Theorie der freien Künste, als untere Erkenntnislehre, als Kunst des schönen Denkens und als Kunst des der Vernunft analogen Denkens“ sowie als „die Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis“ (Baumgarten 1988:§ 1:3). Sein Werk ist keine Theorie der Sinne bzw. der Leibsinnlichkeit. Baumgarten ist eingebunden in die ästhetischen Diskurse seiner Epoche, die um das Wesen der Schönheit und die Empfindungen kreisen, die das Schöne hervorruft. Baumgarten setzt als Ziel der Ästhetik „die Vollkommenheit (Vervollkommnung) der sinnlichen Erkenntnis als solcher. Damit aber ist die Schönheit gemeint“ (Baumgarten 1988:§ 14:11). Das Schöne ist in den Künsten realisiert; im Fokus seines Interesses stehen Dichtkunst und Rhetorik. Unter der Überschrift „Die natürliche Ästhetik“ (ebd.:17) legt er die Anlagen dar, mit denen der innerlich schön Denkende begabt sein muss, ebenso wie der, „der das schön Gedachte auch unter die Menschen trägt“ (§ 37:23): die scharfe Empfindung (§ 30:18/19); „die natürliche Fähigkeit, sich etwas in der Phantasie vorzustellen“ (§ 31:19); die durchdringende Einsicht            (§ 32:19f.); „die natürliche Fähigkeit, etwas wiederzuerkennen, und das Gedächtnis“ (§ 33:21); die Fähigkeit, „die Bilder der Phantasie zueinander in Beziehung“ zu setzen und sie zu beschneiden (§ 34:21). Neben weiteren Fähigkeiten betont Baumgarten auch den „Gebrauch des Verstandes und der Vernunft“.

Die natürliche ästhetische Begabung bedarf der Übung, der eine spontane kindliche Übungslust das Feld bereitet: „Ferner wird das schöne Naturtalent auch dann geübt – und es übt sich offensichtlich schon selbst, auch wenn es nicht weiß, was es tut – , wenn etwa ein Knabe plaudert und erzählt, wenn er spielt, vor allem, wenn er Spiele erfindet und sich als kleiner Spielleiter erweist, wenn er, mit großem Ernst auf die Spiele mit den Kameraden konzentriert, zum Schwitzen kommt und hin und her mit allem möglichen beschäftigt ist: wenn er Dinge sieht, hört, liest, die er schön zu erkennen vermag […]“ (§ 55:35).

Diese und ähnliche Übungen des Erwachsenen versteht Baumgarten als Improvisationen, „die der Geist aus eigener Kraft von selbst hervorbringt“ (§ 55:36f.); zu ihnen muss dann die „ausgebildete Kunstlehre“ treten, die vor allem durch die Lektüre der antiken Autoren die Regeln und ihre Spielräume in den einzelnen Künsten einübt. Baumgartens Lehre von den „unteren Erkenntnisvermögen“ ist also weiter gespannt als eine Theorie der Sinnlichkeit. Eine solche hat eindringlich Johann Gottfried Herder wenige Jahre nach Baumgartens Ästhetik­-Vorlesungen entworfen. In seinem Aufsatz über Plastik (1768­-70), in dem er den traditionell als niedrig eingestuften Tastsinn aufwertet, holt er ähnlich wie Baumgarten den Leser in die „Spielkammer des Kindes“ und entwirft eine entwicklungspsychologische Skizze:

„sehet wie der kleine Erfahrungsmensch faßt, greift, nimmt, wägt, tastet, mißt mit Händen und Füßen, um sich überall die schweren, ersten und nothwendigsten Begriffe von Körpern, Gestal­ten, Größe, Raum, Entfernung und dgl. treu und sicher zu verschaffen. Worte und Lehren können sie ihm nicht geben; aber Erfahrung, Versuch, Proben. In wenigen Augenblicken lernt er da mehr und alles lebendiger, wahrer, stärker, als ihm in zehntausend Jahren Angaffen und Worterklären beibringen würde. Hier, indem er Gesicht und Gefühl unaufhörlich verbindet, eins durchs andere untersucht, erweitert, hebt, stärket – formt er sein erstes Urtheil“ (Herder 1853:26).

Nur ein Schritt vom ersten tastenden Begreifen des kleinsten Kindes ist es zur hervorbrin­genden Tätigkeit, die die Spielkammer zum Modell werden lässt für die Entstehung der Bildhauerkunst: „Ich könnte zeigen daß die Bildhauerkunst überall nur so habe entstehen können wie sie bei unseren Kindern entsteht, in deren Händen sich Wachs, Brod, Thon selbst bildet […]“ (Herder 1853:93).

Indem beide Autoren das Kinderspiel als elementaren Ausdruck ästhetischer Aktivität in den Diskurs über Schönheit und Kunst einbeziehen, werten sie es auf und legen damit den Grund für die Bedeutung, die Friedrich Schiller dem Spiel zuschreibt (auch wenn er selbst nicht vom Kinderspiel spricht). In seiner Schrift „Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen“ (1795) setzt er das „ästhetische Vermögen“ gleichbedeutend mit dem Spieltrieb, dessen Gegenstand die „lebende Gestalt“ sei, „ein Begriff, der allen ästhetischen Beschaffenheiten der Erscheinungen und mit einem Worte dem, was man in weitester Bedeu­tung Schönheit nenne, zur Bezeichnung dient“ (Schiller 1959b:614). Spiel als ästhetisches Phänomen und als eine Metapher für das Ästhetische ist bei Schiller das entscheidende Dritte zwischen den agonalen Kräften Sinnlichkeit und Vernunft, das den Menschen aus den Fesseln der beiden Kräfte löst und ihn dazu befreit „aus sich selbst zu machen, was er will“ (Schiller 1959b:635). In dieser Phase der Herausbildung der Ästhetik als einer philosophischen Disziplin verbinden die drei hier genannten Autoren ihre je verschiedenen Auffassungen des Ästheti­schen und seiner Beziehung zur Sinnlichkeit und zu den Künsten wesentlich mit dem Spiel.

Historischer Rückblick 2: Philosophie der Kunst und psychologische Ästhetik

Zum Ende des 18. Jh.s hatte sich Baumgartens Begriff „Ästhetik“ weitgehend durchgesetzt. Immanuel Kants „Kritik der Urteilskraft“ (1790) wurde und wird bis heute als seine Ästhetik bezeichnet. Kant verlegt die Schönheit ins Auge und Ohr des Betrachters oder Hörers und setzt mit dem subjektiven Geschmack den Akzent auf die sinnliche Fundierung des ästhetischen Urteils. Wenige Jahre später dagegen bestimmt die jüngere Generation um Friedrich Hölderlin, Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Friedrich Schlegel und Georg Wilhelm Friedrich Hegel die Kunst (im emphatischen Wortsinn, der alle Künste umfasst) als Gegenstand der Ästhetik. Hegel betont in der Eröffnung seiner Vorlesungen über Ästhetik (ab 1820-­29), dass der Begriff „genauer die Wissenschaft des Sinnes, des Empfindens“ bezeichnet, und grenzt davon seine Ästhetik als „Philosophie der schönen Kunst“ ab (Hegel 1965:13). Zwar konzediert er, dass die Kunst sich „allerdings für das sinnliche Auffassen“ darbietet, dass sie aber „als Sinnliches zugleich wesentlich für den Geist ist, der Geist davon affiziert werden und irgendeine Befrie­digung darin finden soll“ (Hegel 1965:45). Die Beziehung zwischen Sinnlichem und Geist in der Kunst fasst er im Begriff des Scheins:

„Deshalb ist das Sinnliche im Kunstwerk im Vergleich mit dem unmittelbaren Dasein der Naturdinge zum bloßen Schein erhoben, und das Kunstwerk steht in der Mitte zwischen der unmittelbaren Sinnlichkeit und dem ideellen Gedanken. Es ist noch nicht reiner Gedanke, aber seiner Sinnlichkeit zum Trotz auch nicht mehr bloßes materielles Dasein, wie Steine, Pflanzen und organisches Leben, sondern das Sinnliche im Kunstwerk ist selbst ein ideelles, das aber, als nicht das Ideelle des Gedankens, zugleich als Ding noch äußerlich vorhanden ist“ (Hegel 1965:48).

Schein ist hier nicht als Täuschung zu verstehen: „Denn der Schein selbst ist dem Wesen we­sentlich, die Wahrheit wäre nicht, wenn sie nicht schiene und erschiene […]“ (Hegel 1965:19).

Hegels bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jh.s hinein führende Ästhetik hat noch Theodor W. Adornos ebenfalls der Kunst verpflichtete Ästhetik beeinflusst. Allerdings rückte bereits im letzten Drittel des 19. Jh.s die sinnliche Wahrnehmung wieder stärker ins Blickfeld – diesmal vonseiten der Psychologie, die sich inzwischen zur selbständigen Wissenschaft entwickelt hatte. Als ungewöhnlich origineller Denker entwickelt der Leipziger Physiker und Naturphi­losoph Gustav Theodor Fechner in seiner „Vorschule der Aesthetik“ eine empirische Ästhetik „von Unten“. Er untersucht „Erfahrungen über das, was gefällt und missfällt“ und leitet daraus „Begriffe und Gesetze“ ab, „die in der Aesthetik Platz zu greifen haben“ (Fechner 1876:1). Mit Fechner beginnt die Geschichte der Experimentalpsychologie und der psychologischen Ästhetik, die im 20. Jh. die in bildender Kunst, Design und Kunstpädagogik der Moderne ein­flussreiche Gestaltpsychologie hervorbrachte. Sinne und sinnliche Wahrnehmung blieben auf Jahrzehnte hinaus Schwerpunkte psychologischen, philosophischen und anthropologischen Denkens, das stets die Kunst und die Künste einbezieht und sie im Zusammenhang der elementaren Beziehungen zwischen Leib und Geist, Wahrnehmen und Erkennen, Empfinden und Wissen untersucht. (Vgl. u.a. Straus 1935; Plessner 1923, 1970; Merleau-­Ponty 1945; Schmitz 1964­-1980).

Pädagogik und Didaktik der Aisthesis

Baumgartens und Herders Hinweise auf die Sinnesentwicklung des Kindes und auf seine spontane aisthetische Selbstbildung im Spiel wurden von der romantischen Generation mit ihrem Interesse am Kind und an der Kindheit zu einem bis heute einflussreichen Mythos vom schöpferischen Kind verdichtet. Das pädagogische Denken wurde auf eine Entfaltung und Förderung des Spiels und der kindlichen Sinnlichkeit gelenkt, die ihrer traditionell rigiden Zähmung und Unterdrückung widersprach. Erst die neuromantische Jugend-­ und Reformbewegung um 1900 setzt diese Gedanken in breitenwirksame pädagogische Konzeptionen um, die in experimentellen Bildungseinrichtungen, in den 1920er Jahren dann auch in der Regelschule realisiert werden. Der traditionelle Zeichenunterricht wird durch Kunsterziehung abgelöst; vergleichbare Modelle entwickeln Musik-­, Theater-­ und Literaturpädagogik. Anders als Maria Montessori, deren Sinnesübungen den Weg zur wissenschaftlichen Intelligenz bahnen sollten, verstand die deutsche Reformpädagogik die ästhetisch/aisthetische Bildung als Antagonistin oder zumindest als Kompensation einseitiger intellektuell­-abstrakter Lehre. Die emotionalen, sinnlichen und kreativen Energien des Kindes sollten wahrgenommen und gefördert werden, wo sie erscheinen: im Spiel, im freien schriftlichen Ausdruck, in Zeichnungen, im Basteln und Handwerken, in der Betrachtung von Kunstwerken, im Tanz und im intensiven Musikhören. In den Jahren des nationalsozialistischen Regimes zerbrach die ohnehin nicht einheitliche Bewegung. Trotz eines Nachlebens der Reform nach 1945 verlor sich ihr Einfluss in den 1950er und 1960er Jahren. Erst unter dem Eindruck der „68er“ Jugend-­ und Emanzipationsbewegung entstand in den 1980er Jahren eine neue Reformbewegung, die sich nicht mehr nur an der deutschen Reform­Geschichte, sondern auch an anderen europäischen und amerikanischen Vorbildern orientierte.

Diese Reformbewegung, wie die erste zu einem guten Teil von LehrerInnen ausgehend, traf zusammen mit der „aisthetischen Wende in der Ästhetik“ (Barck 2006:4), die Wolfgang Welsch mit dem Rückgriff auf die antike Wortbedeutung Aisthesis markierte (Welsch 1987). Von den reformorientierten PädagogInnen wurde das Signal umso bereitwilliger aufgenom­men, als einige sich seit den 1968er Jahren von der als verkommenes bürgerliches Relikt verachteten Kunst abgewendet und „ästhetisch“ zum klassen-kämpferischen Gegenbegriff umgedeutet hatten; den Unterricht sollten fortan die ästhetischen Vorlieben der SchülerInnen prägen. Das Aisthesis­-Konzept schien einen Weg jenseits der „hohen“ Kunst zu öffnen. Von reformerischem Elan getragen entwickelten vor allem Früh-­ und GrundschulpädagogInnen Modelle der Wahrnehmungsförderung: Sinnesübungen wurden in den Unterricht integriert, Tastkästen gebaut, Blindenführungs-­Spiele entworfen, Streichelaktionen eingeführt. Dabei trat die klassenkämpferische Position zugunsten der ökologischen nach und nach zurück. Faszination lösten die Überlegungen und praktischen Vorschläge von Hugo Kükelhaus aus. Der 1900 geborene charismatische Handwerker und Künstler, Philosoph und Pädagoge hatte bereits mit seinem ab 1939 entwickelten Baby-Spielzeug, den „Greiflingen Allbedeut“, sorgfältig bearbeitetes Holz und elementare Formen und Funktionen als frühe Impulse zur Sensibilisierung vorgeschlagen (vgl. Münch 1995).Vor allem mit seinen „Erfahrungsfeldern zur Entfaltung der Sinne“ (Kükelhaus/zur Lippe 1982) betont er die Bedeutung von (Tages-)Lichtwechsel, Farben, Naturmaterialien und Gleichgewichtsspielen. Er inszeniert vielfältige Oberflächenreize für Füße und Hände, Erfahrungen mit selbst ausgelösten akustischen Phänomenen wie Resonanz und Echo. Kükelhaus, wie viele seiner Generation ein engagierter Goethe-­Leser, stand der Pädagogik Rudolf Steiners nahe, ohne Anthroposoph zu sein.

Eine andere Quelle der Inspiration aisthetischer Pädagogik war und ist die italienische Reggio­-Pädagogik, eine reformpädagogische und konstruktivistisch fundierte Früherzie­hungskonzeption demokratischer und humanistischer Ausrichtung, die wie der romantische Kindheitsmythos das „reiche Kind“ voraussetzt und die Wahrnehmung und Förderung seiner kreativen Energien und seiner künstlerischen Ausdrucksformen in den Mittelpunkt stellt (vgl. Göhlich 1988, Dreier 1993). Von erziehungswissenschaftlicher Seite wurde und wird die aisthetische Position theoretisch fundiert und unterstützt durch die pädagogische (leib­-orientierte) Phänomenologie (vgl. u.a. Lippitz 1981), durch Jürgen Seewalds verstehenden Ansatz der Psychomotorik (1992), durch Klaus Mollenhauer und seine SchülerInnen (1996) sowie durch Christoph Wulfs pädagogische Anthropologie (u.a. Wulf 1994; Liebau/Zirfas 2008; Rittelmeyer 2002).

Was kann und sollte aisthetisches Lernen leisten? (vgl. auch Mattenklott 2007). Einige Bildungsaufgaben seien hier zusammengefasst: Die Lernenden erfahren den eigenen Leib und die Sinne als Energiepotential der Erkenntnis, des Genusses und der Verständigung mit anderen Lebewesen; die intensivierte und reflektierte Selbstwahrnehmung erhöht die Aufmerksamkeit für die Leiblichkeit des anderen (siehe Doris Schuhmacher-­Chilla „Körper – Leiblichkeit“). Für Leib­- und Sinneserlebnisse werden sprachliche und außersprachliche Ausdrucksformen entwickelt. Leib-­ und Gefühlsthemen und ihre sozialen und ästhetischen Kulturen werden reflektiert und gestaltet (z.B. die Mahlzeit). Materialien und Dinge der analogen Welt werden in ihrem Eigensinn wie in ihren historischen und sym­bolischen Dimensionen erforscht, gesammelt, geordnet, miteinander kombiniert und verän­dert. Kunstwerke und künstlerische Manifestationen werden als reiches Feld leibsinnlicher Erfahrungen entdeckt, fordern das Denken heraus und inspirieren zu eigener künstlerischer Tätigkeit. Schließlich wird Hegels Schein der Kunst erfahrbar als das wesentliche, sinnlich wahrnehmbare Kleid einer nur in ihm erscheinenden Fülle von Bedeutungen.

Ausblick: Ästhetisches – aisthetisches – künstlerisches Lernen heute

Die leib-­ und sinnesorientierte Pädagogik blieb die 1990er Jahre über aktuell, verlor aber seit der Etablierung der PISA­-Tests durch die OECD vom Jahr 2000 an ihre Strahlkraft. Sie kann weder mit evidenzbasierten Forschungsergebnissen aufwarten, noch lässt sie sich mit stan­dardisierten Tests evaluieren. Ihre Begründungen zieht sie aus geisteswissenschaftlichen Traditionen, die in der ökonomisierten Bildungslandschaft Europas immer weniger Rückhalt finden. In Programmen wie „Bewegte Grundschule“ bleiben manche Inhalte und Methoden aisthetischen Lernens erhalten, der Zusammenhang aber zum Ästhetischen und zur Welt der Künste löst sich zugunsten der ökonomisch leichter zu vermittelnden Gesundheitserziehung. Trotz des Vorrangs, den Schulpädagogik und empirische Erziehungswissenschaft den soge­nannten Kernkompetenzen im mathematisch-­naturwissenschaftlichen und sprachlichen Lernen einräumen, hat sich in den letzten Jahren eine vielfältige Kultur schulischer und außer­schulischer kunstbezogener Initiativen entwickelt. Popmusik, „hohe“ klassische Musik und die Avantgarde­-Tradition um John Cage agieren friedlich nebeneinander und ebenso erfolgreich wie neuer Tanz und die Zusammenarbeit mit bildenden KünstlerInnen aller Richtungen ein­schließlich der virtuellen Welten von Digitalfotografie, Film und Game. Diese Kultur aisthetisch/ästhetisch/künstlerischen Lernens schließt leibsinnliches Erleben und Erfahren ebenso ein wie spielerische Übung und eigene künstlerische Produktivität samt der dem Ästhetischen inhärenten (Selbst-)Reflexion und dem Wissenszuwachs, der jede künstlerische Aktivität begleitet. Sie erfüllt ein ganzes Bündel pädagogischer und therapeutischer Aufgaben von der Erfahrung der Selbstwirksamkeit bis zum Dialog mit Fremdem und Unbekanntem. Zu fordern ist, dass diese Aktivitäten nicht nur als Freizeitpädagogik neben den „Kernfächern“ geduldet werden, sondern als gleichberechtigt, als elementare Voraussetzung und unverzichtbarer Beitrag zur Bildung emanzipierter Individuen anerkannt wird. Dass ihre lebenswichtigen Leistungen nicht in Tests abzufragen sind, sollte nicht ausreichen, sie zu marginalisieren.

Verwendete Literatur

  • Barck, Karlheinz/Kliche, Dieter (2010):

    Ästhetik/ästhetisch. In: Barck, Karlheinz u.a. (Hrsg.): Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 1 (308-400). Stuttgart: Metzler.

  • Barck, Karlheinz (2006):

    Aisthesis/Aisthetisch. In: Trebeß, Achim (Hrsg.): Metzler Lexikon Ästhetik. Kunst, Medien, Design und Alltag (3-6). Stuttgart/Weimar: J.B. Metzler.

  • Baumgarten, Alexander Gottlieb (1988):

    Theoretische Ästhetik (2., durchges. Auflage). Hamburg: Felix Meiner.

  • Dreier, Annette (2012): Was tut der Wind, wenn er nicht weht? Begegnungen mit der Kleinkindpädagogik in Reggio Emilia. Berlin: Cornelsen.
  • Fechner, Gustav Theodor (1876):

    Vorschule der Ästhetik. Leipzig: Breitkopf & Härtel.

  • Göhlich, Michael (1988):

    Reggiopädagogik – innovative Pädagogik heute. Zur Theorie und Praxis der kommunalen Kindertagesstätten von Reggio Emilia. Frankfurt/M.: Fischer.

  • Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1965): Ästhetik. Berlin/Weimar: Aufbau.
  • Herder, Johann Gottfried von (1853): Plastik. Einige Wahrnehmungen über Form und Gestalt aus Pyg­malions bildendem Träume. Sämtliche Werke (21-109). 25.Bd. Stuttgart/Tübingen: Cotta.
  • Kant, Immanuel (1963/1794): Kritik der Urteilskraft (1790). Hamburg: Meiner.
  • Kükelhaus, Hugo/zur Lippe, Rudolf (1982): Entfaltung der Sinne. Ein „Erfahrungsfeld“ zur Bewegung und Besinnung. Frankfurt/M.: S. Fischer.
  • Liebau, Eckart/Zirfas, Jörg (Hrsg.) (2008): Die Sinne und die Künste. Perspektiven Ästhetischer Bildung. Bielefeld: transcript.
  • Lippitz, Wilfried/Plaum, Jutta (1981): Tasten, Gestalten, Genießen. Königstein/Ts.: Scriptor.
  • Mattenklott, Gundel (1998/2007): Grundschule der Künste. Vorschläge zur Musisch-Ästhetischen Erziehung. Baltmannsweiler: Schneider.
  • Merleau-Ponty, Maurice (1945): Phénoménologie de la perception. Paris: Gallimard.
  • Mollenhauer, Klaus u.a. (1996): Grundfragen ästhetischer Bildung. Theoretische und empirische Befunde zur ästhetischen Erfahrung von Kindern. Weinheim/München: Juventa.
  • Münch, Jürgen (1995): Hugo Kükelhaus und das Spielzeug Allbedeut. Soest: Hugo Kükelhaus Gesellschaft.
  • Plessner, Helmuth (1970): Anthropologie der Sinne. In: Plessner, Helmuth: Philosophische Anthropologie (187-251). Frankfurt/M.: S. Fischer.
  • Plessner, Helmuth (1923): Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes. Bonn: Bouvier.
  • Rittelmeyer, Christian (2002): Pädagogische Anthropologie des Leibes. Biologische Vorausset­zungen der Erziehung und Bildung. Weinheim/München: Juventa.
  • Schiller, Friedrich (1959b): Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. In: Fricke, Gerhard/Göpfert, Herbert G. (Hrsg.): Sämtliche Werke. Bd. 5: Theoretische Schriften (570-669). München: Hanser.
  • Schmitz, Hermann (1964-1980): System der Philosophie. Bonn: Bouvier.
  • Seewald, Jürgen (1992): Leib und Symbol. Ein sinnverstehender Zugang zur kindlichen Entwicklung. München: Fink.
  • Straus, Erwin (1935): Vom Sinn der Sinne. Berlin: Springer.
  • Welsch, Wolfgang (1987): Aisthesis. Grundzüge und Perspektiven der Aristotelischen Sinneslehre. Stuttgart: Klett-Cotta.
  • Wulf, Christoph (Hrsg.) (1994): Einführung in die pädagogische Anthropologie. Weinheim/Basel: Beltz.

Anmerkungen

Dieser Text wurde erstmals im Handbuch Kulturelle Bildung (Hrsg. Bockhorst/ Reinwand/ Zacharias, 2012, München: kopaed) veröffentlicht.

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Gundel Mattenklott (2013/2012): Ästhetisch-Aisthetisches Lernen. In: KULTURELLE BILDUNG ONLINE: https://www.kubi-online.de/index.php/artikel/aesthetisch-aisthetisches-lernen (letzter Zugriff am 16.07.2024).

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