Kulturelle Bildung: macht- und rassismuskritisch befragt. Von der Diskursforschung zur Handlungsverantwortung
Abstract
Das Anliegen des BMBF-geförderten Forschungsprojektes „Flucht ‒ Diversität ‒ Kulturelle Bildung“ war es, aus einer rassismuskritischen Perspektive Thematisierungsweisen der gesellschaftlichen Diskursfelder Flucht, Migration und Kulturelle Bildung zu analysieren. Auf der Ebene von Diskursen wurde untersucht, in welcher Weise zu Flucht/Migration und Menschen mit Flucht- bzw. Migrationserfahrung in Kontexten Kultureller Bildung gesprochen wird und inwiefern hierbei (Alltags-)Rassismen, Kulturalisierungen und Stereotypisierungen (re-)produziert und/oder Diskriminierungserfahrungen thematisiert werden. Den zentralen Diskurskorpus der Untersuchung bildeten Anträge der BMBF-geförderten Programme „Kultur macht stark“ und „Kultur macht stark plus“. Im Rahmen der macht- und rassismuskritischen Diskursanalyse konnten drei wirkmächtige Deutungsmuster herausgearbeitet werden. Diese legen zentrale Herausforderungen für die Kulturelle Bildung offen und verweisen auf ihre Handlungsverantwortung in der postmigrantischen Gesellschaft:
- Kulturelle Bildung und Prozesse der Paternalisierung mit einem Duktus der Infantilisierung und Viktimisierung.
- Kulturelle Bildung und Prozesse des Othering in der Verschränkung der Kategorien race, ‚Kultur‘ und ‚Geschlecht‘.
- Kulturelle Bildung und Prozesse der Integration im Sinne einer (vorgezogenen) Integrationsmaßnahme.
Kulturelle Bildung in der postmigrantischen Gesellschaft sieht sich diversen Herausforderungen gegenüber, die sowohl die wissenschaftliche, bildungsbezogene, kulturpolitische als auch die ästhetische Praxis betreffen und vielfältige Fragen nach Handlungsverantwortung aufwerfen. In den formalen und non-formalen Bildungsangeboten von Schule oder Kinder- und Jugendarbeit hat eine macht- und rassismuskritische Forschung ebenso wie die kritische Reflexion von Diskriminierungserfahrungen schon seit Längerem Bedeutung (z.B. Leiprecht 1992; Fereidoni 2010; Pates u.a. 2010; Bundschuh/Ghandour/Herzog 2016; Klomann et al. 2018).
Und auch die Kulturelle Bildung setzt sich verstärkt ab Mitte der 2010er-Jahre mit Machtasymmetrien, hegemonialen Kulturverständnissen oder essentialisierenden Zugehörigkeitsordnungen auseinander (vgl. Mecheril 2015/2013; Ziese/Gritschke 2016; Mörsch 2015, 2019; Schütze/Mädler 2017). Insofern hat das Ende 2016 nach dem „langen Sommer der Migration“ (Hess u.a. 2017) gestartete und vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderte Forschungsprojekt „Flucht – Diversität – Kulturelle Bildung. Eine rassismuskritische und diversitätssensible Diskursanalyse kultureller Bildungsangebote im Kontext von Flucht und Migration“ (FluDiKuBi) dieses relevante Forschungsthema ebenfalls aufgegriffen. In der Verschränkung von Rassismuskritik und Diskursanalyse zielte es darauf ab, Sagbarkeitsfelder, aber auch Dethematisierungen zu Flucht und Migration im Diskurs der Kulturellen Bildung zu analysieren. Die zentralen Ergebnisse des Projekts werden im Folgenden nach einer kurzen Einführung in Theorie und Methodik vorgestellt, um dann Ebenen der daraus resultierenden Handlungsverantwortung für Forschung, Förderpolitik und Praxis der Kulturellen Bildung zu diskutieren.
Flucht – Diversität – Kulturelle Bildung. Einblicke in ein macht- und rassismuskritisch positioniertes Forschungsprojekt
In einer Verknüpfung von künstlerisch-ästhetischen Praxen und politischer Beauftragung erfuhr und erfährt Kulturelle Bildung in den letzten Jahren eine spezifische Dimension in der Arbeit mit Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen im (trans-)nationalen Kontext von Migration, Flucht und Asyl. Korrespondierend zu den gesellschaftlichen Ambivalenzen zwischen partizipativer Anerkennung der zugewanderten oder geflüchteten Menschen einerseits und diskriminierender Ausgrenzung dieser andererseits, ist davon auszugehen, dass auch Angebote und Konzeptionen Kultureller Bildung in eigener Weise dem Risiko einer ethnisierenden, kulturalisierenden und rassisierenden Praxis unterliegen. Homogenisierende Zuschreibungen und kulturalisierende Konstruktionen national-ethno-kultureller Zugehörigkeiten (Mecheril 2003) können auch in künstlerisch-ästhetischen Praxen Wirkungen zeigen bzw. durch diese begünstigt werden. Zum Beispiel dann, wenn eindimensionale und dominante Imaginationen von ‚deutscher' Kultur und der Kultur der ‚Anderen' normative Setzungen vermitteln, ästhetische Prozesse beeinflussen oder auch partizipative Prozesse unterlaufen, sodass dadurch eigenständige Lernprozesse und die selbstbestimmte Auseinandersetzung der Kinder und Jugendlichen verengt oder verhindert werden.
Um den Verhältnissen von Wissen und Macht im Diskurs der Kulturellen Bildung auf die Spur zu kommen, richtete sich das leitende Interesse des Forschungsprojektes auf die diskursiven Verschränkungen von künstlerisch-ästhetischer Praxen mit gesellschaftlich-politischen Thematisierungen im Kontext von Flucht und Migration. Der Annahme von Michel Foucault folgend, dass Diskurse an der Herstellung von sozialer Wirklichkeit beteiligt sind (vgl. Link 2005:80), gilt auch für die Kulturelle Bildung, dass deren hegemonialer Diskurs die (ästhetische) Praxis hervorbringt, von der er spricht (Foucault 2014). Mit einem rassismuskritischen Forschungsansatz stand demnach der Diskurs der geförderten Kulturellen Bildung im Fokus und wurde um wissenschaftsbezogene und kulturpolitische Diskurse ergänzt. Schwerpunktmäßig ging es um die vom BMBF geförderten Programme Kultur macht stark (KMS) und Kultur macht stark plus (KMS+), die dahingehend analysiert wurden, ob und in welcher Weise Konzepte Kultureller Bildung migrationsgesellschaftliche Verhältnisse und rassismuskritische und diversitätssensible Perspektiven berücksichtigen: In welcher Weise wird zu Flucht oder Migration, wird über Menschen mit Flucht- bzw. Migrationserfahrung in Kontexten Kultureller Bildung gesprochen, inwiefern werden hierbei (Alltags-)Rassismen, Kulturalisierungen und Stereotypisierungen (re-)produziert und Diskriminierungserfahrungen thematisiert?
Zielperspektive, Untersuchungsgegenstand und Methodik
Auf Grundlage von theoretischen Ansätzen der Kulturellen Bildung, der kritischen Migrationsforschung, der Cultural Studies, der Rassismuskritik und der gewalt- und konfliktsensiblen Bildungsforschung verfolgte das Forschungsprojekt das Ziel, vorliegende Angebote und Konzepte institutioneller Kultureller Bildung auf homogenisierende, diskriminierende, kulturalisierende, rassisierende und entwertende Tendenzen und Deutungsmuster zu untersuchen. Das Anliegen war somit keine Wirkungsforschung, da es nicht um die Frage nach den Wirkungen Kultureller Bildung ging, ob diese z.B. Menschen ‚integrieren' oder zu demokratiefähigen Subjekten machen könne (vgl. Gaztambide-Fernández 2017:24). Vielmehr ging es um eine rassismus- und diversitätssensible Diskursforschung auf der Basis eines dekonstruierend angelegten Vorgehens, um so Wissensordnungen und Sagbarkeitsfelder, aber auch Dethematisierungen in der Kulturellen Bildung im Kontext von Flucht und Migration zu untersuchen. Den zentralen Diskurskorpus der Untersuchung bildeten bewilligte Anträge aus den Programmen von KMS und KMS+, die nachfolgend kurz vorgestellt werden.
Das Programm Kultur macht stark (KMS) wurde durch das BMBF 2012 erstmals aufgelegt und gilt als das größte Förderprogramm zur Kulturellen Bildung im deutschsprachigen Raum. Ziel des Programms ist es, kulturelle Bildungsangebote zu fördern, die sich an bildungsbenachteiligte „Kinder und Jugendliche von drei bis 18 Jahren [richten], die aufgrund von Erwerbslosigkeit, niedrigem Einkommen oder geringer Bildung der Eltern in schwierigen sozialen Situationen leben.“ (BMBF 2018) Mit dieser Zielgruppenbeschreibung werden bereits Differenzkategorien und „Risikofaktoren“ (Sturzenhecker 2014:2) aufgerufen, die Kinder und Jugendliche als bildungsfern positionieren und denen mit einem Wirkungsanliegen begegnet werden soll. In KMS sind dies: „Förderung kognitiver Kompetenzen, von sozialem Lernen, der Persönlichkeitsbildung und von Erfahrungswissen, da sie besonders geeignet sind, Selbstmotivation, Leistungs- und Verantwortungsbereitschaft zu stärken.“ (BMBF 2012) Nach einer ersten Förderphase von 2013 bis 2017 wurde das Programm um eine zweite Förderphase von 2018 bis 2022 verlängert; zum Redaktionsschluss (Februar 2022) befindet sich die dritte Förderphase in Vorbereitung.
Im Erhebungszeitraum des Forschungsprojektes liegt die erste Förderphase von KMS (2013–2017). Für die Fragestellung waren diejenigen bewilligten Anträge von Interesse, in welchen Flucht und/oder Migration thematisiert werden. Der Textkorpus für die Untersuchung konstituierte sich aus den erhobenen Anträgen der Verbände, die als Programmpartner von KMS in der ersten Förderphase tätig waren.
Den eigenen Förderlogiken (vgl. Mörsch 2016:177) folgend, veranlasste das BMBF im Sommer 2016 mit Kultur macht stark plus (KMS+) ein zusätzliches Programm zur Förderung von kulturellen Bildungsmaßnahmen für junge Erwachsene mit Fluchterfahrung zwischen 18 und 26 Jahren. Ziel des Programms ist die Förderung gesellschaftlicher Teilhabe für diese Zielgruppe. Das BMBF betont die besondere Möglichkeit, durch Kulturelle Bildung „Land, Kultur und Sprache besser kennenzulernen – und die Erlebnisse der Flucht ein Stück weit aufzuarbeiten“ (BMBF o.J.). Weil über die Ausschreibung des Programms und die Eingrenzung der Zielgruppe auf junge Erwachsene mit Fluchterfahrung die Thematisierung von Flucht und Migration vorausgesetzt werden konnte, waren alle bewilligten Anträge von KMS+ im Untersuchungszeitraum von Interesse.
Insgesamt wurden aus den ca. 14.000 Anträgen für den Zeitraum 2012 bis 2018 1.270 Anträge als relevantes Diskursmaterial ausgewählt, erhoben und im Laufe des Forschungsprozesses in einem mehrstufigen Verfahren analysiert. Ausgehend von diskurstheoretischen Überlegungen Michel Foucaults (2014/1972), von Konzeptionen der Kritischen Diskursanalyse nach Siegfried Jäger (2012) und der Wissenssoziologischen Diskursanalyse nach Reiner Keller (2011; 2007) wurde eine Methodik entwickelt, die dekonstruierend angelegt ist, eine rassismustheoretisch informierte Analyseperspektive verfolgt und den Diskurs der Kulturellen Bildung auf dominierende Wissensbestände, Denkfiguren (Knobloch 1992), Deutungsmuster (Keller 2007) und Wissensordnungen (Rosa/Strecker/Kottmann 2007) zu Flucht und Migration untersucht. Konkret wurde das Antragsmaterial von KMS und KMS+ in einem kodierenden Verfahren analysiert. Zentral waren hier Kodierungen zu folgenden Kategorien:
- Wie wird zu Flucht und Migration gesprochen?
- Welche Ressourcen, Defizite oder kollektiven Merkmale im Allgemeinen und in Bezug auf die künstlerisch-ästhetische Praxis im Speziellen werden den Kindern und Jugendlichen mit Migrations- oder Fluchtbiografie zugeschrieben?
- Welche Kunst- und Kulturverständnisse sind erkennbar?
- Wie wird über Integration gesprochen?
- Werden direkte Diskriminierungs- und Rassismuserfahrungen der Kinder und Jugendlichen oder institutionelle Diskriminierungen als bildungsbenachteiligend thematisiert?
Anhand der so gewonnenen knapp 26.000 kodierten Textstellen wurde mit der Interpretationsarbeit begonnen, die über einen induktiven Ansatz das Textmaterial zunächst rezipierte, um dann auf dieser Basis Verdichtungen zu erkennen. So konnten insbesondere typische Aussagen ermittelt werden, die sich im Zentrum der Sagbarkeit manifestieren; es wurden aber ebenso Äußerungen sichtbar, die eher vereinzelt und am Rand der Sagbarkeit zu verorten sind. Auch konnte so auf Nicht-Gesagtes und Dethematisierungen geschlossen werden.
Die Ergebnisse der Analyse werden im Folgenden anhand von drei zentralen Deutungsmustern vorgestellt und vertieft. Zur Nachvollziehbarkeit und Veranschaulichung werden an einigen Stellen Zitate aus dem bewilligten Antragsmaterial von KMS und KMS+ herangezogen. Diese Textauszüge stellen keine extremen Aussagen am Rand des Sagbarkeitsfeldes dar, sondern sie bilden exemplarisch typische Aussagen des Diskurses ab. Die Nummerierung der Förderanträge erfolgte zum Zwecke der Anonymisierung durch das Forschungsteam.
Forschungsergebnisse
Als relevante Ergebnisse des Forschungsprozesses wurden für den Diskurs der Kulturellen Bildung drei zentrale wirkmächtige Deutungsmuster analysiert:
- Kulturelle Bildung und Prozesse der Paternalisierung in der Verschränkung mit einem Duktus der Infantilisierung und Viktimisierung.
- Kulturelle Bildung und Prozesse des Othering in der Verschränkung der Kategorien race, ‚Kultur' und ‚Geschlecht'.
- Kulturelle Bildung und Prozesse der Integration im Sinne einer (vorgezogenen) Integrationsmaßnahme.
Diese drei Muster werden nachfolgend eingehender beschrieben.
Als ein erstes Deutungsmuster lässt sich Paternalismus als eine den Diskurs prägende Sprechweise feststellen. Kennzeichnend für den entmündigenden Paternalismus ist ein Duktus der Viktimisierung und Klientifizierung. Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene mit Migrations- und/oder Fluchterfahrung (im Folgenden als „Refugees“ bezeichnet) werden weniger als souverän und handlungsfähig, sondern vielmehr als hilfs- und förderbedürftig sowie als unmündige Subjekte konstruiert und positioniert. Weiterhin verdichten sich diagnostizierende Sprechweisen zu Traumatisierungen. Dominant ist insgesamt eine defizitäre Perspektive, wie exemplarisch in diesem Textauszug sichtbar ist:
„Die Bildungsbenachteiligung der Flüchtlinge ist selbstredend. Neben dem generellen Fehlen deutscher Sprachkenntnisse liegt bei einigen Kindern Analphabetismus vor. Als besondere Belastungen kommen nicht selten Traumata-Erfahrungen und der Verlust eines oder beider Elternteile hinzu.“ (KMS Antrag 0472)
Solche Vorannahmen zu Erfahrungen, Lebens- und Bildungsbiografien werden weitestgehend in hierarchisierender Unterscheidung zu denen der Mehrheitsgesellschaft sichtbar. Während die so adressierten jungen Erwachsenen „in jeder Hinsicht Hilfe“ (KMS+ Antrag 184) benötigten, artikuliert sich ein unmarkiertes Wir als souverän, helfend und kompetent. Wirksam ist ein Duktus, der impliziert: Wir wissen, was ihr braucht. Auffällig ist weiterhin die dominante Denkfigur des „mehrheitsgesellschaftlichen Staunens“ darüber, dass geflüchtete junge Menschen gleichwertige Subjekte mit Ressourcen und persönlichen Fähigkeiten sind. Exemplarisch dafür ist folgender Textauszug:
„Offensichtlich sind Flüchtlinge ganz normale Menschen: Sie möchten gebraucht und gefordert werden, sie möchten anpacken und sie wollen ihren Spaß haben.“ (KMS+ Antrag 001)
Othering in Bezug auf Refugees kann als zweites relevantes Deutungsmuster benannt werden. Hier werden Wissensordnungen von Zugehörigkeit sichtbar, wenn im hegemonialen Sprechen Refugees als die ‚Anderen' und die ‚Fremden' konstruiert werden. Wirksam ist hierbei ein statisches, geschlossenes und eurozentristisches Kulturverständnis, welches es ermöglicht, Refugees fest in einer ‚anderen' Kultur oder einem ‚anderen' Kulturkreis zu verorten. Diese ‚andere' Kultur wird beispielsweise verallgemeinernd als arabische, afrikanische oder orientalische bezeichnet. Im Verständnis der postkolonialen Theorie impliziert Othering ein Macht- und Unterwerfungsverhältnis (Spivak 1996), das im untersuchten Diskurs mit hierarchisierten binären Spaltungen (Hall 2004) einhergeht. Es verdichten sich Vorstellungen eines deutschen bzw. dominanzkulturellen, demokratischen ‚Wir' gegenüber Vorstellungen von unzivilisierten, unmündigen ‚Anderen'.
Wirksam sind insbesondere Unterscheidungen zwischen Tradition und Moderne sowie Natur und Kultur. Als sagbar erweisen sich auch Sprechweisen zu Wildheit gegenüber Zivilisation. Diese Dualismen können mit Stuart Hall (1994) als Teil eines rassisierten Diskurses, des Diskurses vom Westen und dem Rest interpretiert werden. Stereotypisierende Sprechweisen fixieren und naturalisieren die kulturelle Differenzierung. Sie werden im untersuchten Diskurs sowohl in Bezug auf Kultur im weiten Sinne von Lebensweisen, Normen und Werten wie auch im engen Sinne in Bezug auf Künste und künstlerisch-ästhetische Praxis wirksam. Beispielhaft hierzu wird Refugees wiederholt abgesprochen, pünktlich und zuverlässig zu sein, Tischmanieren zu besitzen oder sparsam mit Energie umgehen zu können. Die Kultur der ‚Anderen' wird damit als intolerant und rückständig konstruiert.
Weiterhin ist auffällig, dass die diskursiv in den sogenannten Herkunftskulturen verorteten Künste als ursprünglich oder traditionell bezeichnet werden und sich beispielsweise auf rhythmische Musik und Tänze beschränken. Als auffallend dominant erweisen sich weiterhin Aussagen zu Bildungs- und Kulturferne. Refugees werden hierbei eine eigene Bildungsbiografie und künstlerisch-ästhetische Erfahrungen weitestgehend abgesprochen. Mit der Wirkung eines eurozentristisch-hochkulturellen Verständnisses werden geflüchteten Menschen im untersuchten Diskurs „mangelnde Kompetenzen in Fragen der Kultur“ (KMS Antrag 019) zugeschrieben, und es erfolgt eine Positionierung als bildungs- und kulturferne Subjekte. Exemplarisch dafür ist auch folgendes Zitat:
„Kinder mit Migrationshintergrund (und insbesondere Flüchtlingskinder) haben oftmals keinen literarischen Hintergrund, d.h. sie kommen im Elternhaus nicht in Kontakt mit Büchern und Schrift.“ (KMS Antrag 669)
Es kann festgehalten werden, dass in den geförderten Angeboten Kultureller Bildung Refugees als kulturell ‚Andere' (re-)präsentiert werden. Mit diesem „Ausstellen von Differenz“ (Demir/Heidenreich 2017:186) geht zum einen das Risiko einer exotisierenden Praxis einher und zum anderen zeichnet sich eine wiederholte Bezugnahme auf das Konzept von Interkulturalität ab, das aufgrund seiner „kulturalistischen Logik“ (Hess 2013:166) die (Re-)Produktion natio-ethno-kultureller Zugehörigkeitsordnungen (Mecheril 2003) verstärken kann, wie exemplarisch in diesem Zitat erkennbar wird:
„Die Vorstellung der unterschiedlichen Traditionen und Kulturen wird die Unterschiedlichkeit nebeneinander stellen und so für das Gefühl der Gleichheit sorgen.“ (KMS Antrag 152)
Mit einer intersektionalen Perspektive, insbesondere auf die Verschränkungen von race und ‚Geschlecht', lässt sich eine weitere dominante Denkfigur im diskursiven Othering freilegen: die ‚andere Frau' als Unterworfene. Mit einer spezifischen Viktimisierung werden als ‚anders' markierte Mädchen und Frauen als Opfer eines Patriarchats, konkret als unterdrückt, passiv, orientierungslos und unsicher konstruiert. Exemplarisch dazu ist dieses Zitat:
„Die meisten der geflüchteten, jungen Frauen waren jahrelang der Unterdrückung ausgesetzt und kennen keine Gleichberechtigung.“ (KMS+ Antrag 106)
Auffällig ist, dass aus einer fast durchgehend heteronormativen Perspektive patriarchale Geschlechterverhältnisse ausschließlich in eine Kultur der ‚Anderen' verschoben werden. In Deutschland lebende geflüchtete Frauen stünden im „Widerspruch Patriarchat vs. offene Gesellschaft“ (KMS+ Antrag 076). Eine solche Darstellung verweist mit Christine Riegel „auf ein vermeintliches Patriarchat der Anderen. Gewaltvolle Geschlechterverhältnisse werden dabei ethnisiert oder rassialisiert und gleichzeitig außerhalb der eigenen, dominanten Gesellschaft verortet.“ (Riegel 2018)
Ein drittes Deutungsmuster kann anhand der hegemonialen Sprechweisen zu Integration offengelegt werden. Das dominante Integrationsverständnis zeigt sich im Diskurs der Kulturellen Bildung mit monodirektionalen Vorstellungen der Anpassung verbunden. Insbesondere wird das Erlernen der deutschen Sprache als Voraussetzung für gesellschaftliche Teilhabe, Subjektwerdung und Integration postuliert und zu einem zentralen Anliegen Kultureller Bildung, die so Gefahr läuft, selbst zur Integrationsmaßnahme zu werden. Kulturelle Bildung artikuliert sich diskursiv außerdem als Vermittlerin von ‚deutschen' und dominanzkulturellen Werten, und es verdichten sich Zivilisierungsanliegen, die in Bezug auf teilnehmende Refugees beispielsweise so benannt werden:
„Respekt vor anderen Meinungen muss erlernt werden.“ (KMS+ Antrag 025)
Der Ort für das Erlernen von Respekt und weiteren als demokratisch verstandenen Werten ist (hier exemplarisch) das Kulturelle Bildungsangebot. In solch einer Funktionalisierung Kultureller Bildung für Zwecke der Zivilisierung und Demokratieerziehung können koloniale Kontinuitäten und Wissensordnungen aufgedeckt werden, war Kulturelle Bildung doch bereits in ihren „Anfängen […] ein zivilisierendes Projekt der Enkulturation, basierend auf der Überlegenheit der europäischen Zivilisation und der Unterlegenheit der rassisch definierten ‚Anderen‘“ (Gaztambide-Fernández 2017:25). Mit der im Diskurs dominanten spezifischen Verknüpfung von Sprach-, Werte- und Kulturvermittlung wird Kulturelle Bildung letztlich in das deutsche Asyl- und Integrationsregime involviert und dient als vorgezogene Integrationsmaßnahme insbesondere für diejenigen, denen der Zugang zu Bildung und Sprachkursen aufgrund ihres aufenthaltsrechtlichen Status verwehrt bleibt.
Es ist festzuhalten, dass sich Kulturelle Bildung im untersuchten Diskurs weitestgehend ohne rassismus- und machtkritisches Selbstverständnis artikuliert. Eine selbstkritische Reflexion des Eingebundenseins in das deutsche Asyl- und Integrationsregime ist nahezu nicht erkennbar. Vielmehr lassen sich sowohl eine Dethematisierung diskriminierender und benachteiligender Strukturen als auch kulturalisierende sowie rassisierende Wissensbestände aufdecken. Damit manifestiert sich ein instrumentelles Selbstverständnis Kultureller Bildung, welches die widerständigen Potenziale künstlerisch-ästhetischer Praxis weitestgehend ungenutzt lässt. Es zeichnet sich ab, dass Kulturelle Bildung für sich eine All-Verantwortlichkeit oder All-Zuständigkeit reklamiert, die sich darin zeigt, dass durch ästhetisch-künstlerische Praxen sowohl Spracherwerb und Wertevermittlung als auch Integration und Aufarbeitung, wenn nicht sogar Therapie fluchtbedingter Traumatisierungen ermöglicht werden sollen. Vielleicht ist hier sogar von einer Hybris Kultureller Bildung zu sprechen, die ebenso einer kritischen Überprüfung bedarf, wie auch insgesamt eine kritische Auseinandersetzung mit den Begründungszusammenhängen der ästhetisch-künstlerischen Praxis notwendig ist. Diese umfasst sowohl die Reflexion der eigenen Haltung – im Zusammenspiel mit eurozentristischen Wissensbeständen – als auch die Reflexion des Eingebundenseins in hegemoniale Diskurse zu Migration und Flucht, zu Integration und ‚deutscher' Kultur.
Von der Diskursanalyse zur Handlungsverantwortung
Welche Konsequenzen ergeben sich nun aus diesen Analyseergebnissen für die eingangs genannten Ebenen der Kulturellen Bildung (Forschung und Wissenschaft, Kultur- und Förderpolitik, künstlerisch-ästhetische Praxis), wenn man diese Konsequenzen im Sinne einer Handlungsverantwortung entwickeln möchte? Ohne an dieser Stelle eine differenzierte Diskussion des Verantwortungsbegriffs leisten zu können, soll hier mit einem Verweis auf die etymologische Bedeutung kurz das für die weitere Diskussion relevante Verständnis benannt werden: Bereits im Mittelhochdeutschen kann das Element des Antwortens und dann speziell des vor Gericht Antwortens benannt werden, bei dem es darum geht, für etwas einzustehen oder sich zu rechtfertigen. Somit gehören sowohl die Rechtfertigung der eigenen Handlungen als auch die Bereitschaft, für diese einzustehen, zum Kern eines verantwortlichen Handelns (vgl. Beck 2015:169–170).
Handlungsverantwortung auf der Ebene der Wissenschaft und Forschung zur Kulturellen Bildung bedeutete für uns als Forschungsteam, über den gesamten Forschungsprozess eine macht- und rassismuskritische Perspektive einzunehmen und das eigene Involviertsein in spezifische politische Verhältnisse zu reflektieren, in denen das Migrations- und Fluchtthema diskursiv umkämpft ist und kulturalisierende Zuschreibungen rechtspopulistische Diskurse anschlussfähig machen. Diese machtkritische Perspektivität macht es unumgänglich, rassistische und dominanzkulturell aufgeladene Begriffe, Strukturen und Effekte zu dekonstruieren und sowohl das leitende Erkenntnisinteresse als auch den Begründungs- und Verwertungszusammenhang der Forschung immer wieder selbstkritisch zu befragen.
Mit der Diskursanalyse nach Michel Foucault, Siegfried Jäger u.a. stand ein methodisches und theoretisches Gebäude zur Verfügung, in dem ein dekonstruierender Zugang auf wirkende Macht-Wissen-Komplexe angelegt ist. Und für die konkrete Analyse- und Interpretationsarbeit im Forschungsteam hatten wir mit dem Denk- und Aushandlungsraum einer partizipativ und machtreflexiv angelegten Diskurswerkstatt ein Format entwickelt, das für die Reflexion von normativen Vorannahmen und unser Involviertsein in privilegierende Machtverhältnisse von besonderer Bedeutung war. Diese kritische Selbstbefragung im Forschungsprozess betraf auch mögliche Tendenzen der Vereindeutigung im Erkennen von Rassismus, um so das Risiko zu mindern, weiße, koloniale und paternalistische Einschreibungen in wissenschaftliches Wissen weiterzuführen. Der macht- und rassismuskritisch positionierte Forschungsprozess, der sowohl inspirierend und anregend, aber auch mühsam, herausfordernd und zuweilen schmerzvoll war, zielte insgesamt darauf, Verantwortung für die eigene Wissensproduktion zu übernehmen. So konnten wir beispielsweise bei der Ausschreibung des dritten Förderprogramms von KMS auf der Basis der Forschungsergebnisse macht- und rassismuskritische Kommentierungen an die Verantwortlichen im BMBF zurückmelden. Des Weiteren wird zurzeit von Susanne Bücken, die als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Forschungsprojekt federführend tätig war, eine Handreichung: Diskurswerkstatt Rassismuskritik erarbeitet, die dem BMBF zur Verfügung gestellt wird.
Grundsätzlich lassen sich für die Ebenen der Kulturellen Bildung folgende Reflexionsfragen formulieren, die – sicherlich noch erweiterbar – dazu beitragen können, eine macht- und rassismuskritisch ausgerichtete Handlungsverantwortung zu übernehmen. Dabei steht die Reflexion des eigenen Verständnisses zu relevanten Dimensionen für eine Kulturelle Bildung in postmigrantischen Verhältnissen im Fokus:
Migrationsverständnis
- Welches Verständnis von Flucht und Migration ist handlungsleitend?
- Werden Flucht und Migration als (welt-)gesellschaftliche Abweichung oder als Normalität verstanden?
- Werden primär die Probleme oder die Potenziale im Kontext von Migration und Flucht innerhalb der Gesellschaft thematisiert?
Integrationsverständnis
- Welches Integrationsverständnis ist handlungsleitend?
- Wird Integration eher als Anpassungsprozess von Menschen mit Flucht- oder Migrationserfahrung oder als gesamtgesellschaftlicher Inklusionsprozess verstanden?
- Wird Integration als einseitige Bewältigungsaufgabe der zugewanderten Menschen oder als kollektiver Prozess von allen Gesellschaftsmitgliedern gesehen?
Kulturverständnis
- Welches Kulturverständnis ist handlungsleitend?
- Liegt ein normativer Kulturbegriff vor, der eine wertende Gegenüberstellung verschiedener Kulturen vornimmt? Ist beispielsweise das Konzept der Interkulturalität handlungsleitend, das dazu beiträgt, den Differenzaspekt ‚Kultur' oder ‚Kulturkreis' zu einer wirkmächtigen Überformung von individuellen Unterschieden werden zu lassen?
- Wird die ‚Kultur der Anderen' überhaupt wahrgenommen und anerkannt oder wird sie als rückständig, traditionell, unmodern o.a. abgewertet?
- Werden Menschen über ihre kulturelle Zugehörigkeit und ihre kulturellen Praxen zu ‚Anderen' gemacht (Othering)?
Rassismusverständnis
- Welches Rassismusverständnis ist handlungsleitend?
- Wird Rassismus nur als individuell-personelle Handlungsform von Einzelnen oder auch als strukturelles Machtverhältnis und als kollektiver diskursiver und sozialer Prozess wahrgenommen?
- Werden die Verbindungen zwischen kolonialer Vergangenheit, Rassismus und gegenwärtigen globalen Dominanzverhältnissen erkannt?
- Werden die kollektiven, impliziten rassistischen Tendenzen und Dominanzvorstellungen in der Mehrheitsgesellschaft im Kontext von Flucht und Migration berücksichtigt?
Subjekt-Objekt- und ‚Zielgruppen'-Verständnis
- Welches Subjekt-Objekt-Verständnis ist handlungsleitend?
- Werden Menschen mit Flucht- und Migrationserfahrung primär als Objekte gesehen, viktimisiert oder klientifiziert und einer (defizitären) ‚Zielgruppe' von Bildungsangeboten zugeordnet oder werden sie als mit Rechten und Ressourcen ausgestattete Subjekte und Handelnde verstanden?
- Werden Menschen mit Fluchterfahrung auf die Identitätskategorie Flucht/Migration reduziert oder werden sie differenziert als Individuen wahrgenommen, die weiteren intersektional miteinander verwobenen Identitätskategorien angehören können?
Transfer für die Förder-, Bildungs- und Forschungspraxis
Auf der Basis dieser allgemeinen Reflexionsfragen lassen sich in drei Dimensionen weiterführende Anregungen für eine Handlungsverantwortung entfalten, die macht- und rassismuskritische Perspektiven im Kontext Kultureller Bildung einnehmen. Diese Perspektiven zielen primär darauf ab, Diskurse und Praktiken der Stereotypisierung, der Kulturalisierung, der Paternalisierung und der Viktimisierung gegenüber den Teilnehmer*innen von Angeboten der Kulturellen Bildung nicht zu (re-)produzieren und so diskriminierende und rassisierende Tendenzen zu minimieren. Diesbezüglich können drei Dimensionen und damit verbundene Akteur*innen der Kulturellen Bildung mit Reflexionsfragen zu ihren Praktiken adressiert werden.
Politische Dimension: Die Förderpraxis des BMBF
- Wie können Förderrichtlinien entwickelt werden, welche die (Re-)Produktion von Stigmatisierungen eindämmen und welche die Antragsteller*innen auffordern, ihre Vorhaben aus einer macht- und rassismuskritischen sowie diversitätssensiblen Perspektive zu reflektieren?
- Wie kann eine Förderpraxis sich davon lösen, dass Kulturelle Bildung als Integrationsmaßnahme im Kontext des Asylregimes eingebunden und auf eine spezifische zielgerichtete, problemorientierte Förderpädagogik reduziert wird?
- Wie kann stattdessen verstärkt Kulturelle Bildung gefördert werden, bei der ästhetische und soziale Differenzerfahrungen für alle, das Menschenrecht auf kulturelle Teilhabe und Teilgabe von allen, eine inklusive ressourcenorientierte Perspektive sowie die Ergebnisoffenheit von Bildungsprozessen im Vordergrund stehen?
Pädagogische und künstlerisch-ästhetische Dimension: Die Bildungspraxis von Einrichtungen
- Wie können Institutionen und Akteur*innen der Kulturellen Bildung für eine macht- und rassismuskritische Praxis sensibilisiert und qualifiziert werden?
- Wie können verstärkt die Potenziale und Ressourcen der Teilnehmenden fokussiert und Zielgruppen nicht vornehmlich defizitär konstruiert werden?
- Welche internen Prozesse, Selbstverpflichtungen und Verfahren sind dafür notwendig?
Wissenschaftliche Dimension: Die Forschungspraxis wissenschaftlicher Institutionen
- Wie kann eine diversitätssensible sowie macht- und rassismuskritische Perspektive von Forscher*innen und Forschungsinstitutionen gefördert werden?
- Wie kann eine Forschung gestärkt werden, die Kulturelle Bildung nicht primär auf ihre Wirkungsversprechen hin beforscht, sondern auch mögliche individuelle und strukturelle Diskriminierungen sowie hegemoniale Machtdynamiken im Kontext Kultureller Bildung fokussiert?
- Wie können insbesondere im Kontext von Kultureller Bildung verstärkt die Perspektiven von Menschen mit Flucht- und Migrationserfahrungen durch partizipative Forschungsansätze berücksichtigt werden?
Auf den Ebenen von Wissenschaft und Forschung sowie von Förder- und Bildungspraxis der Kulturellen Bildung sollte es unserer Auffassung nach v.a. darum gehen, Forschungsprojekte, Förderrichtlinien und kulturelle Bildungsprojekte so zu entwickeln, dass Prozesse der Kulturalisierung, der Paternalisierung und des Othering vermieden werden und vielmehr eine macht- und rassismuskritische sowie diversitätssensible Perspektive eingenommen bzw. vorausgesetzt werden sollte. Mit einer so ausgerichteten Forschungs-, Förder- und künstlerischen Praxis wird sich Kulturelle Bildung nicht weiter als Integrationsmaßnahme im Kontext des Asylregimes einbinden lassen, sondern sie kann dann mit ihren Potenzialen dazu beitragen, Kritik an hegemonialen Praxen zu thematisieren, Widerständigkeiten zu artikulieren, ästhetische Differenzerfahrungen zu ermöglichen und das Menschenrecht auf kulturelle Teilhabe und Teilgabe von Menschen (Gerards 2019) und speziell von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit Flucht- oder Migrationsbiografie zu verwirklichen.