Kann das Spiel noch Basisstation der Theaterpädagogik sein? Reflexionen über ein Steckenpferd
Abstract
Das Spiel als Grundlage theaterpädagogischen Handelns zu verstehen ist durch den performative turn in den Hintergrund geraten. Der Beitrag sucht nach Anschlussstellen zwischen einem zeitgenössischen Verständnis von Bildung, performativem Handeln und Spiel, entlang derer die Theaterpädagogik eine kritische Selbstbefragung beginnen und zukunftsfähige Positionsbestimmungen vornehmen kann. In einer erweiterten Disziplin „performative Vermittlung“ hätte, so die These der Autorin, das Spiel als Modus dialogischen Handelns einen wesentlichen Anteil bei dem Unterfangen, den gesellschaftlichen Herausforderungen verantwortungsvoll zu begegnen. Handeln wäre in Anerkennung der wechselseitigen Abhängigkeit immer als miteinander Handeln zu verstehen und das Spiel mit gewachsenen Strukturen eine Möglichkeit, institutionelle Transformationsprozesse zu provozieren.
Wiederaufnahme: Fachtexte zum Spiel neu entdeckt und befragt
Dieser Beitrag entstand vor dem Hintergrund des gemeinsam von der Bundesarbeitsgemeinschaft (BAG) Spiel & Theater und dem Profilstudiengang Theater als Soziale Kunst an der FH Dortmund initiierten Projektes Theater – Auf(s) Spiel setzen. 12 Autor*innen wurden gewonnen, die Diskursfäden des 1998 von Hans-Wolfgang Nickel und Christian Schneegass herausgegebenen Sammelbandes zur Spieltheorie wieder aufzunehmen und mit Resonanz auf die in den 90er Jahren entwickelten Fachpositionen und mit aktuellem Bezug auf den heutigen Fachdiskurs die Begrifflichkeiten und Besonderheiten von Spiel/en im Zusammenhang einer gegenwärtigen und zukünftigen Theaterpädagogik zu reflektieren.
Der 1995 beim Symposium: Theater – Auf(s) Spiel setzen von Mira Sack vorgetragene und in dem Sammelband veröffentlichte Beitrag „Anspielungen“ steht als Download auf kubi-online zur Verfügung. Neben Mira Sack gehören Felix Büchner, Isabel Dorn, Stefanie Husel, Norma Köhler, Martina Leeker, Frank Oberhäuser, Dietmar Sachser, Hanne Seitz, André Studt, Sören Traulsen und Michael Zimmermann zu den Autor*innen, die in den kommenden Wochen auf kubi-online zu einer aktuellen Auseinandersetzung und Neupositionierung beitragen. Sie werden in ihren Fachbeiträgen ausloten, welche begrifflichen und anwendungsbezogenen Verschiebungen über die Jahrzehnte zu beobachten sind und welche Potenziale und Entfaltungsmöglichkeiten dem Spiel innewohnen.
Symposium Spieltheorie, Berlin 1995. Ich habe gerade mein Studium der Theaterpädagogik begonnen und darf erstmals an einem Fachkongress teilnehmen. Schreibe danach meine erste kleine Veröffentlichung für den Sammelband zur Tagung. Mehrere Fachartikel und eine Promotionsschrift später bekomme ich die Anfrage, mich auf diesen lange zurückliegenden Artikel – den ich eher als Notiz verstehe – erneut zu beziehen. 27 Jahre später soll das Spiel und seine theoretische Verortung in der Theaterpädagogik erneut ins Zentrum einer Publikation gestellt und von heute aus befragt werden. Ich lese also was ich damals formuliert habe. Wandere gedanklich durch das Sediment, das die intensive Beschäftigung mit Spiel im Rahmen einer Dissertation gebildet hat. Erinnere mich an die damalige Auseinandersetzung mit den fachwissenschaftlichen und didaktischen Dimensionen des Sujets. Befrage meine aktuelle Praxis an der Zürcher Hochschule der Künste hinsichtlich der Relevanz, die das Buch „spielend denken. Theaterpädagogische Zugänge zur Dramaturgie des Probens“ dabei noch hat (Sack 2011). Versuche die Impulse einer Re-Aktualisierung vor dem Hintergrund von Positionsbestimmungen zu greifen, die mich heute spielend denken lassen. Die Suche nach einem inhaltlichen und formalen Bezug zum Artikel mündet in der Entscheidung, drei Denkinseln zu skizzieren, die eine mögliche Binnenordnung im Gesamtkomplex Spiel erlauben und zum Weiterdenken anregen sollen. Nehme mir vor, den Arbeits- und Schreibmodus der jüngeren Jahre aufzugreifen, aber mit etwas mehr Kontext zu unterfüttern. Erlaube mir, weiterhin mehr suchend als wissend zu schreiben. Beginne ohne zu wissen, wo ich enden werde. Denn: „Das Spiel endet nicht, wo das Spiel aufhört. Es sei denn, es ist nichts als ein Spiel“ (Blau zitiert nach Weiler 2005: 49). There we are:
Ich erinnere mich noch gut an meine ersten Versuche, einer Definition von Spiel auf die Spur zu kommen. Die Unterscheidung von Spielerlebnis, Spielerfahrung und Spielereignis schien mir zugänglich genug, um eigene Erfahrungen als Spielerin mit pädagogischen Theorien in Verbindung zu setzen. Ganz in wissenschaftlicher Manier dachte ich, dass erst eine möglichst exakte Definition eine weiterführende Beschreibung und Analyse von Spielprozessen erlauben würde. Der mühsame Versuch einer endgültigen Fixierung des Spielbegriffs ist mir immer wieder aus den Händen geglitten, bis ich meinen ersten „milestone“ gefunden hatte: „Denke nicht, sondern schau!“ (Wittgenstein 2003:57). Ludwig Wittgensteins Aufforderung, nicht danach zu fragen, was Spiel sei, sondern vielmehr zu beschreiben, wie sich Spiel vollzieht, war wegweisend für einen grundlegend anderen Zu- und Umgang mit dem Phänomen. Es wurde plötzlich Erkenntnisinstrument, Leerstelle, Kräfteverhältnis, Bewegungsprinzip. Und es ließ sich aus verschiedenen Perspektiven beschreiben: wie Theaterpädagog*innen in Spielsituationen interagieren, mit welchen Interventionen sie in Spielverläufe eingreifen und zu welchen Entwicklungen dies in Probenzusammenhängen führen kann. Meine besondere Aufmerksamkeit galt der Reflexion des dynamischen Wechselverhältnisses zwischen Impulsen der Spielleitung und deren Auswirkungen in experimentellen Spielsettings künstlerisch-performativer Praxis. Die Untersuchung und der systematische Vergleich von exemplarischen Probensettings haben dabei zu einer Beschreibung der Probe aus dramaturgischer Perspektive geführt. Spiel wurde zur Basisstation für diese fachdidaktische Folie.
Das theaterpädagogische Praxisfeld hat sich zwischenzeitlich von klassischen Schauspielkonventionen weitgehend emanzipiert und die Bezugspunkte auf Spiel sind entsprechend erweitert, teilweise verschoben. Neben schauspielanalogen Arbeitsweisen sind performative Praktiken getreten, in denen der Fokus vom darstellenden Modus des Spiels hin auf die Unmittelbarkeit des Handelns in einem konzeptionell gebauten Rahmen rückt und die das Miteinander von agierenden und betrachtenden Personen betonen. Spiel wird als partizipativ und kollektiv erzeugtes Ereignis unter diesen Gesichtspunkten mehr implizit als explizit beleuchtet und befragt. So rückt heute beispielsweise die Schwelle zwischen Spiel und Nicht-Spiel in den Vordergrund und wird mit großer Aufmerksamkeit seziert; immersive Theaterformate oder die Streitbarkeit von Spiel versus fake hängen sich an dieser Sollbruchstelle auf. Fragen danach, welche Spielformen der Repräsentation heutzutage legitim sind, gehören ebenso in diese Schnittstelle wie ein erweitertes Verständnis von performativem Handeln als politischem Akt. Daneben steht die machtkritische Reflexion auf Rahmungen und Regeln, innerhalb derer Theater produziert wird endlich explizit zur Debatte, so dass die Institution als solche in ihren verkrusteten, diskriminierenden Strukturen nicht mehr länger unhinterfragt haltbar bleibt und sich als veränderbares Gefüge in Bewegung versetzen muss. Gleichzeitig finden neue subversive Spielformen, die ihre Aufmerksamkeit der Provokation verdanken, öffentlich Gehör bei einem Publikum, das keines sein wollte.
Das Spiel als Gelenkstelle zum Bildungsdiskurs fordert die theaterpädagogische Fachwissenschaft heraus, sich vor diesem Hintergrund neu zu justieren. Ich verfolge – analog zum Text von 1995 – drei unterschiedliche Dimensionen, die aus meiner Sicht eine Re-Vision des Spiels als Basisstation der Theaterpädagogik notwendig und lohnend machen. Dabei greife ich in einer ersten Überlegung mögliche Kriterien für die qualitative Bewertung von Bildungsprozessen auf, gehe anschließend auf das dialogische Handeln als Wesenselement des Spiels ein und gelange schließlich zum Spiel als Intervention in institutionelle Strukturen, das ein erweitertes Verständnis der Theaterpädagogik nahelegt.
Der Komplexitätsgrad von Bildung
Akzeptieren wir es, den Umgang mit Krisen und die Krise selbst als Teil von Bildungsprozessen zu verstehen, sind wir aufgefordert den „state of the art“ der Theaterpädagogik angesichts der Herausforderungen unserer Zeit neu zu diskutieren. So fragt beispielsweise Ole Hruschka in der Einleitung des Thementeils „Zur Produktivität der Krise“ in der Zeitschrift für Theaterpädagogik nach den Denkbewegungen, die in Zeiten ökonomischer, ökologischer und weltpolitischer Krisen (soziale Ungleichheit, Klimawandel, Krieg usf.) notwendig sind: „Welcher ethische oder politische Auftrag und welche ästhetischen Konsequenzen ergeben sich aus den aktuellen und für die Zukunft prognostizierten Krisen und Notlagen für das Arbeitsfeld?“ (Hruschka 2022:3). Da der unsere Fachwissenschaft begleitende transformatorische Bildungsbegriff einer Logik der Krise folgt, haben wir hier eine geeignete Anschlussstelle für die weitere Diskussion. Ausgehend von der Setzung, dass „Bildungsprozesse als Reaktion auf eine bestimmte Art von Krisenerfahrungen“ zu verstehen seien, die durch die „Konfrontation mit Problemen ausgelöst werden, für deren Bewältigung die Figuren des bisherigen Welt- und Selbstverhältnisses nicht mehr ausreichen“, liegt es nahe, die besonderen Krisenerfahrungen, denen wir uns in der gegenwärtigen Gesellschaft ausgesetzt sehen, genauer zu beschreiben (Koller 2010:289). Der theaterpädagogische Diskurs hat hier in meinen Augen bislang allzu leichtfertig den Bildungsbegriff affirmativ in Transformationsprozesse, die das Spiel und Theater bereithalten, übertragen. Dass das transformatorische Bildungsverständnis ein Antwortverhalten auf gesellschaftliche Herausforderungen kennzeichnet, wurde und wird nach wie vor wenig berücksichtigt. Auch die Übertragung der von Christoph Koller begonnenen Engführung der Qualitätsmerkmale von Transformationsprozessen auf unser Feld steht noch aus. Er nennt als eine notwendige Voraussetzung, dass die Offenheit für weitere transformative Prozesse gewährleistet bleiben muss und damit dezidiert die Entwicklung von verhärteten, dogmatischen Positionen nicht als Bildungsprozess gelten können (vgl. Koller 2016:158). Einen zweiten Aspekt findet er im Denkmodell des Widerstreits nach Jean-François Lyotard, der die unbedingte Anerkennung alternativer Denkmöglichkeiten einfordert. Der Respekt vor der Differenz des Andersdenkenden weist totalitäre Wahrheitsansprüche zurück und schließt solche Transformationsprozesse aus, die andere Sichtweisen, andere Denkstile und Diskursarten, zum Schweigen bringen wollen (vgl. Koller 159). Inwiefern unter dieser Rahmung Spiel als geeigneter Parameter für die Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Krisen und den durch sie indizierten neuen Figurationen von Selbst-Welt-Verhältnissen gelten kann, wäre für die Untersuchung von Praxis und Praktiken der Theaterpädagogik eine erweiterte Richtschnur, die in das aktuelle Selbstverständnis eingezogen werden sollte.
Bei aller Präzisierung der gesellschaftlichen Verankerung und qualitativen Maßstäbe betont der transformatorische Bildungsbegriff jedoch nach wie vor die krisenhafte Erfahrung individueller Figuren des Selbst-Welt-Verhältnisses. Er marginalisiert mit dieser Perspektivierung den Blick auf eine über die individuelle Bildung hinausreichende, von uns allen geteilte gesellschaftliche Verantwortung für die Zukunftsfähigkeit der Welt. Zukunft als Konflikthorizont durchzieht heute vermeintlich mehr denn je Fragestellungen und Entscheidungsprozesse von Kindern wie von Erwachsenen. Wir sind gefordert, unser Handeln und Denken in Bezug auf die nachfolgenden Generationen zu legitimieren und nachhaltige, zukunftsfähige Lösungen für die gesellschaftlichen Herausforderungen der Gegenwart zu entwickeln. Es geht dabei nicht mehr (nur) um die althergebrachten Konstellationen zwischen den Generationen, in denen die Kinder von Erwachsenen befragt werden, wie sie sich ihre persönliche Zukunft vorstellen. Diese Triebfeder von beispielsweise Gob Squads vielbeachteter Performance „Before your very eyes“ (2011), die die Vorstellung von biographischen Wandlungs- und persönlichen Entwicklungsprozessen von Kindern thematisiert, wirkt heute fast so beschaulich wie die ungezählten Eigenproduktionen zu „Träume“, „Mutprobe“ oder „Held*innen“. Sie umkreisen in der Regel die Konflikte und Ambivalenzen von individuellem Begehren, Macht- oder Allmachtsphantasien und münden meist in der individuellen Läuterung ihrer Protagonist*innen. Im günstigen Fall zeigen sie zwar den Effekt von aktuellen Weltverhältnissen auf individuelles Erleben und thematisieren individuelle Zukunftsentwürfe als kontingent und ungewiss. Gleichzeitig bleiben sie aber in ihrer Spielkonfiguration im fiktionalen Raum und in der Regel jenseits einer real eingeforderten oder er-spielten Veränderung von Welt. Wie aber kann es, fragt Helmut Peukert, zu einer Transformation der gegenwärtigen Verfasstheit von Gesellschaft kommen, die ein Überleben aller unter humanen Existenzbedingungen möglich erscheinen lässt? (vgl. Peukert 2000:511) Mit dieser Frage reklamiert er einen Bildungsbegriff, der die gegenwärtigen Herausforderungen an die gesellschaftliche Zukunftsfähigkeit zur notwendigen Bedingung von Transformationsprozessen macht. Indem er die Gesellschaft zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen nimmt und Veränderungsnotwendigkeiten dort verortet, setzt er das Individuum frei vom Zwang, in erster Instanz ein – möglichst gebildetes – Subjekt werden zu müssen. Diese Drehung erlaubt es uns, nach Wegen und Spielformen Ausschau zu halten, die „die Welt“ in transformatorische Bildungsprozesse aktiv mit hineinnimmt und verändernd mit dem existierenden gesellschaftlichen Gefüge interagiert. Im Zug einer solchen Erweiterung des Bildungsbegriffs theaterpädagogische Spielformen und Spielverläufe auf ihre Nachhaltigkeit, ihre Bedeutung für subjektüberschreitende Reflexionsprozesse oder die Konsequenzen in Bezug auf gesellschaftliche Verantwortung und solidarisches Agieren zu befragen, verstehe ich als dringende Herausforderung für unser Fachgebiet.
Handeln in wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnissen
Fachtheoretische Positionen zum Spiel gehen in der Regel von einem vorgestellten Subjekt als reagierende und interagierende Entität aus. Dadurch wird das autonome Subjekt als Fixpunkt pädagogischen Handelns bislang weitgehend unangefochten und häufig unreflektiert ins Zentrum von Lernen und Bildung gestellt. Fachwissenschaftliche Fragestellungen zum Spiel schließen sich gerne dieser Logik an. Auch Praxisleitfäden oder pädagogische Begründungsmodalitäten folgen in der Regel diesem Duktus. Allmählich treten diskursanalytisch und praxistheoretisch verankerte Sichtweisen auf das Subjekt stärker in den Vordergrund, die das Subjekt als relationales Gefüge begreifen. Sie konstituieren und konstruieren das Subjekt als eingelassen in Abhängigkeitsverhältnisse gesellschaftlicher Natur. Damit kommt einerseits die Notwendigkeit von Differenz in den Blick, andererseits wird die Überhöhung des Individuums in Frage gestellt und der Idee der Machbarkeit des eigenen Lebens skeptisch begegnet.
Wird das Subjekt als Teil eines sozialen Gefüges verstanden, werden Fragen nach der Qualität des Miteinander wichtig. Geht man von einer „existenziellen gegenseitigen Angewiesenheit“ aus, sind Kooperation und gemeinsame Verantwortung füreinander zentrale Aspekte in Lern- und Bildungskontexten; sie stellen für den Bildungs- und Kulturwissenschaftler Michael Wimmer „zentrale Überlebensstrategien in einer zerbrochenen Welt dar, in der Menschen unterschiedlich sind, über unterschiedliches Wissen und Erfahrungen verfügen, unterschiedlich handeln und doch auf Gedeih und Verderb aufeinander angewiesen sind“ (Wimmer 2019). Das Vermögen zur Kooperation verbindet er mit dem Erwerb der Fähigkeit, „sich in andere hineinzuversetzen, flexibel, oft intuitiv auf deren Vorgaben zu reagieren und immer wieder einen Schritt zurückzutreten, um aus der Distanz zu beobachten, was da gerade im Spannungsfeld von Differenz und Gemeinsamkeit passiert“ (ebd.). Dass wir in der Lage sind, gemeinsame Lernprozesse konstruktiv zu machen, sieht er bereits im Modus des „gemeinsam spielen“ von Kindern angelegt: Kindern muss man in der Regel nicht sagen, dass es viel mehr Spaß macht, etwas gemeinsam zu unternehmen als die Welt ganz alleine zu erfahren: „Entwicklungspsychologische Forschungsergebnisse zeigen uns, dass Kleinkinder ein noch weitgehend intuitiv ungebrochenes Verständnis für die Absichten anderer als Voraussetzung für das gemeinsame Tun haben“ (ebd.). Gerade in den performativen Künsten ist die Fähigkeit, das eigene Sensorium für die anderen Mitwirkenden zu schärfen von immenser Bedeutung für die kreative Arbeit und der Dreh- und Angelpunkt von Spielprozessen.
Das Wissen um Wesensmerkmale des Spiels öffnet mir an dieser Stelle eine Tür: Dem Spiel eingeschrieben ist ein „subjektüberschreitendes Ablaufgeschehen“ (vgl. Scheuerl 1990:220), es ist also maßgeblich von Impulsen und Interaktionen geprägt, die außerhalb einer als autonom gedachten Instanz des spielenden Subjekts liegen. Für mich gehört das aufmerksame Verfolgen dieser heteronomen Prozesse heute zu den wesentlichen Aufgaben und Herausforderungen einer kritischen Reflexion von Spielformen und -verfahren der Theaterpädagogik. In der performativen Selbstüberschreitung machen wir uns abhängig von Ereignissen, die sich nicht mehr in gewohnter Manier kontrollieren oder manipulieren lassen. Dennoch oder gerade deshalb darin handlungsfähig zu bleiben, verweist auf die besondere Notwendigkeit kooperativen und kollektiven Handelns im Spiel. Wenn wir die theaterpädagogische Handlungstheorie weiterentwickeln wollen, sind Forschungsarbeiten entlang dieser Prämissen des Spiels voraussichtlich eine wertvolle Ergänzung zu unserem überwiegend auf Selbstbildungsprozessen bezogenem Denken.
Im Zuge dessen könnte ein derartig erweitertes Verständnis der Theaterpädagogik das Feld einer performativen Vermittlung ausrollen und richtungsweisend für das Etablieren spielbasierten Handelns und anderen Formen des Dialogs in und zwischen unterschiedlichen gesellschaftlichen Subkulturen sein. Dialogische Praktiken als Experimentierfeld für performatives Handeln müssten sich demnach an der temporären Überschreitung bestehender Denk- und Handlungsschemata orientieren, Wahrnehmungsprozesse außerhalb der etablierten Muster und Mechanismen ermöglichen und nach Begegnungs- und Bezugspunkten suchen, die heteronomes Geschehen fördern. Auch hier stünden die Grenzverschiebungen von Spiel und Nicht-Spiel im Mittelpunkt. Sie wären mit Vorteil so zu wählen, dass durch sie hindurch Impulse für ein zukunftsfähiges Miteinander erwachsen könnten und kollektive, kooperative Praxis in Erfahrung gebracht werden kann.
Transformation von institutionellen Strukturen
Kulturtheoretisch orientierte Handlungstheorien charakterisieren unsere Gegenwart als von einer umfassenden Kontingenz gekennzeichnet, die einen neuen Modus der Reflexivität einfordert. Wissen und Erfahrung greifen demzufolge inzwischen zu kurz und garantieren keine stabilen und dauerhaft belastbaren Entscheidungen über zukünftige Lebensverläufe und das gesellschaftliche Überleben. Es ist vielmehr eine neue Stufe der Reflexion auf die gegenwärtige Verfasstheit der Gesellschaft gefragt, die das Potenzial hat, diese Gesellschaft so zu transformieren, dass „insgesamt Überleben möglich erscheint, ohne dass einer immer größeren Anzahl von Menschen eine humane Existenz verweigert wird“ (Peukert 2000:511). Von Bildung wäre ihm zufolge erst dann zu sprechen, wenn sie in diesem Sinne gesellschaftlich notwendige Transformationsprozesse reflektiert und dazu mobilisiert, kulturelle Lebensformen, die sich selbst gefährden, in ihren Strukturen und ihren geltenden Regeln zu verändern (vgl. Peukert 2000:509/511).
Neben der Infragestellung des aktuellen gebräuchlichen Bildungsgedankens steht für Peukert im Zuge dessen auch das gängige Verständnis von Praxis zur Disposition. Beispielgebend ist ihm hierfür die moderne Literatur, die „konstitutionelle Innovationen“ hervorbringen kann (vgl. Peukert 2000:518). Performative Handlungspraktiken des zeitgenössischen Theaters lassen sich hier einordnen, so sie auf experimentellen Arbeitsweisen basieren und an den explorativen und innovativen Potenzialen des Spiels anschließen. Für die kunstpädagogische Praxis liegt in der Schnittmenge von performativen Verfahren und der Reflexion strukturell notwendiger gesellschaftlicher Transformationen die Chance für nachhaltige Bildungsprozesse, konstruktiven Umgang mit Kontingenz und zukunftsbewusstes, verantwortliches Handeln.
Für eine an performativer Vermittlung orientierten pädagogischen Praxis hieße das, dem intersubjektiven Zwischenraum des Spiels besondere Beachtung zu schenken, das Subjekt und die Gesellschaft als fluide Ordnungen zu verstehen, auf deren aktuelle Strukturen aktiv Einfluss genommen werden kann. Dies kann punktuell zu kollaborativen Spielverfahren mit Institutionen oder Expert*innen aus anderen Wissens- und Handlungsfeldern führen und mit dem Anliegen verbunden sein, Veränderungsimpulse unmittelbar in gesellschaftliche Wirklichkeit einzubringen. Das Spiel als sanfter Systemsprenger hätte bei Interventionen in gesellschaftliche Institutionen und für die kollaborative Praxis mit Partner*innen außerhalb des Kunstfelds meines Erachtens ein erhebliches Potenzial zu konstitutionellen Innovationen. Die hier sehr grob skizzierten Aspekte, die die Verwendung des transformatorischen Bildungsbegriffs in einer kritischen Theaterpädagogik aktualisieren könnten, hätten erhebliche Konsequenzen für die Positionsbestimmung der Theaterpädagogik/performativen Vermittlung und den Zielsetzungen, die damit in Verbindung stehen. Wenn menschliche Entwicklungs- und Bildungsprozesse „als ein gemeinsames Konstruieren“ zu lesen wären, in denen es „unter unbedingter Achtung vor der Unangreifbarkeit des anderen um Transformationen von Strukturen geht“ und die Zielvorstellung davon eine gesellschaftliche Überlebensfähigkeit aller beinhaltet (vgl. Peukert 2000:511), sollte theaterpädagogisches Handeln diesen Parametern folgen. Spiel hätte darin weiterhin einen prominenten Platz, der sichtbarer gemacht werden könnte, als es vielleicht in den letzten Dekaden der Fall war. Es könnte bei der Suche nach kooperativen und kollektiven Strategien im Umgang mit kontingenten Situationen als Modus dialogischen Handelns wirksam werden und gesellschaftliche Transformationsprozesse initiieren. Zu untersuchen wäre, in wie weit experimentelles, spielerisches Denken eine neue Stufe von Reflexion begünstigen kann und welche Funktion es für das Erzeugen von Synergien in kollaborativen Praktiken hat. Dass sich das Spiel dabei aus dem theaterpädagogischen Anwendungsfeld und dem Rahmen der Kunst hinausbewegt und in unterschiedlichen gesellschaftlichen Konstellationen mit Verschiebungen der nur vermeintlich verlässlichen und stabilen Differenz von Spiel und Nicht-Spiel agieren kann, halte ich dabei für das eigentliche Potenzial. Spielen wir damit, werden wir uns neu erfinden können.