Transformation im Theater und Kultureller Bildung: Ein neues aktivistisches Paradigma?

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von Ute Pinkert

Erscheinungsjahr: 2022

Abstract

Welche Auswirkungen haben die gegenwärtigen Transformationsprozesse auf den Bereich der darstellenden Kunst und insbesondere die Theaterpädagogik als Teil Kultureller Bildung? Meine These ist, dass derzeit in radikaler Weise die Bedingungen für die gesellschaftliche Relevanz öffentlich geförderter Theater auf dem Prüfstand stehen. Im (akademisch geprägten) Zwischenfeld von Freier Szene/Vermittlung und Theaterpädagogik hat dies nach Frank Oberhäußer (Turbo Pascal) zu einem „aktivistischen Turn“ geführt. Für Produzierende darstellender Kunst bedeutet dies unter anderem eine Ent-Normalisierung der Präsentation darstellender Handlungen vor anderen und für andere. Indem damit die Autorität einer künstlerischen Aussage zur Disposition steht, sind Darstellende aufgefordert, die Einlassung der theatralen Kommunikation in den sozialgesellschaftlichen Raum nicht nur zu reflektieren, sondern explizit zu thematisieren und zu verhandeln. Fragt man nach den Konsequenzen eines aktivistischen Turns für die Theaterpädagogik, rückt die Praxis des Positionierens in den Blick (Jörissen/Unterberg), die eng mit dem Phänomen der Haltung verbunden ist. Wie verhält es sich mit dem Verhältnis zwischen (politischer) Intention und Haltung? Welche Bedeutung kommt dem Spiel im aktivistischen Turn zu und ist eine gesellschaftliche Transformation ohne die Einbeziehung der somatischen Dimension überhaupt denkbar?

Transformation wird in diesen Zeiten in seinem ambivalenten Charakter unmittelbar erfahrbar: Ein grundlegender Wandel umfasst die materiellen, körperlichen und institutionellen Grundlagen unserer Existenz sowie unser Denken, Wissen, Fühlen – und sein Ausgang ist ungewiss, besser: unverfügbar (Rosa 2020). Das auszuhalten ist nicht leicht. Was auf individueller Ebene als Orientierungslosigkeit oder Krise erlebt wird, lässt sich unter einer gesellschaftswissenschaftlichen Perspektive als „ein langfristige(r) Prozess, der weitreichenden Veränderungen in verschiedenen Bereichen der Gesellschaft“ (Forschungszentrum für Nachhaltigkeit) beschreiben. Die Komplexität ergibt sich daraus, dass „diese Veränderungen in den einzelnen Teilsystemen (…) interdependent (sind), d.h. Veränderungen in dem einen System (…) Veränderungen in einem anderen System (beeinflussen) und von diesem (…) beeinflusst werden“ (ebd.). Wie in der Definition des Forschungszentrums für Nachhaltigkeit (FFN) an der Freien Universität Berlin, auf die ich mich hier beziehe, betont wird, kommt es erst dann zu einer Transformation, „wenn sich verschiedene Veränderungen in Teilbereichen gegenseitig verstärken und der gesellschaftlichen Entwicklung eine Richtung geben“ (ebd.) Innerhalb des Transformationsprozesses existieren verschiedene Richtungen „alt“ und „neu“ (vgl. ebd.) nebeneinander und, so meine Ergänzung, stehen zueinander in Konkurrenz um Ressourcen, im Kampf um (Geltungs-)Macht.

„Erst im Verlaufe einer Transformation – beim erfolgreichen Verlassen von Pfadabhängigkeiten und Überwinden von Barrieren – stellt sich heraus, welche Richtung die Transformation einer Gesellschaft einschlägt.“ (Forschungszentrum für Nachhaltigkeit)

Ich begreife gesellschaftliche Transformation damit als einen Prozess, der nicht geradlinig und eindimensional – und auch nicht zuverlässig in Richtung eines wie auch immer konzipierten ‚Fortschritts‘ – verläuft, sondern geprägt ist von Heterogenität, Gleichzeitigkeit und von verschiedenen Interpretationen, Interessen und vor allem Machtpositionen menschlicher Akteure. Gesellschaftliche Transformation ist damit nicht unabhängig von politischem Handeln zu begreifen.

Auf diesen Zusammenhang zwischen Interpretationen gegenwärtiger Transformationsprozesse und fachpolitischen Konsequenzen werde ich mich im Folgenden konzentrieren. Ich spreche dabei aus der Perspektive einer weißen Hochschulprofessorin, die seit 15 Jahren an einer Kunstuniversität im Berliner Zentrum lehrt und die Theaterszene Berlins wie Ansätze der Kulturellen Bildung aus einer theaterpädagogischen Perspektive verfolgt. Dieser Situierung entsprechend gilt meine besondere Aufmerksamkeit Tendenzen, die ich als neu bewerte und für die aktuelle kulturpädagogische Praxis besonders im Bereich der darstellenden Künste für relevant halte.

Transformationen im öffentlich geförderten Theater

Zuerst nehme ich einen institutionsbezogenen Blick ein und schaue auf die Vertreter:innen der öffentlich geförderten Theater. Welche Positionen gibt es hier? Worüber wird aktuell nachgedacht und gestritten? Exemplarisch beziehe ich mich auf eine Tagung, die im April 2022 von der AG Theater der Zukunftausgerichtet wurde. Die AG Theater der Zukunft besteht nach eigener Aussage aus verschiedenen Stakeholdern aus dem Theaterbetrieb und hat sich „über ein Jahr mit den Herausforderungen im Theaterbetrieb beschäftigt: Themen benannt, Erfahrungen ausgetauscht, Perspektiven ermöglicht und Problemfelder offen diskutiert.“ (https://www.zukunftdestheaters.de/) Auf der Tagung gab es eine Reihe von Workshops, deren Titel unter anderem lauteten: „Denkraum strategische Personalplanung und -entwicklung; Partizipation und Leitungsfindung; Kultur und Nachhaltigkeit, Diversität als Voraussetzung, wie wirkt strukturelle Diskriminierung im Theater?; Vernetzung mit freier Szene und Theaterpädagogik; Repräsentation und Besetzung; Kommunikation aktiv gestalten.“ (ebd.)

Meiner Wahrnehmung nach wird im Bereich der öffentlich geförderten Theater gegenwärtig deren gesellschaftliche Funktion thematisiert. Die Aufmerksamkeit der Akteure in der professionellen Szene richtet sich hierbei auf die Strukturen der Produktion und Distribution darstellender Kunst, die in Bezug auf Hierarchien und Machtbeziehungen innerhalb der Theaterbetriebe hinterfragt und nach der Vermeidung von Ausschlüssen befragt werden. Dabei wird sowohl die Produktionsweise von Theater (Repräsentationssystem) als auch die Beziehung zum Publikum einer Revision unterzogen. Anders als in den 2000er Jahren geht es dabei nicht mehr nur um eine Öffnung von normalisierten Institutionen gegenüber bislang ausgeschlossenen Menschengruppen, sondern um eine Befragung der institutionellen Produktionsbedingungen und Produktionsweisen im Zuge einer Normalisierung von Differenz. So formuliert Amelie Deuflhard, im Rahmen der Vorstellung des internationalen Netzwerkes Europe Beyond Access:

„Barrierefreiheit endet keinesfalls auf der Bühne, sondern verändert unsere Häuser maßgeblich, beispielsweise in Produktionsabläufen oder Zeitkalkulationen. Diese Arbeit (…) ist der Beginn eines umfassenden und dringend notwendigen Umbaus der Theaterlandschaft, der gerade in Deutschland erst am Anfang steht.“ (Deuflhard 2021)

Thesen zur aktuellen Befragung der gesellschaftlichen Funktion der Theater

Ich leite daraus drei Thesen ab.

  1. Anders als in anderen Bereichen spielt Digitalisierung als Moment von Transformation im aktuellen Diskurs der öffentlichen Theater nicht unbedingt die dominante Rolle. Die These ist, dass nach dem Boom innerhalb der Pandemie und einem vielstimmigen Nachdenken über postpandemisches Theater, bestimmte Formen der Produktion (z.B. Netztheater, immersives Theater) und der Distribution (z.B. Streamingangebote) als etabliert gelten können. Digitalisierung wird meiner Wahrnehmung nach vor allem im Hinblick auf Frage nach der spezifischen Funktion von öffentlich geförderten Theatern im postdigitalen Zeitalter zum Thema. Damit verbinden sich ästhetische Fragestellungen (Wie und was erzählen?) mit strukturellen Fragen nach Zugänglichkeit: „Das Theater muss also auch digital nicht nur als Kunstform, sondern auch als Ort und soziale Praxis gedacht werden, mit deren Hilfe die (Spiel-)Regeln der digitalen Demokratie ausdifferenziert werden können.“ (Slevogt 2018)
  2. Die Konzentration auf Hierarchien, Machtverhältnisse und Diskriminierungsgewalt innerhalb und außerhalb der Institution, auf Fragen nach der Produktion von Alterität entlang verschiedener Diskriminierungsachsen wie gender, race, ability und class korrespondiert mit einer (verspätet einsetzenden) Auseinandersetzung der Theaterinstitutionen mit ihrer sozialen Funktion innerhalb einer von sozialen Ungleichverhältnissen, divergierenden Kommunikationsblasen und blockierten Aufstiegschancen geprägten gesellschaftlichen Realität. Nach einem Befund Michael Wimmers vermieden in den 2010er Jahren „die kulturpolitischen Entscheidungsträger:innen Konzepte der kulturellen Vielfalt auf die unterschiedlichen sozialen Umstände, die die Träger:innen eben dieser kulturellen Vielfalt charakterisieren, zurückzubeziehen, um sie so überhaupt erst politisch bearbeitbar zu machen.“ (siehe: Michael Wimmer „Kulturelle Bildung im Spannungsfeld von Ökonomisierung, Entgrenzung und Spaltung. Eine Bestandsaufnahme: Was hat sich verändert? Gibt es Handlungsbedarf für Kulturelle Bildung?“). Mit der Erkenntnis, dass „das wachsende Gefühl des Ausschlusses aus dem politischen Geschehen vor allem bei den sozial Schwachen (…) mit ausschließlich kulturellen Mitteln nicht mehr kompensiert werden kann“ (ebd.) stehen die öffentlich geförderten Theater in (post-)pandemischen Zeiten vor der Herausforderung im Selbstverständnis allgemeingesellschaftlicher Orte der Versammlung (Malzacher 2019) auf allen Ebenen gegen gesellschaftliche Benachteiligungen und Segmentierungen anzukämpfen. 
  3. Damit lässt sich auf mehreren Ebenen eine Annäherung von institutionalisiertem, professionellem Theater und Theaterpädagogik bzw. Theatervermittlung als Bereich ästhetisch Kultureller Bildung konstatieren. Hier entsteht seit einigen Jahren ein Feld von Strukturen und entsprechenden Personen, das sich durch eine Flexibilität hinsichtlich der Funktionen von Vermittlung, Kuration und künstlerische Leitung auszeichnet. Die Unterscheidung zwischen professioneller Kunst und Kultureller Bildung wird hier zunehmend in Frage gestellt und Spielweisen durchlaufen aufgrund von Strategien der Professionalisierung und Deprofessionalisierung (vgl. Roselt 2018) einen Prozess der Angleichung. Beispiele sind Bürgerbühnen, Jugendklubs, die freie Szene. Eine wesentliche Voraussetzung für die Entstehung dieses Zwischenfeldes ist die Akademisierung der Ausbildungen in künstlerischer Praxis und Vermittlung (Hildesheim, Gießen, Berlin, Lingen, Zürich). Meiner Beobachtung nach entwickelt sich hier eine neue Differenzlinie zwischen einer diskurskritisch und interdisziplinär ausgerichteten vermittlungsorientierten Theaterpraxis innerhalb des Kunstfeldes auf der einen Seite und einer eher auf methodisches Handwerk ausgerichteten Theaterpraxis innerhalb des sozialen Feldes und der Weiterbildung auf der anderen Seite. Während in ersterer eine Grenzverwischung stattfindet, bleiben in letzterer Theaterkunst und Theaterpädagogik strikt voneinander unterschieden.

Ein aktivistischer Turn?

Wie eingangs beschrieben, zeichnet sich ein Transformationsprozess dadurch aus, dass verschiedene Strömungen nebeneinander existieren. Ausgehend von meinem Interesse an neuen Entwicklungen möchte ich mich im Folgenden auf das Zwischenfeld zwischen Theatervermittlung und freier Szene konzentrieren. Hier ist meiner Einschätzung die Hinterfragung der Machtstrukturen des künstlerischen Betriebes am weitesten vorangeschritten und die Notwendigkeit einer Veränderung von Organisationsstrukturen, institutionellen Bedingungen, Inhalten, Ästhetiken und nicht zuletzt des Bewusstseins seiner Akteure im Kontext einer umfassenden diskriminierungskritischen Agenda wird am konsequentesten vertreten. Frank Oberhäußer, Mitglied der Gruppe Turbo Pascal und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Hildesheim, greift zur Kennzeichnung des grundlegenden Wandels dieses Feldes auf den Begriff des ‚turns‘ zurück und spricht vom „aktivistischen turn“ (Oberhäußer 2022:5). Oberhäußer konstatiert eine veränderte Ausrichtung seiner Gruppe und der freien Szene insgesamt: Galt das Interesse in den 2010er Jahren seinem Befund nach noch einer experimentierenden Ausweitung des Theaterbegriffs und einer Schaffung innovativer Theaterformen, so gehe es heute um:

  • eine dezidierte politische Stellungnahme innerhalb der Projekte „tendenziell aus ungewöhnlichen, progressiven, auch – im Vergleich zum politischen Meinungsspektrum – radikaleren Perspektiven“ (ebd.);
  • das Auf-die-Bühne-Bringen von „marginalisierte(n) Perspektiven“ (ebd.);
  • die Bewusstmachung der „eigenen Ausschlussmechanismen“ sowie ihre Diskussion: „wer ist das Publikum und noch stärker: wer steht da eigentlich auf der Bühne?“ (ebd.);
  • eine strenge diskriminierungskritische Überprüfung der Inhalte, künstlerischen Formen, aber auch (der) Organisationsformen (vgl. ebd.).

Beispielhaft sei hier die Produktion „Unterscheidet euch! Ein Gesellschaftsspiel“ von Turbo Pascal genannt, die 2019 am Theater an der Parkaue in Berlin Premiere hatte und mit den zuschauenden Kindern soziale Unterschiede auf ganz unmittelbare Weise verhandelt und zwar mittels des dramaturgischen Kniffs, die Kinder verschiedene soziale Identitäten losen zu lassen und diese Spiel-Identitäten im Theaterraum in verschiedene Anordnungen zu bringen (vgl. https://www.turbopascal.info/unterscheidet-euch/). Die Ausrichtung eines solchen Theaters der Versammlung finde ich treffend auch in den Merkmalen eines ‚theatre of engagement‘ beschrieben, die Andy Lavender 2016 skizziert hat.

„This is a theatre that is socially committed, not necessarily to espouse a particular perspective (althought it might), but to perform an age old function: provide a seeing place (theatron) where matters of significance are shared communally, and a gathering ground where events are inhabited in common.“ (Lavender 2016 nach Siegmund 2020:122)

Wenn der aktivistische Turn unter einer künstlerischen Perspektive zu einer produktiven Suche nach neuen Möglichkeiten der Kopplung von relevanten politischen Diskursen, Ästhetik und partizipativen Formaten führt, geht er auf Seiten der künstlerischen Akteure mit ganz neuen Anforderungen einher. Denn nun verschiebt sich das Verhältnis von Diskriminierung und Privilegien. Es wird z.B. genauer gefragt, was partizipativ Beteiligte davon haben, wenn die leitenden Künstler:innen mit partizipativen Projekten symbolisches Kapital im Kunstfeld generieren (vgl. dazu auch Mörsch 2016). Damit geraten sowohl das Selbstverständnis als bisher ‚unterprivilegierte‘ freie Theatermacher:in als auch die eigenen Arbeitsweisen in ihrem Anspruch, „innovativ, sozial orientiert, manchmal sogar investigativ-aufklärerisch“ (Oberhäußer 2022:5) zu sein, in die Krise.

Entscheidend für diese Krise scheint mir ein Merkmal des aktivistischen Turns zu sein: die Veränderung der Legitimation künstlerischer Praxis. Wie Wolfgang Ullrich in seinen Überlegungen zur „postautonomen Kunst“ (vgl. Ullrich 2022) beschreibt, ist in der (bildenden) Kunst der autonome Kunstbegriff mittlerweile ‚entleert‘ oder auch ‚beliebig‘ geworden, weshalb nach einer neuen Gewichtung gesucht wird, indem man die Kunst „mit politischen Themen auflädt, in die Mechanismen der Märkte einbindet oder auf andere Weise mit etwas assoziiert, das zu groß und zu selbstverständlich ist, um wegdiskutiert werden zu können“ (Ullrich:44). Während sich Ullrich auf den Werkcharakter postautonomer Kunst konzentriert, kommt unter einer diskriminierungskritischen Perspektive die Beziehung zwischen Künstler:innen und ihren künstlerischen Äußerungen in den Blick. Es wird dafür plädiert, wissenschaftliche, künstlerische und aktivistische Praktiken nicht mehr streng voneinander zu unterscheiden, sondern postkoloniale Kritik (in Wissenschaft und Kunst) zu einem performativen Akt zu machen, „also zu einem Sprechen, das (…) tut, was es verspricht.“ (Sharifi/Skwirblies 2022:18, Herv. UP)

Theatermachen nach dem aktivistischen Turn ist meiner These nach durch eine Problematisierung von Positionierung charakterisiert: Im Bewusstsein, dass die Normalität gesellschaftlicher Verhältnisse durch diskriminierende Unterscheidungen z.B. anhand der Differenzachsen race, gender, class, ability hergestellt wird, wird eine Präsentation darstellender Handlungen vor anderen und für andere ent-normalisiert. Damit steht die Autorität einer künstlerischen Aussage prinzipiell zur Disposition. Für darstellende Künstler:innen reicht es nicht mehr aus, diese Autorität auf die ästhetischen Codes und die Anerkennungspraktiken des Kunstfeldes zu stützen – also im Wesentlichen auf künstlerische Innovation. Vielmehr geht es für Theaterproduzierende darum, die Einlassung der theatralen Kommunikation in den sozialgesellschaftlichen Raum nicht nur zu reflektieren, sondern daraus eine kritische Auseinandersetzung mit der eigenen gesellschaftlichen Position und Autorschaft sowie der Position des Publikums zu entwickeln und diese in der Aufführungssituation vor oder besser, gemeinsam mit dem Publikum zu thematisieren und zu verhandeln.

Aktivistischer Turn in der Kulturellen Bildung/Theaterpädagogik

Ich möchte der These eines aktivistischen Turns hypothetisch folgen und darüber nachdenken, was dieser für die Kulturelle Bildung, speziell für die Theaterpädagogik bedeuten kann. Zuerst will ich den allgemeinen Begriff des Turns aufgreifen, der paradigmatisch eine Transformation symbolisiert. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an die Forschungen von Albrecht Göschel zu verschiedenen kulturpädagogischen Paradigmen seit den 1950er Jahren. Göschels Beschreibungen enden mit den 1990er Jahren und dem so genannten ‚ästhetischen Paradigma'. Dessen Grundannahmen beruhten auf einer Abgrenzung zwischen ästhetisierter Lebenswelt und Kunst, weshalb die Autonomie künstlerischer Praxis hervorgehoben und darauf Wert gelegt wurde, dass das Schöne (das Ästhetische) unabhängig vom Wahren und vom Guten existiert. Die ästhetische Wahrnehmung wird dabei in ihrer eigenständigen Qualität betont und übergreifend als Wahrnehmung von Wahrnehmung charakterisiert (vgl. Göschel nach Pinkert 2005:111ff.). Übergreifend geht es im ästhetischen Paradigma um die Abgrenzung von künstlerischer Praxis gegenüber einer ‚Verzweckung‘ durch außerkünstlerische Ziele und „extradisziplinäre Wirkbehauptungen“ (siehe: Vanessa Reinwand-Weiss „Kulturelle Bildung als Bildung für nachhaltige Entwicklung? Impulse für die Verbindung zweier normativer Ansätze und Praxen“) und damit letztlich um die Verteidigung der Freiheit und des Eigensinns künstlerischer Praxis gegenüber einer allumfassenden ökonomischen Verwertungslogik.

Angesichts der gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen erscheint die künstlerische Praxis ohne eine explizite Bezugnahme auf ihre gesellschaftlichen Bedingungen jedoch elitär oder besser ‚privilegienunbewusst‘. Das Interesse meiner Studierenden und der jungen Wissenschaftler:innen unserer Disziplin (vgl. Falk/Schüler/Zinsmaier 2022) rückt meiner Wahrnehmung nach gegenwärtig die Frage nach der Spezifik ästhetischer Erfahrung in den Hintergrund. Der Verweis auf die Bildungsbedeutung ästhetischer Erfahrung ist vielleicht noch eine notwendige, aber keine hinreichende Begründung für die Legitimation ästhetisch-kultureller Bildung mehr. In den Vordergrund rücken stattdessen Fragen nach den „Bedingungen, Setzungen und Konsequenzen“ (Falk/Schüler/Zinsmaier 2022:15) theaterpädagogischer Praxis, nach diskriminierungssensiblen Repräsentationsweisen, nach (unbewusst reproduzierten) Praktiken des Ausschließens bzw. verschiedener Formen des Exodisierens. Letztlich geht es um die Suche nach den Möglichkeiten, innerhalb des eigenen Feldes gerecht zu handeln, besonders bislang ausgeschlossenen Menschen(gruppen) einen Zugang zu ästhetisch-kultureller Praxis zu eröffnen und in der Solidarisierung mit diesen Gruppen gesellschaftliche Transformationsprozesse in progressiver Weise mitzugestalten. Wir haben es hier mit einem komplexen Gefüge zu tun, innerhalb dessen sich verschiedene Parameter von Grundannahmen ästhetisch-kultureller Bildung und Grenzziehungen zwischen verschiedenen Feldern (z.B. zwischen Kunst, politischer Aktion oder sozialer Arbeit) verschieben. Vergleichbar mit dem Bruch zwischen dem Paradigma der musischen Bildung (1950er und 60er Jahre) und dem der gesellschaftskritischen Kulturellen Bildung der 1970er Jahre werden damit Grundkonzepte von Kultur, Kunst, Bildung und Lernen sowie den Adressat:innen und Zielsetzungen Kultureller Bildung einer Revision unterzogen und im Zusammenspiel mit der Praxis neu formuliert. Selbstverständlich handelt es sich auch hier um einen kontingenten Prozess, dessen Ausgang offen ist.

Ich möchte dennoch den Versuch machen, aus der Perspektive der Theaterpädagogik einige Aspekte dieser Verschiebung näher zu beleuchten und Herausforderungen des aktivistischen Turns zu skizzieren.

Positionierung

Anknüpfend an meine obigen Überlegungen zur Problematisierung von Positionierung als Merkmal des aktivistischen Paradigmas wäre nach Überlegungen zu Positionierung im Bildungskontext zu suchen. Fündig werde ich in einem Aufsatz von Benjamin Jörissen und Lisa Unterberg, in dem unter einer bildungstheoretischen Perspektive behautet wird: „Bildungsprozesse sind (…) immer Prozesse der Positionierung“ (siehe: Benjamin Jörissen/Lisa Unterberg „Digitale Kulturelle Bildung: Bildungstheoretische Gedanken zum Potenzial Kultureller Bildung in Zeiten der Digitalisierung“). Ihre Argumentation ist folgende: In Bezug auf Dietrich Benners Bestimmung von Bildung als Prozess der „nicht-affirmativen Selbstbestimmung“ (ebd.) wird betont, dass Bildung bzw. Selbstbestimmung „nicht nur unvermeidbar innerhalb gegebener kultureller Formen und Ordnungen geschieht, sondern dass Selbstbestimmung immer auch eine zumindest implizite oder praktische Positionierung zu diesen Formen beinhalten muss“ (ebd.). Positionierung ist hier als eine Weise des Ins-Verhältnis-Setzens zu den gegebenen Formen und Ordnungen der Kultur zu verstehen, zu Formen und Ordnungen der Kultur, die das Subjekt hervorbringen und die es hervorbringt. Damit stellt sich die Frage: „Wie aber können kulturelle Grundlagen der Selbstverortung, die schließlich Wahrnehmungsweisen, Sprache, Habitus und Werthaltungen überhaupt erst hervorbringen, reflexiv zugänglich werden?“ (ebd.) Die Autor:innen betonen dabei zweierlei:

  • Erstens, dass die Formen und Ordnungen der Kultur, zu denen es sich zu verhalten gilt, als ein „machtförmiges Formenrepertoire der Gestaltung von Selbst- und Weltverhältnissen“ (ebd.) zu verstehen sind. Damit liegt es nahe, dass sich das Subjekt mit den impliziten Machtverhältnissen, die die Bedingungen seiner Existenz bilden, auseinandersetzt.
  • Zweitens betonen die Autor:innen, dass dieses Ins-Verhältnis-Setzen als Positionierung, als Reflexion auf Kultur selbstverständlich nicht nur innerhalb diskursiver Formen von Artikulation möglich ist und „Artikulationsprozesse bringen nicht nur etwas Symbolisches, sei es epistemisch-kognitiv oder ästhetisch-sinnlich, zum Vorschein, sondern sie positionieren uns in Bezug auf das Artikulierte vor einer Rezeptionsgemeinschaft (z.B. den Eltern, einer Peergroup oder einem Publikum).“ (ebd.)

In Bezug auf Butler und Jergus betonen Jörissen und Unterberg im genannten Text, dass sich Akteure innerhalb von Artikulationsprozessen im Kontext Kultureller Bildung selbst als Subjekte hervorbringen, indem sie für ihre Artikulationen einstehen müssen oder sollen und „somit als Subjekt anerkannt bzw. anerkennungsfähig“ werden (ebd.).  Dieser Zusammenhang zwischen Artikulation und Positionierung basiert auf einem performativen Verständnis und betont neben dem Hervorbringungscharakter von ästhetischen Artikulationen auch die soziale Einbettung jeglicher artikulatorischen Praktiken. Wie ein ästhetisches Erleben artikuliert wird, wird damit nicht nur von der Tiefe des ästhetischen Erlebens und der ästhetischen Alphabetisierung des Subjektes bestimmt, sondern gleichermaßen von den (biografisch bedingten) Voraussetzungen des Subjektes für eine Artikulation und den Bedingungen der sozialen Situation, in denen diese Artikulation stattfindet. Die Situation wird bestimmt von den aktuellen Beziehungen des Subjektes zu den Spielpartner:innen, der Spielleitung, den Zuschauenden, der Peer Group und vor allem von der Beziehung zu der physisch anwesenden, virtuellen oder imaginierten kulturellen Öffentlichkeit. Denn in dieser sozialen Situation aktualisieren sich von Machtverhältnissen geprägte Anerkennungsstrukturen, die das Subjekt hervorbringen.

Unter dieser Perspektive erscheint ästhetisch-kulturelle Bildung im Medium des Theaters nicht auf die ästhetische Erfahrung und ihre „Explizit-Machung“ (vgl. Jung nach Jörissen/Unterberg 2017/19) innerhalb bestimmter darstellender Verfahren (vgl. Hentschel 1996) beschränkt, sondern umfasst gleichzeitig die permanente Positionierung des theaterspielenden Subjektes. Damit wird der Doppelcharakter des Theaters als ästhetische und soziale Kommunikation auf neue Weise sichtbar: Nicht mehr als ästhetische Kommunikation in einem sozialen Raum, der dabei quasi ‚stillgestellt“‘ wird, sondern als Gleichzeitigkeit (bzw. ineinander Verschränktheit) von ästhetischer Artikulation als performatives Vollziehen von Positionierungen zu Anteilen des Selbst, zu Material, zu den Spielpartner:innen, zur anwesenden oder imaginierten kulturellen Öffentlichkeit und damit zur Aufführungssituation.

Meine These ist, dass die Komplexität dieses ästhetischen wie sozialen Prozesses in verschiedenen Paradigmen und damit auch entsprechend jeweils präferierter epistemologischer Modelle in differenter Weise betrachtet wird. Wenn im ästhetischen Paradigma eine universalisiert konzipierte ästhetische Erfahrung im Zentrum stand, wird innerhalb eines aktivistischen Paradigmas die Differenz der sozialen Position der Akteure entsprechend gesellschaftlicher Machtverhältnisse ins Zentrum gerückt und damit nach spezifischen Bedingungen für positionierende Artikulationsprozesse und nach Zusammenhängen zwischen Positionierungen und Anerkennung bzw. Adressierung gefragt.

Dies ermöglicht eine differenzsensible ästhetische Praxis in neuen Dimensionen und damit eine realistische Chance auf Zugänglichkeit und soziale Wirkung ästhetisch-kultureller Bildung. Aber es gibt auch Herausforderungen, die mit aktivistischen Theateransätzen einhergehen können.

Herausforderungen 

  1. Der Spiel-Raum: Die Konzentration auf die Machtverhältnisse innerhalb der Kultur, zu der man sich theatral ins Verhältnis setzt, zieht prinzipiell keine Grenze zwischen den Machtverhältnissen im Alltag und denen im Probenraum. Indem die soziale Situation gegenüber der ästhetischen betont wird, wird die Autonomie der Kunst fragil und verliert ihre Schutzfunktion. Damit werden Machtverhältnisse als Verhältnisse von Unterdrückung und Diskriminierung in der sozialen Situation des Theatermachens genauso präsent wie in anderen sozialen Situationen außerhalb des Theaterraumes. Es besteht die Gefahr, dass fiktionale, spielerische Artikulationen von Spielenden ohne „Konsequenzverminderung“ (vgl. Kotte) auf eine ‚Identität‘ der Performenden bezogen und bewertet werden. Dem fehlenden Schutz von Performenden wird teilweise versucht über Regelwerke wie Verhaltenskodexe zu begegnen, die ohne Zweifel wichtig sind. Aber Spiellust, Experimentierfreude und die Möglichkeit der oben geforderten nicht-affirmativen Überschreitung von Formen und Ordnungen der Kultur kann nur über eine Stärkung der ästhetischen Dimension der Theatersituation innerhalb von Probensituationen und über einen weiten Identitätsbegriff – auf den ich hier nicht eingehen kann – erreicht werden. Die Auseinandersetzung mit den Merkmalen und Möglichkeiten von Spiel und der doppelten Verfasstheit der theatralen Kommunikation als einer Spannung zwischen einer eigenständigen theatralen Wirklichkeit (Fiktion) und der ‚Versammlung‘ von Darstellenden und Zuschauenden im Hier und Jetzt bildet damit eine wesentliche Ergänzung zur Entwicklung aktivistischer Theaterformen:

„Denn verschwände die ästhetische Dimension der Situation zugunsten der ethischen, würde sie sich ganz im Alltag auflösen und aufhören, Theatersituation zu sein. Abhanden käme der Situation dann die Möglichkeit, auf eine spezifische Art und Weise von und mit Dingen zu sprechen oder Sachverhalte zu verhandeln, die auch die Artikulation von Paradoxien, Aporien und Widersprüchen miteinschließt.“ (Siegmund 2020:45)

  1. Positionierung oder Haltung? Angesichts eines oftmals synonymen Gebrauchs der Begriffe Positionierung und Haltung stellt sich die Frage nach deren Verhältnis. Wenn man nach Brecht von einem dialektischen Haltungsbegriff ausgeht, dann ist Haltung nicht ohne den Körper zu denken. Wie Ingo Scheller, einer der Vertreter der Lehrstückbewegung der 1970er/80er Jahre, betont, sind Haltungen „Niederschläge real erlebter körperbestimmter Interaktionen und der in sie eingehenden gesellschaftlichen Beziehungen“ (Scheller 1983:64). Nun sind wir besonders innerhalb politischer Diskurse gegenwärtig mit einem Haltungsbegriff konfrontiert, der Haltung im Sinne einer ‚Geisteshaltung‘ begreift und diese damit auf ein mentales Konzept beschränkt. Damit verbunden ist die Vorstellung, dass das „Subjekt (autonom) der/die Urheber:in einer inneren, vorausgesetzten mentalen Haltung [ist]“ (Hentschel 2021:50), aus der heraus Intentionen und entsprechende Handlungen hervorgebracht werden. „Auch wenn die Wirkungen dieser Handlungen auf andere gerichtet sind, so steht doch der Selbstbezug bzw. der evaluative Rückbezug des Subjektes auf sich selbst im Zentrum dieser Vorstellung und Geisteshaltung. Die geforderte Grundhaltung entspricht einer Selbstbefragung und -beobachtung im Hinblick auf ein Set von Haltungen“ (ebd.), die im Sinne eines „Tugendkataloges“ (ebd.) beschrieben werden können. In diesem Verständnis ist eine Haltung essentiell, wird in einem mentalen Erkenntnisprozess erworben und kann in bewusster Weise ‚vor-gezeigt‘ und moralisch bewertet werden. Eine diskriminierungskritische Position, die diesem Haltungskonzept verpflichtet ist, bewertet Diskriminierung dann vor allem als Folge von überholten Vorurteilen und veralteten Ideologien und vernachlässigt strukturelle Bedingungen wie die kulturbildenden Effekte von Praktiken. Die Übernahme eines solchen essentialistischen und mentalistischen Haltungskonzepts in den Bereich der darstellenden Kunst führt schnell zu einem proklamatorischen Stil, in dem feststehende Meinungen risikolos präsentiert werden (vgl. Wenzel 2018 nach Pinkert 2021). Im Plädoyer für eine szenische Erforschung der Situiertheit der theaterspielenden Subjekte innerhalb der (oftmals angeklagten gesellschaftlichen) Verhältnisse wäre das Verhältnis zwischen Haltung und Positionierung so zu entwerfen: Haltungen als stabilerer und langlebigerer Aspekt menschlicher Existenz sind die körperbezogene Grundlage von Positionierungen und Positionierungen ‚überarbeiten‘ Haltungen.

Ist die ‚Arbeit an Haltungen‘, wie sie die Lehrstückarbeit der 1970er Jahre geprägt hat, damit auf neue Weise wieder aktuell? Ich halte es auf jeden Fall für bedenkenswert, ob das Konzept des ‚Verlernens‘, das auf die postkoloniale Theoretikerin Gayatri Chakravorty Spivak zurückgeht, ohne eine offensive Einbeziehung der somatischen und affektiven Dimension erfolgreich sein kann, denn „Verlernen ist hier keine Geste, sondern anstrengende Lern-Praxis-Erfahrung“ (Castro Varela 2017). In diesem Sinne soll das letzte Wort dieses Textes einer Organisation überlassen werden, deren Mission es ist, „soziale und klimagerechte Bewegungen zu unterstützen, ihre Visionen von einer radikal transformierten Gesellschaft zu erreichen“ (generativesomatics.org - übers. UP). Um neue Handlungsweisen innerhalb der alten Unterdrückungsverhältnisse zu ermöglichen (vgl. ebd.), setzen Generative Somatics an den Körpern an:

„Our programs engage the body (emotions, sensations, physiology), in order to align our actions with values and vision, and heal from the impacts of trauma and oppression. We aim to advance loving and rigorous movements that possess the creativity, resilience, and liberatory power needed to transform society.” (https://generativesomatics.org/about-us/)