Schlüsselkompetenzen in der Kulturellen Bildung
Im aktuellen bundesweiten und internationalen Bildungsdiskurs wird der Frage, welche Fähigkeiten die Menschen heute ausbilden müssen, um sich in einer vernetzten, zunehmend komplexer werdenden und sich immer schneller verändernden Welt zurechtzufinden, eine zentrale Bedeutung zugemessen. Es wird davon ausgegangen, dass Kinder und Jugendliche eine Vielzahl von Fertigkeiten und Kompetenzen benötigen und in der Lage sein müssen, verschiedene Fähigkeiten situations- und kontextangemessen anzuwenden und miteinander zu kombinieren, um mit den sich ständig verändernden Lebensumständen und den vielfältigen Anforderungen, die die Gesellschaft an sie stellt, umgehen zu können.
Dabei sind sich Gesellschaft, Politik, Bildung und Wirtschaft einig: Die Zauberformel, um mit den Herausforderungen einer globalisierten Welt erfolgreich umgehen zu können, heißt Erwerb von Schlüsselkompetenzen (siehe Siegfried J. Schmidt „Kulturelle Kompetenz als Schlüsselkompetenz“).
Heute „wird die Fähigkeit, Wissen aufzufinden, auszuwählen, zu bewerten und anzuwenden, für die jeweils beste Lösung einer aktuellen Aufgabe immer entscheidender für persönliche Chancen, gesellschaftliche Teilhabe und für Erfolg im wirtschaftlichen Wettbewerb […] Entscheidend ist dabei der Erwerb von fachübergreifenden Kompetenzen, die insbesondere folgende Fähigkeiten umfassen: Lernen lernen, soziale Kompetenzen wie Empathie, Teamfähigkeit, Kommunikations- und Konfliktlösefähigkeit, Sprachbeherrschung, Konzentrationsfähigkeit, Kreativität als Grundlage für Innovationsfähigkeit“ (Koch 2004:13).
Für den Erwerb solcher und einer Vielzahl weiterer Kompetenzen, die alle unter dem Sammelbegriff Schlüsselkompetenzen zusammengefasst sind, wird der Kulturellen Bildung zunehmend eine besondere Rolle zugemessen. In der Seoul Agenda, einem der prominentesten Beispiele für den hohen Stellenwert, der der Kulturellen Bildung für den Einzelnen im Umgang mit den gesellschaftlichen und globalen Herausforderungen beigemessen wird, wird als eines von drei Hauptzielen formuliert, dass Prinzipien und Praktiken künstlerischer und Kultureller Bildung anzuwenden sind, um zur Bewältigung der heutigen sozialen und kulturellen Herausforderungen beizutragen. Durch künstlerische und Kulturelle Bildung soll das kreative und innovative Potential der Gesellschaft gesteigert werden. In den zu diesem Ziel formulierten Handlungsempfehlungen heißt es weiter, dass künstlerische und Kulturelle Bildung in allen Schulen und außerschulischen Einrichtungen umzusetzen sind, um die kreativen und innovativen Kapazitäten von Individuen zu fördern und so eine neue Generation kreativer BürgerInnen heranzubilden (vgl. Lohwasser/Wagner 2011:7).
Für die Kulturelle Bildung sind sowohl mit der Bedeutung, die ihr für den Erwerb von Schlüsselkompetenzen zugesprochen wird, als auch mit der Forderung, durch die Anwendung ihrer Prinzipien und Praktiken zur Lösung sozialer und kultureller Problemlagen beizutragen, einerseits große Chancen und andererseits auch Gefahren verbunden.
Im Folgenden werde ich zunächst den Begriff der Schlüsselkompetenz und einige seiner zentralen Bedeutungsdimensionen genauer erläutern und einen Blick in die Geschichte des Begriffs werfen. Davon ausgehend werde ich anhand aktueller Kompetenzdiskurse die Chancen und Risiken herausarbeiten, die für die Kulturelle Bildung mit der Diskussion um Schlüsselkompetenzen verbunden sind, um abschließend damit verbundene Perspektiven und Herausforderungen vorzustellen.
Schlüsselkompetenzen
Nach dem OECD-Projekt „Definition and Selection of Competencies (DeSeCo)“ zeichnen sich Schlüsselkompetenzen durch folgende Merkmale aus:
>> sie tragen zu wertvollen Ergebnissen für die Gesellschaft und die Menschen bei;
>> sie helfen den Menschen dabei, wichtige Anforderungen unter verschiedenen Rahmenbedingungen zu erfüllen und
>> sie sind nicht nur für die SpezialistInnen, sondern für alle wichtig (vgl. DeSeCo 2005:6).
DeSeCo unterscheidet weiterhin drei Kategorien von Schlüsselkompetenzen: Interaktion in sozial heterogenen Gruppen, autonome Handlungsfähigkeit und interaktive Nutzung von Medien und Tools.
Die Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung (BKJ) hat im Rahmen ihres Projektes „Der Kompetenznachweis Kultur. Ein Nachweis von Schlüsselkompetenzen durch kulturelle Bildung“ diese Klassifizierung um die Bereiche künstlerische und kulturelle Kompetenzen erweitert und kommt auf diese Weise zu folgender Systematik von Schlüsselkompetenzen:
1. Selbstkompetenzen, wie z.B. Selbststeuerungsfähigkeit, Belastbarkeit, Eigeninitiative, Entscheidungsfähigkeit und Flexibilität.
2. Sozialkompetenzen, wie z.B. Einfühlungsvermögen, Teamfähigkeit, Kommunikationsfähigkeit und Kritikfähigkeit (erweitert um kulturelle Kompetenzen).
3. Methodenkompetenzen, wie z.B. Lernfähigkeit, Organisationsfähigkeit, Problemlösefähigkeit, Reflexionsfähigkeit und Medienkompetenz (erweitert um allgemeine künstlerische Kompetenzen im Handlungsfeld kultureller Bildungsarbeit) (vgl. Timmerberg 2006). Ausgehend von dieser grundlegenden Definition sollen nun einige zentrale Bedeutungsdimensionen von Schlüsselkompetenzen dargestellt werden.
Reflexivität
Uwe Bittlingmayer und Ullrich Bauer sprechen in ihrem Artikel „Erwerb sozialer Kompetenzen“ der reflexiven Dimension von Kompetenzen eine wichtige Bedeutung zu (Bittlingmayer/Bauer 2008:166). Und auch DeSeCo beschreibt Reflexivität als den Kern des Schlüsselkompetenzmodells (DeSeCo 2005:10). Reflexives Denken und Handeln ermöglicht es, sich zum eigenen Tun in Beziehung zu setzen, sich gewissermaßen selbst zum Objekt zu machen. Auf diese Weise ist es möglich, den Erwerb einer Kompetenz zu reflektieren, sie entsprechend unterschiedlichen Anforderungssituationen zu modifizieren, mit anderen Kompetenzen zu kombinieren und sich über Art und Umfang der mit dem Kompetenzeinsatz erreichten Zielsetzung oder Problemlösung bewusst zu werden.
Bereichsspezifität und Kontextabhängigkeit
Für die Betrachtung von Schlüsselkompetenzen spielt die Bedeutung des Kontextes eine wesentliche Rolle. Der Erwerb von und der Umgang mit Kompetenzen hängen entscheidend von den spezifischen Gegebenheiten des jeweiligen Bereichs und den Rahmenbedingungen des Kontextes ab, in dem eine Zielsetzung oder eine Problemlösung erreicht werden soll. In unterschiedlichen Situationen wird jeweils anderen Kompetenzen ein Wert beigemessen, und unterschiedliche (Gruppen-)Kontexte sind in jeweils unterschiedlicher Weise mit Anerkennung oder Sanktionierung von Kompetenzen verbunden. Aus der Perspektive der Bereichsspezifität ist es z.B. wenig sinnvoll, die allgemeine Forderung aufzustellen, bei SchülerInnen soziale Kompetenzen zu erhöhen (Bittlingmayer/Bauer 2008:167). Denn einzelne Kompetenzen setzen sich aus vielen verschiedenen Facetten zusammen, sodass ein sinnvoller Diskurs über Schlüsselkompetenzen stets benennen muss, auf welche Aspekte von Kompetenzen er sich bezieht, von welchen Bereichsspezifitäten und Kontextbedingungen die jeweilige Kompetenz beeinflusst wird und für welches Ziel bzw. für den Umgang mit welchen Problemlagen genau welche Kompetenz oder Kombination von Kompetenzen wichtig ist.
Kompetenz und Performanz
In der Diskussion um die Bedeutung der Kulturellen Bildung für den Erwerb von Schlüsselkompetenzen spielt die Frage, welche Praktiken und Methoden welche Kompetenzen befördern können und wie eine solche Wirkung kultureller Praxis gemessen bzw. nachgewiesen werden kann, eine wichtige Rolle. Dabei ist zu beachten, dass sich vorhandene Kompetenzen niemals vollständig in Handlungen realisieren, da dies immer durch äußere und innere Einwirkungen verhindert wird. Wolfgang Nieke zieht daraus den Schluss, dass Kompetenzen grundsätzlich nicht gemessen werden können, sondern nur Performanzen (Nieke 2008:208).
Dies ist insofern von großer Bedeutung, da die Entwicklung von Kompetenzen nicht allein durch äußere Einwirkung hergestellt werden kann, sondern nur, wenn äußere Einflussnahme auf eine innere Haltung trifft, die von der Motivation und dem Willen geprägt ist, sich eine bestimmte Kompetenz anzueignen. „Bildung ist in ihrem Ergebnis grundsätzlich unverfügbar, kann nur angeregt und ermöglich werden, nicht aber zuverlässig hergestellt werden. Zwang kann nicht zu Kompetenzaufbau führen“ (Nieke 2008:210). Hier liegt ein besonderes Potential der Kulturellen Bildung, da sie in ihrem grundsätzlichen Bildungsverständnis von einer Bildung als Selbstbildung ausgeht und an der Selbstbestimmung und den Stärken der Individuen ansetzt. Dies wird besonders deutlich, wenn man einen Blick in die Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte des Begriffs wirft.
Historische Dimension
Dieter Mertens stellte bereits in der Bildungsdiskussion Anfang der 1970er Jahre die Frage nach Qualifikationen, die das Individuum in die Lage versetzen, mit jeweils neuem Wissen produktiv umzugehen. Diese Qualifikationen nannte Mertens Schlüsselqualifikationen, die er wie folgt definierte: „Schlüsselqualifikationen sind solche Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten, welche nicht unmittelbaren und begrenzten Bezug zu bestimmten, disparaten praktischen Tätigkeiten erbringen, sondern vielmehr a) die Eignung für eine große Zahl von Positionen und Funktionen als alternative Optionen zum gleichen Zeitpunkt und b) die Eignung für die Bewältigung einer Sequenz von (meist unvorhersehbaren) Änderungen von Anforderungen im Laufe des Lebens“ (Mertens 1974:207). In seiner Auseinandersetzung mit dem Begriff der Schlüsselqualifikation griff Mertens auf die von Heinrich Roth bereits 1971 in seinem Buch „Pädagogische Anthropologie“ getroffene Unterscheidung zwischen Sachkompetenz, Sozialkompetenz und Selbstkompetenz zurück (Roth 1971). Die BKJ entdeckte bei ihren Bestrebungen, ein Nachweisverfahren für die Bildungswirkungen nonformaler Bildung zu entwickeln, eine starke strukturelle Ähnlichkeit in der Logik der Begriffe Schlüsselkompetenzen und Kulturelle Bildung (Fuchs 2006:9). In der Folge löste man sich zunehmend vom Begriff der Qualifikation zugunsten des Begriffs der Kompetenz, mit dem mehr die subjektiven Stärken der Einzelnen in den Mittelpunkt gestellt werden.
Schlüsselkompetenzen und Kulturelle Bildung am Bespiel ausgewählter Kompetenzdiskurse
Der aktuelle Diskurs um Schlüsselkompetenzen fokussiert stark auf die Anforderungen von Gesellschaft und Wirtschaft: Sie brauchen für Fortbestand, Wachstum und Konkurrenzfähigkeit im internationalen Wettbewerb schlüsselkompetente Menschen. Vor diesem Hintergrund droht der Kulturellen Bildung die Gefahr, sich zu sehr zur Verwirklichung solcher Zielsetzungen vereinnahmen zu lassen. Die subjektive Bedeutung von Schlüsselkompetenzen droht dabei in den Hintergrund zu geraten. Kulturelle Bildung hat im Diskurs um Schlüsselkompetenzen also die Aufgabe, die subjektive Seite des Kompetenzerwerbs zu betonen. Dies soll anhand ausgewählter Kompetenzdiskurse verdeutlich werden.
Definition und Selection of Competencies
Das OECD-Projekt „Definition and Selection of Competencies“ (DeSeCo) wurde ausgehend von der Grundannahme durchgeführt, dass der Lebenserfolg nicht nur vom Erwerb von Fähigkeiten in den Bereichen Lesen, Mathematik und Naturwissenschaft, sondern von einer breiteren Palette von Kompetenzen abhängt. DeSeCo liefert einen konzeptuellen Referenzrahmen für die Ausweitung der Kompetenzmessungen auf neue Bereiche und teilt Schlüsselkompetenzen in drei Kategorien ein. Erstens sollten Menschen in der Lage sein, verschiedene Medien, Hilfsmittel oder Werkzeuge (Tools) wie z.B. Informationstechnologien oder die Sprache wirksam einzusetzen. Zweitens sollten Menschen in einer zunehmend vernetzten Welt in der Lage sein, mit Menschen aus verschiedenen Kulturen umzugehen und innerhalb sozial heterogener Gruppen zu interagieren. Drittens sollten Menschen befähigt sein, Verantwortung für ihre Lebensgestaltung zu übernehmen, ihr Leben im größeren Kontext zu situieren und eigenständig zu handeln (vgl. DeSeCo 2005:5).
Kompetenznachweis Kultur
Der Kompetenznachweis Kultur (KNK) soll dazu beitragen, dass künftig nicht nur Resultate und Erfolge (oder Misserfolge; Anm. d. Verf.) der (Schul)-Ausbildung offiziell anerkannt werden, sondern auch diejenigen, die über die Schule hinaus erworben werden (BKJ 2006:7; siehe auch Brigitte Schorn/Vera Timmerberg „Kompezenznachweis Kultur“). Der KNK ist ein auf den Prinzipien Beschreibung, Beobachtung, Reflexion und Dialog beruhendes Nachweisverfahren zur Erfassung von Schlüsselkompetenzen, die in außerschulischen Projekten der Kinder- und Jugendkulturarbeit erworben werden können, und zugleich ein „Nachweis der Wirkung kultureller Bildungsarbeit am Beispiel einzelner, individueller Kompetenznachweise“ (Timmerberg 2006:56). Dem KNK wird oftmals vorgeworfen, nur die Interessen von Wirtschaft und Arbeitswelt zu bedienen (BKJ 2008:8) und den Erwerb von Schlüsselkompetenzen vor allem in Bezug auf die Anforderungen der Gesellschaft zu protegieren.
Auch wenn dieser Vorwurf sicher zu einseitig ist und dem KNK nicht gerecht wird, wird daran sehr deutlich, dass die Betonung der Notwendigkeit des Schlüsselkompetenzerwerbs für das Funktionieren der Gesellschaft die Gefahr birgt, die individuelle Selbstbestimmtheit von Lern- und Bildungsprozessen zu vernachlässigen. Manche gesellschaftlich erwünschte Kompetenz wie zum Beispiel Selbstkompetenz deckt sich mit dem Ziel der Verwirklichung eigener Bildungsziele, aber aus der gesellschaftlichen Perspektive bleibt der Kompetenzerwerb Mittel zur Erfüllung eines von außen bestimmten Zwecks und eine vom Einzelnen zu erbringende Leistung, um am gesellschaftlichen Leben angemessen teilzuhaben (vgl. Fink/Hill/Reinwand/Wenzlik 2011:14).
Capability approach
Im Zusammenhang mit Kultureller Bildung und der Frage nach ihrer Bedeutung für die Ausbildung von Schlüsselkompetenzen bietet der Capability Approach, der auf Amartya Sen und Martha Nussbaum zurückgeht, eine das Kompetenzmodell erweiternde Perspektive. Sowohl interne wie auch externe, personale wie soziale Voraussetzungen bestimmen die Fähigkeit eines Individuums, die eigenen Potentiale zu verwirklichen. In ihrer sogenannten Nussbaum-Liste, führt die Philosophin basic human capabilities an, die Wohlergehen und ein individuell als erfolgreich empfundenes Leben erst ermöglichen. Darunter befinden sich neben grundlegenden Voraussetzungen wie körperlicher Gesundheit und Unversehrtheit auch die notwendige Möglichkeit der Entwicklung der Sinne, Vorstellungskraft und des Denkens oder des Spiels, also elementare Aufgaben Kultureller Bildung (vgl. Fink/Hill/Reinwand/Wenzlik 2011:14).
Perspektiven und Herausforderungen
Der Diskurs um Schlüsselkompetenzen wirkt in zwei Richtungen: Unterstützung von Kindern und Jugendlichen und als Nachweis der Qualität Kultureller Bildung. Der Nachweis des „entscheidenden Beitrags“ der Kulturellen Bildung für den Erwerb von Schlüsselkompetenzen steht nach wie vor aus, eine diesbezügliche Forschung steht noch immer am Anfang.
Aus diesem Grund stehen die Kulturelle Bildung und ihre Akteure in einer doppelten Verantwortung: Sie müssen in Praxis, Theorie und öffentlicher Darstellung um diesen Nachweis kämpfen, ohne – und darin liegt der zweite Teil der Herausforderung – in die Falle zu tappen, die Legitimität Kultureller Bildung ausschließlich in ihrer Wirkung hinsichtlich der allseits geforderten Schlüsselkompetenzen zu sehen. Sie müssen die Bedeutung der Kulturellen Bildung für den Erwerb von Schlüsselkompetenzen betont in den Vordergrund stellen und gleichzeitig für den Erhalt und die strukturelle Anerkennung der spezifischen Eigenarten von Kunst und Kultur kämpfen.