Forschendes Theater für Kinder: Exemplarische Transfermethoden zwischen den Programmen TUKI ForscherTheater und TUKI Bühne

Beobachtungen zu drei Berliner Stückentwicklungen mit dem GRIPS-Theater, der Schaubude und der Jungen Deutschen Oper

Artikel-Metadaten

von Verena Lobert

Erscheinungsjahr: 2020

Peer Reviewed

Abstract

Der Diskurs der „künstlerischen Forschung“ und die Perspektive, künstlerische auch als wissensgenerierende Praxis zu begreifen, haben nicht nur die Recherche- und Stückentwicklungsmethoden der Darstellenden Künste der letzten 15 Jahre geprägt, sie sind auch in vielen Projekten und Methodenkoffern der Kulturellen Bildung und der frühkindlichen Bildung angekommen.
In diesem Zusammenhang stellt der Beitrag die Arbeitsweisen des Berliner Programms TUKI ForscherTheater mit Kindern im Kita-Alltag vor und stellt dar, wie in dem daran anschließenden Pilot-Programm TUKI Bühne aus den Kita-Forschungsreisen professionelles Kindertheater erarbeitet wird. Die Beobachtungsfragen an die drei exemplarischen Stückentwicklungen mit dem GRIPS-Theater, der Schaubude Berlin und der Jungen Deutschen Oper Berlin lauten: Wie kann es gelingen, die kindlichen Sichtweisen und Ideen in professionelle Produktionen weiterzutragen? Welche Fragestellungen, Materialien und (Spiel-)Motive tauchen in den Produktionen wieder auf? Wie werden szenische Strategien aus den Kita-Settings in den Inszenierungen weiterentwickelt? Neben den künstlerischen Prozessen des Transfers wird auch die je eigene Konfiguration von „Forschen“ in den drei Kindertheaterproduktionen beleuchtet.

Forschendes Theater mit Kita-Kindern: TUKI ForscherTheater

Das Berliner Programm Theater und Kita macht es sich seit 2011 zur Aufgabe, Partnerschaftsmodelle zwischen Kitas und Theatern zu initiieren, um langfristig Strukturen für die frühkindliche ästhetische Bildung im Bereich der Darstellenden Künste in Kitas zu verankern. In neun Jahren sind im „TUKIversum“ fünf Formate entstanden, in denen 20 Partnerschaften zwischen Kitas und Theatern tausende von Berliner Kindern zwischen zwei und sechs Jahren als Akteur*innen und Zuschauende erreicht haben (vgl. tuki-berlin.de/ueber-tuki/).

Seit 2014 bringt TUKI ForscherTheater eine forschende Arbeitsweise mit performativen und theatralen Mitteln in die Kitas. „Sind alle Kinder ForscherInnen?“ fragt Maria Milbert in ihrem Artikel über diese Pilotphase (2014-2017), ihr „Ja“ gibt sie mit Verweis auf zeitgenössische Entwicklungstheorien und die Reggio-Pädagogik, die den Terminus Forschen als das spielerische Entdecken der Welt mit allen Sinnen (Explorationsspiel) verstehen, aber auch als das „Entwickeln und Veräußern von Theorien über das Wesen der Dinge“. (siehe: Maria Milbert „Forschendes Theater mit den Jüngsten. Eine evaluative Studie des Projekts TUKI ForscherTheater“)

„Forschen wird im Kontext der Frühpädagogik als Welterkundung mit allen Sinnen verstanden; im Sinne der Naturwissenschaften als technisierte und/oder beobachtungsorientierte Auseinandersetzung mit Phänomenen, und natürlich auch als ergebnisoffener Erkenntnisweg mit den Mitteln der Kunst. Diese Pluralität spiegelt das Transdisziplinäre des Projekts sowie künstlerischer Forschung insgesamt (...); sie führt außerdem zu Reibungen und perspektivischer Vielfalt, die charakteristisch für das Projekt geworden sind.“ (ebd. 2017:11)

Jeder TUKI ForscherTheater-Prozess basiert auf den spontanen und alltagsbezogenen Fragen einer Kindergruppe an ihre Lebenswelt. Dass hier poetische und naturwissenschaftliche, philosophische und alltagspraktische, soziale und künstlerische Fragestellungen gleichberechtigt zusammenkommen und so ein offenes „Cross-Over-Forschen“ entsteht, liegt in der Offenheit und Neugier der noch nicht in Disziplinen sozialisierten Altersgruppe begründet.

Künstlerische Forschung mit Kindern in den Darstellenden Künsten

Wann sich künstlerische Praxis als Forschung qualifiziert, ist ein seit Jahrzehnten kontrovers aufgestelltes Diskursfeld. Konsens besteht darüber, dass die Praxen künstlerischer Forschung darauf abzielen, Fragen mit künstlerischen Strategien und Artikulationsweisen zu bearbeiten. Sie verwendet ebenso experimentelle wie auch hermeneutische Methoden, um Erkenntnisse zu generieren und um implizites Wissen sichtbar und erlebbar zu machen. Als Kriterien künstlerischer Forschung werden die Welterschließung und -gestaltung im Austausch mit anderen Wissenschaften sowie die Dokumentation der Forschungsprozesse und Verbreitung dieser Erkenntnisse genannt. (vgl. Peters 2012:7-9; Hinz/Kranixfeld 2018:14).

„Die strategische Setzung, das künstlerische Handeln der Kita-Kinder überhaupt als Forschung zu bezeichnen, stellt meiner Meinung nach eine produktive Verunsicherung für Theorie und Praxis der Theaterpädagogik dar, in der Forschungsbegriffe, Selbstverständnisse von Theaterpädagog*innen, Kindheitsbilder und Theaterbegriffe neu verhandelt werden [müssen].“ (Hinz 2018:2)

Die Herausgebenden des Bandes „Forschendes Theater in Sozialen Feldern“ verorten das Potential forschender Theateransätze für die Kulturelle Bildung darin, dass „disziplinäre Grenzen des Denkens und Handelns überwunden werden “ – solche zwischen der Wissenschaft und den Künsten, wie auch die zwischen den Künsten und der Pädagogik. Sie verweisen auf das Potential der Entdeckung von „Wissensformen, des schweigenden, praktischen (Handlungs-)Wissens von Körpern, Sozialisation und kollektivem Gedächtnis“ (Hinz/Kranixfeld/Köhler/Scheuerle 2018:22) durch die Praxen künstlerischer Forschung. Mit diesem Hinweis liegt die These nahe, dass gerade die Zusammenarbeit von Theaterschaffenden mit den Jüngsten - die ihren Alltag als geübte Nachahmende und täglich neu Explorierende von Handlungs- und Körperwissen bestreiten - eine bereichernde Suche für beide Seiten bedeutet. Das spezifisch Neue des TUKI ForscherTheater-Programms beobachten Johanna Kaiser und M. Milbert im Spannungsgefüge verschiedener professioneller Sprachen – die pädagogische, die tendenziell Orientierungspunkte sucht und bietet und die künstlerische, die sich an Irritationen und Flüchtigem orientiert und nach Ambivalenzen sucht (vgl. Kaiser/Milbert 2018:36).

Die TUKI Forscherreisen als Bedingung und Materialkorpus für TUKI Bühne

Die Methoden, mit denen die leitenden Künstler*innen die Forschungsreisen in dem von den Kindern definierten Interessensfeld anfachen, weisen eine interdisziplinäre Offenheit auf. Neben theaterpädagogischen Spielen und Ritualen, bildnerischen und performativen Handlungsaufträgen, Wahrnehmungsaufgaben sowie theatralen und performativen Settings, werden beispielsweise auch naturwissenschaftliche Phänomene als Vorbild für Übersetzungen in performative Experimentalanordnungen genutzt. In den wöchentlichen Treffen entsteht durch eine Vielfalt künstlerischer Ansätze eine mehrmonatige Forschungsbewegung, die durch Exkursionen zu besonderen Wissensorten und Besuche von professionellen Expert*innen zum jeweiligen Thema ergänzt wird. Dieser sich assoziativ-verzweigende Forschungsprozess wird vom Ping-Pong zwischen Kinderfragen und den Explorationsangeboten der anleitenden Künstler*innen getragen.

Jede Forschungsreise gliedert sich in fünf verschiedene Phasen (1. „beobachten und suchen“, 2.  „erkunden und entdecken“, 3. „erforschen und sammeln“). In der vierten Phase: „sortieren und probieren“ wird der Forschungsprozess zugunsten der Erarbeitung einer interaktiven Präsentation angehalten. Die Aufgabe der künstlerischen Leitung ist es nun, eine Forschungsfrage zu bestimmen, die – im besten Fall – genauso aus einem der Kindermünder stammt und zudem den Rahmen der stattgefundenen Forschungsbewegung vermittelt.

In der fünften und letzten Phase „präsentieren und weiterforschen“ wird die Kita anlässlich der ForscherTheater-Präsentation der Kinder zu einem interaktiven Begegnungsraum, in den die Familien, die aufgesuchten Expert*innen und die Kita-Öffentlichkeit eingeladen sind. Die gemeinsame künstlerische Forschung vereint hier eine interprofessionelle (Erzieher*innen, Theaterschaffende, Wissenschaftler*innen und andere Berufsgruppen) und eine intergenerative (Kinder und Erwachsene über die Familien- und Betreuungs-Strukturen hinaus) Gemeinschaft. Im TUKI ForscherTheater wird das Verständnis von künstlerischer Forschung als gemeinsame Aufgabe aller Mitglieder einer Gesellschaft - von Sibylle Peters auf den Begriff „Das Forschen aller“ gebracht (Peters 2013) als kitazentriertes Stationen-Programm ausformuliert. Dieses Format legt neben einer künstlerischen Forschungsprogrammatik für den Elementarbereich auch Strukturen für Organisationsabläufe, Zeitgestaltung und Beteiligungsprozesse fest, die in weiteren Kitas mit deren Mitarbeitenden und anderen Künstler*innenteams und Theatern weitergeführt werden können.

In der abschließenden Reflexion zur ForscherTheater-Pilotphase brachte die Frage der TUKI Gründerin Renate Breitig das anschließende Format TUKI Bühne auf den Weg: „Kann es gelingen, die kindlichen Sichtweisen, die vielen performativen Versuchsanordnungen, aber auch die unvorhersehbaren und unwägbaren Reisestationen weiterzutragen?“ (Breitig 2020:11) Zum einen steckt darin der Wunsch, die Forschungsergebnisse aus der Kita in eine größere Öffentlichkeit zu bringen, zum anderen das Anliegen, die Perspektiven der erwachsenen Theaterschaffenden und die des Kinderpublikums einander anzunähern. Der Auftrag lautet: die Themen und ästhetischen Zugangsweisen der Jüngsten in die Produktionsprozesse für Kindertheater zurückzuspielen. Mit den Methoden-Logbüchern der Theaterschaffenden und den Fotodokumentationen der Erzieher*innen aus den ForscherTheater-Prozessen wurde die Voraussetzung für dieses Vorhaben bereits geschaffen.

Konzeption des Pilotprojekts TUKI Bühne

Die Innovation des Formats TUKI Bühne besteht darin, eine Kindertheater-Produktion auf Grundlage des Ideen- und Material-Pools einer durchgeführten Kita-Forschungsreise zu entwickeln. Ein wichtiger Ansatz ist dabei, „die Perspektive der Kinder, die Lebendigkeit ihres Spielansatzes, die Unmittelbarkeit ihrer Gesten und Sprache, das Spezifische ihrer Fragestellungen zu erhalten.“ (Breitig 2020:11)

Jede Kita-Forschungsreise generiert eine spezifische Sammlung, die sich inhaltlich aus den Fragen der jeweiligen Kindergruppe speist und in ihrem formal-ästhetischen Ansatz bereits ein Begegnungsprodukt aus Kinder-Interesse und den Methoden und Materialien ist, welche die künstlerische Leitung in den Prozess eingebringt. Die Kita-Forschung kann auch als ein künstlerisch-soziales Labor verstanden werden, in dem einzelne Mitglieder des späteren Kindertheater-Produktionsteams bereits von den intensiven Arbeitserlebnissen mit der Zielgruppe profitieren.

So nutzt TUKI Bühne die Erfahrungen der Anleitenden aus den Forschungsreisen und bindet zugleich die Berliner Theater näher an die frühkindliche Kulturelle Bildung in den Kitas. Die Konzeption stellt auf inhaltlich-ästhetischer Ebene den zentralen Arbeitsauftrag „[...]die kindlichen Perspektiven und theatralen Umsetzungen in die Stückentwicklungen [zu} transferier[en] und [...] schließlich in einer eigenen (mobilen) Kindertheatertheaterproduktion neue künstlerisch-performative Ausdrucksformen [zu finden].“ (Breitig 2018 unv.)

Grundlagen und Arbeitsweise der wissenschaftlichen Untersuchung

Der Beitrag stellt im Folgenden dar, in welcher Weise die jeweiligen Transferkonzepte der drei Pilot-Produktionen erarbeitet wurden. Die Untersuchung basiert auf der Beobachtung der Entstehungsprozesse der TUKI Bühne-Produktionen mit dem GRIPS-Theater, der Schaubude Berlin (jeweils Mai bis September 2019), und der Deutschen Oper Berlin (Dezember 2019 bis Januar 2020). Meine Beobachtung begann für jede Produktion mit einer Hospitation in der vorgelagerten TUKI Forschungsreise (in der PFH-Kita Barbarosssastraße Schöneberg, im Kindergarten Pfiffikus Pankow und in der PFH-Kita Kastanienallee Charlottenburg). Die ForscherTheater-Gruppen waren jeweils mit acht bis zwölf Kindern im Alter von vier bis sechs Jahren, zwei oder drei Theaterschaffenden und einer Erzieherin besetzt. Ich hatte Einblicke in die Nachbesprechungen der anleitenden Teams und konnte die künstlerisch-methodischen Logbücher sowie die Fotodokumentationen der Forschungsreisen einsehen.

Die Proben der drei Stückentwicklungs-Prozesse habe ich pro Produktion vier Mal in verschiedenen Prozessphasen beobachtet. Dazu zählten auch Testaufführungen vor Kinderpublikum, hinzu kamen die Aufführungsbesuche der fertigen Produktionen. Mit jedem künstlerischen Team habe ich im ersten Drittel ihrer Probenzeit ein leitfadengestütztes Interview über die Herangehensweise an den künstlerischen Transfer geführt. Die Gesprächspartner*innen waren diejenigen, die auch die Forschungsreise in der Kita angeleitet hatten. Mit dem GRIPS-Team habe ich ein zusätzliches Interview zum Verlauf des Kita-Prozesses geführt, da sich die Stückentwicklung auf eine weiter zurückliegende Forscherreise bezog. Die Darstellung und Analyse der drei verschiedenen Prozesse basiert auf 15 eigenen Beobachtungsprotokollen und vier Interviews, auch die Regiebücher der fertigen Produktionen konnte ich einsehen. Ausgewertet habe ich die Beobachtungsprotokolle, Interviews und Logbücher induktiv inhaltsanalytisch, die Fotosammlungen und Regiebücher habe ich ergänzend hinzugezogen.

Transferkonzepte für Forschendes Kindertheater aus künstlerischer Forschung mit Kindern

„Wie gestalten sich die künstlerischen Zugriffe der TUKI Bühne Produktionsteams auf die Forschungsreisen-Sammlungen?“ war eine meiner Ausgangsfragen. Deutlich wurde, dass künstlerische Forschung in der Kita eine besondere Offenheit für additive und häufig auch auseinanderstrebende Ideen und Fragen der Kinder erfordert. In den Interviews zeigte sich, dass die Teams des GRIPS-Theaters und der Schaubude nach ausführlicher Sichtung der vorliegenden Sammlungen ein starkes Bedürfnis verspürten, ausgewählte Ideen und Material-Experimente fortzuführen und zu vertiefen (Interview Schaubude, Barahona 2019), aber auch eigene Forschungswege vor dem Referenzrahmen der Kita-Forschung zu beschreiten. (Interview GRIPS, Dunger/Wolgast 2019). Die Herausforderung dieser beiden Transfers lag darin zu entscheiden, wie eine Auswahl der gesammelten Kinder-Perspektiven zu bestimmen sei. Welche performativen Verfahren, welche Spielweisen und –motive in der Produktion strukturbildend werden, welche Materialien in welchen Verknüpfungen und Ordnungen in einem neuen künstlerischen Forschungs-Theater für Kinder in welchen Formen auftauchen und vertieft werden können.

Die Erforschung alltäglicher Geräusche mit einer mitgebrachten Apparatur, wie sie das Team der Deutschen Oper für die Kita-Räume konzipiert hat, ist hingegen in einem verzahnten Forschungsprozess zwischen Kita-Kindern und produzierendem Künstler*innenteam entstanden (s.u. Deutsche Oper: Hören lernen und Klang erleben zwischen Alltagsgeräuschen und Loop-Station).

GRIPS Theater: Kleidung explorieren, Verwandlungen testen

In der Forschungsreise der Kita Barbarossastraße experimentierte das theaterpädagogische Leitungsteam (Katja Fillmann, Friederike Dunger) mit den Kindern mit Varianten von Rollen- und Verkleidungsspielen.

„Die Kinder interessieren sich gerade sehr für den Rollenspielraum und verkleiden sich gerne. Sie sind in der Kita nicht mehr die Kleinen, aber auch noch nicht die Großen. Das Dazwischen beschäftigt sie sehr. Ihr Experimentieren mit der Rollenfindung, ihr Verkleiden versuchen wir für unser erstes Treffen aufzunehmen. Wir empfinden es als sehr gutes Einstiegsthema, um mit theatralen Mitteln zu forschen.“ (Logbuch 3 Dunger/Fillmann 2018/2019:1)

Die ersten mitgebrachten Stimuli waren einzelne Kostüme und Requisiten (Feuerwehranzug, Reithelm, Ohrenschützer, Glitzeroberteil) sowie ein großes elastisches Schwungtuch, das multifunktional als Versteck-, Auftritts- und Verwandlungsort genutzt und von den Kindern in allen weiteren Treffen eingefordert wurde. Hinzu kamen Berge aus unterschiedlichen Erwachsenen-Kleidungsstücken, die anfänglich mit Befremden, dann als ein beliebtes und wiederkehrendes Material aufgenommen wurden. Ein Video über die Transformation einer Raupe zum Schmetterling inspirierte die Kinder zu weiteren Tier-Verwandlungen. Sie erfanden im darauffolgenden Spiel-Setting „Kla-Motten“, die in Nestern aus Textilien wohnten und unter der ausdauernden Beobachtung aller Anwesenden schlüpften. Exkursionen in die Zooschule und in das Naturkundemuseum vertieften das Interesse der Kinder an den Transformations- und Mimikry-Fähigkeiten von Tieren (Interview GRIPS 1, Dunger/Fillmann 2019).

„Wenn der Experte in der Zooschule von Fröschen gesprochen hat, dann sind einige Kinder sofort in das körperliche Agieren und Nacherleben des Erzählten gegangen. In der Kita haben die Kinder ebenfalls verbale Impulse von uns oder aus der Gruppe sofort körperlich nacherlebt. (...) Das körperliche Nachempfinden unserer Arbeit lässt sich auch als ein Mittel zum Erkenntnisgewinn auf einer leibsinnlichen, dem Alter angemessenen Ebene beschreiben.“ (Logbuch 3 Dunger/Fillmann 2018/2019)

In diesem Logbuch-Eintrag zeigt sich die Empfänglichkeit der Altersstufe für theatrale Mittel als Forschungsmedium. Der Versuch, den eigenen Körper spielerisch anzuverwandeln, ist zugleich eine Übersetzungsleistung, mit der die sprachliche Information im eigenen Körper gestisch-performativ erfahrbar und zugleich für die anderen anschaulich wird. Die Freude der Kinder an diesen Übersetzungs-Spielen - die sowohl als Aufforderung zu körperlicher als auch lautlicher „Verwandlung“ funktionierten - haben die GRIPS-Theatermacher*innen in ihre Inszenierung aufgenommen.

Entwicklung der interaktiven Theater-Performance

Die Grundfragen der Forschungs-Reise stehen auch im Zentrum der Theaterproduktion „Verwandelt“: „Wie funktioniert verwandeln? Bin ich bereits verwandelt, wenn ich verkleidet bin?“  Die mobile Produktion für Kitaräume bildet daraus die These: „Alles verwandelt sich ständig“ und erschafft einen partizipativen Möglichkeits-Raum, in dem Identitäts-Aneignungen auf Probe stattfinden. Dafür nutzt die Produktion die bereits erprobte Verwandlungsfähigkeit des elastischen Schwungtuchs, das erst zum Wasserfall dann zur Haut einer Körperskulptur, später zu einer Insel und final zum schimmernden Zug wird. Auch die Vielzahl von Kleidungsstücken mit besonderen Farb- und Material-Beschaffenheiten, die die beiden Performerinnen (F. Dunger, Lisa Vera Schwabe) aus großen Taschen (Ausstattung: Maria Wolgast) hervorwühlen, sind eine Ausdifferenzierung des Kita-Materials.

Dem Produktionsteam war es ein wichtiges Anliegen, den Gestus des gemeinsamen Forschens in der Inszenierung mit dem Kinderpublikum fortzusetzen. Den Wunsch, das Kinderpublikum in jeder Aufführung zu einer Forschung einzuladen, bei der es selbst Fragen und Ideen generiert, die sich anhäufen und die nächste Aufführung verändern (Interview GRIPS 2, Dunger 2019), erfüllt die Inszenierung nicht. Doch aus den Konzeptionsfragen „...welche Erkundungsmöglichkeiten gebe ich dem Publikum? [...] erkunden wir und laden danach ein? [...] wie offen lasse ich es, wie geführt mache ich es?“ (Interview GRIPS 2, Fillmann 2019), hat das Team die Dramaturgie einer vierstufigen Aktivierung des Kinderpublikums entwickelt:

1. Beobachten lassen: Zu Beginn sind die Kinder eingeladen, der Entdeckung und Erkundung von Kleidung beizuwohnen. Die Performerinnen verdichten in ihrem Spiel Handlungsweisen mit Kleidungsstücken - die sie anprobieren, mit denen sie bekannte und erfundene Nutzungen andeuten - die auf die explorativen Spiele der Kinder in den Forschungsreisen verweisen. Sie schreiben den unterschiedlichen Teilen Eigenschaften wie „stark“, „laut“, „schillernd“ und „luftig“ zu und testen deren spezifische Haltungen auslösende Wirkung auf den eigenen Körper durch das Anziehen.

2. Beteiligung durch Reinrufen: Die Frage „In was könnte mich das alles verwandeln?“ dient der Inszenierung (Regie: K. Fillmann) als Motor der szenischen Forschung, bei der das Kinderpublikum durch seine Deutungen des Geschehens in die Verwandlungsspiele einsteigen kann. Der Impuls „Ich als...“ und eine Kinderhose initiieren das serielle Testen von Verwendungsweisen dieser Hose und damit Verwandlungsweisen des Körpers: Arme verschwinden darin, der Hosenrumpf läuft kopflos, Hosenbeine werden säuberlich an den Kopf gekrempelt. In den begleitenden Rufen des Kinderpublikums („Krebs“, „Hase“, „Chamäleon“...) werden Bedeutungsmöglichkeiten versprachlicht, die gleichzeitig ein Echo auf die Protagonisten des Tierreichs sind, die auch schon die TUKI Forscher-Kinder begeisterten.
Auch das Motiv des „Sich-verwandelt-Fühlens“ durch ein Kleidungsstück thematisiert die Inszenierung, wenn beide Performerinnen mit dem gleichen Rock scheinbar dasselbe tun, dadurch jedoch zu ganz verschiedenen Empfindungen und Selbstdeutungen (Meerjungfrau vs. Gras unter Wasser) kommen. Die Diskrepanz zwischen subjektivem Erleben und deutendem Draufblick wird direkt mit den Kindern verhandelt. Ein Sprung mit Anlauf im Tüll-Rock als Federkleid und musikalischer Untermalung, den die Performerin euphorisch als „gefühltes Fliegen“ behauptet, bietet für die Kinder Anlass zum lautstarken Widerspruch.

3. Alltagsgegenstände umdeuten: Die Performerinnen demonstrieren, wie Haushaltsgegenstände, Spielzeug und ein Keyboard als „Add-ons“ am eigenen Körpern zu Superkräften werden und sie selbst zu einem Roboter verwandelt. Im Anschluss daran werden einzelne Kinder aufgefordert, die Wahl der Textilien und Objekte selbst zu treffen, deren Verwandlungswirkung eine Performerin anschließend für sie ausagiert.

4. Die zuschauenden Kinder verwandeln sich selbst: Im letzten Schritt öffnet die Mitspiel-Dramaturgie den Bühnenbereich samt aller Kostümteile für das Verkleidungsspiel des Kinder-Publikums. Das große Schwungtuch bildet abschließend die glänzende Haut eines Zuges, in dem alle Kinder nach dem fünfzehnminütigen Freispiel Platz nehmen, bevor sie den „Verwandlungs“-Raum wieder verlassen.

Die GRIPS-Produktion erreicht eine stufenweise Verschiebung zwischen Spielszenen der Performerinnen, der interaktiven Ausdeutung von Verwandlungsspielen und dem selbstgesteuerten Verkleidungs-Spiel der Kinder. Die Reaktionen der TUKI Forscher-Kinder, die zu verschiedenen Entwicklungszeitpunkten als Testpublikum eingeladen waren, sowie die Feedback-Gespräche mit ihnen lieferten wertvolle Erkenntnisse für die Inszenierungsarbeit. Durch diese Mitarbeit der Kinder im Produktionsprozess konnten die verschiedenen Beteiligungs-Modi und deren Übergänge zwischen Bild- und Handlungs-Angeboten erprobt und schließlich durch sprachliche Eröffnungen gelenkt werden.

Schaubude Berlin: Materialien als Protagonisten in verzaubernden Testreihen

Für das Material- und Objekttheater ¡ver-rückt! Versuche zu Chaos, Fliegen und Maschinen dient der Topos „Chaos“ als Programm einer Reihe von Versuchsanordnungen. Ziel der Inszenierung ist es, die Wahrnehmung des Kinderpublikums auf die Fähigkeiten von Materialien zu fokussieren und in deren Zusammenspiel neue Deutungsräume zu eröffnen. Die Leitfragen „Gibt es einen Bauplan für Insekten?“ und „Sind Insekten auch Maschinen?“ sind Destillate aus Fragen, die in der TUKI Forschungs-Reise der Kita Pfiffikus entstanden sind.

Anhand der Logbücher ist nachvollziehbar, wie die Materialangebote Zeitung, Wasser und Naturmaterialien die erste Forschungsreise initiierten; zwischen Blättern und Stöcken entdeckten die Kinder Feuerkäfer. Mit diesem Zufallsfund entwickelte sich eine anhaltende Begeisterung für Käfer, die das künstlerische Leitungsteam durch Masken- und Panzerbau weiterführte und über Bewegungsproben in einem Käfertanz münden ließ. Mitgebrachte Fotos des Künstlers Raku Inoue, der beispielsweise Käfer aus Blättern, Blüten und anderen Naturmaterialien detailgetreu nachbaut, verstärkten die Frage nach dem Bauplan von Insekten. Die Käfer-Kreationen der Kinder wurden schließlich in einem Stop-Motion-Film animiert.

In der Forschungsreise II. waren Experimente zu Soundqualitäten verschiedener Materialien wichtige Startimpulse. Die Kinder testeten Transparentpapier auf seine Geräusch- und Handlungspotentiale, entwickelten daraus gezeichnete Partituren und übersetzen diese schließlich in Papier-Collagen. In einem anderen Experiment wurde eine Glasscheibe einem Zerstörungstest ausgesetzt: Das Gewicht der Kinder verlieh ihr nach und nach Sprünge und Risse. Dieses Muster pauste das Forschungsteam ab und verglich es mit der Struktur von Libellenflügeln.

„Im Betrachten des entstandenen Musters und im wiederholten Abgleich mit den zuvor gezeigten Bildern entdecken die Kinder ähnliche Formen und Strukturen wieder. Dass diese Muster durch Zufall entstehen und doch einer Ordnung folgen, beschäftigt sie.“ (II. Reise, Logbuch 1 Barahona/Burnay Pereira/Kartsaki 2019:9)

Dieses Muster wurde in einem weiteren Schritt mit einem 3D Stift nachgefahren und so in PLA-Filament-Flügel übersetzt. Die Kinder bastelten aus diesen Flügeln in Kombination mit Elektroschrott-Teilen Maschinen-Insekten, die einen Auftritt als bewegtes Schattenspiel bekamen.

In der Arbeitsweise der Produktion zeigt sich ein gelungener Transfer der künstlerischen Forschungsmethoden, die bereits in der Kita als modulare Abfolge entwickelt wurden: 1. Ein Versuchsaufbau mit ausgesuchtem Material als Ausgangspunkt. 2. Das Durchspielen und Weitertreiben der gefundenen Phänomene und Effekte des Materials durch Handlungsaufträge. 3. Die Weiterbearbeitung der Zwischenprodukte und gefundenen Motive in weiteren Testaufbauten mit neuem Medium (erst Sound, dann Zeichnung, dann Collage, oder erst Handlung, dann Zeichnung, dann 3D Filament, schließlich Objekt und Schattenspiel). 4. Die Suche nach Mustern und Ähnlichkeiten stellt jeweils die Verbindung zwischen den Materialien her und spannt eine assoziative Test-Dramaturgie zwischen Insekten-Mensch-Verhältnissen und dem Phänomen Verkleinerung und Vergrößerung auf.

Ein erster Schritt (Regie und Dramaturgie: Franziska Burnay Pereira/ Susann Tamoszus) für den Transfer war das Durchsehen der Kita-Forschungssammlung auf Materialien und Aktionen hin, die sich für die Bühnenperformance eignen könnten. Die Experimente in der Kita mit Vlies und Papier, in denen sich die Kinder verkrochen und nur einzelne Gliedmaßen herausschauen ließen, dienen als Ausgangspunkt für die Material-Übertragung in formbare Textilfolie (Bühne und Ausstattung: Michaela Muchina/ S. Tamoszus). Damit wird das Thema der Umgestaltung und Umformung, das die TUKI Forscher-Gruppe entdeckte, in der Produktion weitergeführt. Auf der Bühne hängen zu Beginn der Inszenierung drei große, weiße Gebilde aus Textilfolie. Eines bewegt sich leicht, schließlich kommen Fingerspitzen, ein Arm, ein Bein daraus hervor, dann fällt der Kokon wie eine gerissene Eierschale ab. Sichtbar hängt die Performerin (Alpha Kartsaki) mit den Füßen zur Decke in einem Klettergeschirr. Ihr Spielpartner (Gonzalo Barahona) zeichnet mit schnellen Strichen Bauch, Beine und Flügel einer Fliege, die der Overhead-Projektor um sie herum projiziert. Erster Versuch: fliegen, zur Fliege werden.

Die Textilfolien werden weiter auf ihre Verwandlungsfähigkeit getestet. Als kriechende Tiere erobern sie die Bühne, verdecken als riesige Masken die Köpfe der Performer*innen, um schließlich als pendelnde Kokons die gesamte Bühne einzunehmen. In einem anderen Versuch werden mit Strohhalmen Seifenblasen-Berge aufgetürmt und auf den Overheadprojektor geschichtet. Die vergrößerte Strukturprojektion der Seifenblasen lässt die Textilfolie wiederum als riesige Flügel erscheinen, die an Nachtfalter oder Fledermäuse erinnern. Solche Ähnlichkeitsmuster in Mikro-Makro-Relationen, tauchen ebenfalls in assoziativen Textminiaturen in dem sonst sprachkargen Bildertheater auf. Auch die Nachbau-Experimente von Käfern und Maschinen-Insekten aus der Kita finden sich in der Inszenierung wieder. Ein Quartett aus vergrößerten, hyperrealistischen Grashüpfern bevölkert von Beginn an die Wände der Bühne, als wären sie die eigentlichen Bewohnerinnen dieses Habitats.

Die Kinder sammelten in der Forschungsreise II. erste Erfahrungen mit Sound-Aufnahmen und experimentierten in ihrer Abschlusspräsentation mit Lautstärkereglern und Geräusch-Überlappungen. In der Produktion wird diese Ebene ausgebaut: Die atmosphärische Testreihe wird von den Soundeffekten zwei ganz unterschiedlicher Maschinen getragen - dem selbstgebauten und live gespielten Saiteninstrument (A. Kartsaki) und dem Technikpult als Teil der Bühne. Von dort wird das wiederkehrende Audio-Sample von zerberstendem Porzellan eingespielt, es stammt aus einem Zerstörungs-Test der TUKI-Forschungsreise.

Die Produktion ist für eine klassische Blackbox und nicht für die Kita konzipiert und kann so auf den gesamten atmosphärischen Theaterzauber zugreifen. Der Darstellungsmodus des performativen Zeigens erschafft einen Raum, in dem die Materialtransformationen nachvollzogen, bewundert und selbst gedeutet werden können. Forschendes Theater heisst hier, überraschenden Varianten sich fortschreibender Material-Test beizuwohnen. Wie häufig im performativen Kindertheater sind die Kommentare des jungen Publikums mitkalkuliert und ausdrücklich erwünscht. Die Produktion zeigt Mut zur Komplexität von Ästhetik und Inhalt für ihr Publikum ab vier Jahren. Die Deutungsangebote ebenso wie die Themenvielfalt sind weit gefasst und die Produktion baut auf die faszinierende Kraft ihrer Materialien sowie die Offenheit der Wahrnehmung dieser Altersgruppe.

Deutsche Oper: Hören lernen und Klang erleben zwischen Alltagsgeräuschen und Loop-Station

Für die Produktion „Expedition TIRILI“ kommen eine Sängerin (Pauline Jacob) und eine Musikerin (Cathrin Romeis) ausgestattet mit Mikrophonen, Verstärker und Loop-Station in die Kita, um mit den Kindern Geräusche und Klänge von Alltagsgegenständen zu erkunden.

Durch den Kita-Jahrgangsrhythmus einerseits und die dispositionellen Besonderheiten eines großen Opernhauses andererseits, fand der Probenprozess der Stückentwicklung parallel zur Forschungsreise statt. Deshalb etablierte das künstlerische Leitungsteam (Julia Bihl, Franziska Seeberg) zwischen Kita-Gruppe und Opern-Probenteam eine Brieffreundschaft, für den Austausch von akustischen und haptischen Impulsen. Die Forschungsreise und der Stückentwicklungs-Prozess basieren auf der gleichen Suchbewegung: Die Muster und Funktionsweisen der Welt der Geräusche zu begreifen, auszutesten und sie nicht nur hör- sondern auch sichtbar zu machen (Interview Deutsche Oper, Bihl/Seeberg 2019).

Ausgangspunkt der Kitaforschung waren mitgebrachte Audioprotokolle von Treppenhausgepolter, Vogelgezwitscher, Zähneputzen etc. um die Kinder für unterschiedliche Geräusch-Qualitäten zu sensibilisieren. Da die visuelle Ebene fehlte, ließen die Geräusche mehrdeutige Sinnerklärungen zu, den Kindern aber machte es viel Freude, das „Richtige“ zu erraten. In einer Post-Sendung vom Opernteam an die Kita-Forschenden befanden sich Plastikflaschen, Butterbrotpapier, Schrauben und Luftpolsterfolie mit denen die Kinder knisternd, raschelnd, pochend, pupsend und klirrend, erste dynamische Unterschiede erprobten: extrem laut und extrem leise.

„Zudem konnten wir beobachten, dass das Geräuschemachen den Kindern generell Spaß macht. Überall wo sie aktiv mitgestalten können, in Bewegung sind, Körper und Geräusch kombinieren können, fällt es ihnen leicht, teilzuhaben am Forschen.“ (Reise II. Logbuch 1 Bihl/Seeberg 2019:2 unveröffentlicht)

Diese Erkenntnis inspirierte die Gruppe Hörtrichter zu basteln, um dem Vorgang des Hörens eine Form und eine Richtung zu verleihen. Mit den Hörtrichtern erlauschten die Kinder die vielen einzelnen Geräusche aus der Kakophonie des Straßenlärms: Autohupen, Blätterrascheln, Kinderschreie, Flugzeuge, Vogelgezwitscher. Zugleich wurden die Hörtrichter als wandelbares Requisit zu Hüten, Lautsprechern und Eistüten umgedeutet (Reise II. Logbuch 1 Bihl/Seeberg 2019:3).

Die Fragen für die ersten Experimente mit der Loop-Station auf den Bühnenproben lauten: „Wo fängt Klang an Sprache zu überrumpeln? Wie hört sich die Stille nach dem Soundgewitter an?“ Nach ersten Improvisationen auf Grundlage von Verbalnotationen des Klangkünstlers Alvin Lucier verdichtete sich das Interesse des Probenteams auf eigene Handlungsanweisungen für Geräusche mit verschiedenen Alltagsgegenständen. Inspiration findet das Probenteam auch in der Audio-Antwort der Kita-Kinder: Knacken von Zwieback, Schlüsselgeklapper, Perlen in einem leeren Joghurtbecher, Fußtrampeln, Malbewegungen auf Papier.

Die mobile Performance strukturiert die „Forschung am Phänomen Geräusch und Klang“ in Kitaräumen in fünf Testkapitel: In „Forschung 1: Wie klinge ich?“ tasten die Performerinnen den eigenen K(langk)örper ab (Bauch, Stirn, Zähne, Haare, Po) und erkunden ihn als Instrument (klatschen, pupsen; Schluck- Schmatz-, Kuss-, Schlürf-Geräusche. In „Forschung 2: Wie klingen die Dinge hier?“ werden verschiedene Oberflächen des Raumes bekratzt, große Hohlräume in Tür und Schrank beklopft und nach sprachlichen Übersetzungen von Geräuschen gesucht: Hockerbeine, die über den Boden kratzen, klingen beispielsweise „rumpelig, röhrend“. In die vorgefundenen Oberflächen und Gegenstände mischen sich im Austesten mitgebrachte Requisiten wie ein Glockenspiel, ein Schwamm und eine Brottüte mit Salz, die die Geräuschsammlung erweitern und verfeinern.

„Können uns die Vögel eigentlich verstehen?“ fragte ein Mädchen in der Kita-Forschungsreise, diese Frage inspirierte das Probenteam zu dem Motiv der Vogelstimme, die zunächst mittels eines Pfeifplättchens in der Inszenierung auftaucht. In „Forschung 3“ wird das Vogel-Motiv mit dem Volkslied „Kommt ein Vogel geflogen“ weitergeführt, das als akustische Untersuchung des Phänomens „laut und leise“ in die Dimension des Raumes übertragen wird:

„Mit der zweiten Strophe laufen sie gemeinsam nach vorne und gleichzeitig werden ihre Stimmen leiser. Vorne haben sie gar keine Stimmen mehr und sind verwundert, fassen sich an den Hals und suchen ihre Stimmen/das Problem. Irgendwann kommt P1 auf die Idee nach hinten zu laufen und je weiter hinten sie ist, desto lauter wird ihre Stimme. Dann läuft sie wieder nach vorne und die Stimme wird wieder leiser und dann wieder nach hinten und die Stimme wird wieder lauter.“ (Regiebuch Expedition TIRILI, 2020:5f.)

In „Forschung 4“ kommt die Loop-Station zum Thema „eine Stimme, viele Stimmen“ zum Einsatz: Vier live eingesungene Spuren überlagern sich nach und nach zur Vielstimmigkeit und werden schließlich mit den Effekten eines Verstärkers abgespielt. In der finalen „Forschung 5“ entwickeln die Performerinnen zu dem Gedicht „Gewitter“ von Erwin Moser eine Geräuschebene: „...Wind fegt herbei (Schwamm am Mikro)/ Vogelgeschrei (Vogelpiepser mit Pfeifplättchen) /Wolken fast schwarz (Donnerblech leise)/ Lauf, weiße Katz! (Miau-Imitation“) ...“, die jeweils mit dem Loopgerät aufgenommen und als anschwellendes, sich überlagerndes Spurengrollen abgespielt werden.

Nach dieser beeindruckenden Gewitter-Produktion wird der Theaterteil geschlossen und der Applaus der Kinder darf sich entladen. Im Nachspiel können die Kinder selbst Geräusche mit Linsen-Luftballons, Schwämmen und einem Donnerblech an der Loopstation aufnehmen, so dass sich schließlich ein gemeinsam produziertes Klang-Gewitter in den Kitaräumen ausbreitet.

Die Produktion verzaubert nicht nur durch die Möglichkeiten der Loopstation, sondern auch durch die instrumentale Nutzung der eigenen Körper und überraschender Geräusche von Alltagsgegenständen. Der klare Testaufbau bewirkt eine Konzentration auf den Gehörsinn und lässt so für alle Ohren eine neue Welt in den vertrauten Kita-Räumen entstehen. Die Idee zu einer „Geräusche-Forschung“ als strukturierte Kapitelfolge ist jedoch eigens von den Künstler*innen gestaltet worden. Während die Produktionen von GRIPS und Schaubude ihren konzeptionell-künstlerischen Antrieb durch die vielfältigen Ideen und Testaufbauten mit den Forscher-Kindern erhielten, musste das Deutsche Oper-Team auf formale Strukturen, klug durchdachte Teilexperimente und Einfälle des Produktionsteam zurückgreifen.

Der Transfer von Forschersammlungen in Forschendes Kindertheater

So verschieden die künstlerischen Formensprachen, die Transferstrategien von Fragen und Motiven aus den TUKI Forschungsreisen in die künstlerischen Konzepte und auch die Umsetzungen des Forschungsaspektes der drei Inszenierungen sind, so vergleichbar ist die Haltung aller Produktionen. Die mit den Kindern begonnene Forschung aus der Kita wird im jeweiligen Bühnengeschehen weitergetrieben und Ziel ist auch das Kinderpublikum mit diesem Forschungsgeist anzustecken und daran zu beteiligen. Doch sind diese entstandenen Kindertheaterproduktionen tatsächlich Forschendes Theater?

Malte Pfeiffer regt an, sich in Forschenden Theaterformen „von einer Aufführungsbehauptung tatsächlich zu lösen und ihre Hybridität ernster [zu nehmen]“ (Pfeiffer 2018:174f.). Ein solcher von Pfeiffer beschriebener „Dritter Raum“ im Sinne eines „hybriden Repräsentationsmodus“ ist eher in den einmaligen Kita-Abschlusspräsentationen des TUKI Forscher-Theaters zu finden, in denen die Formate zwischen Theaterperformance, Stationen Happening, Wissensvermittlung und Workshop oszillierten. Die TUKI Bühne-Produktionen erfüllen hingegen alle das Dispositiv des Theaters, es sind bis ins Detail einer jeden Interaktion und Freispielfläche geprobte und wiederholbare Inszenierungen - nicht zuletzt, um jederzeit in Kitas oder auf anderen Bühnen reproduzierbar zu sein. Durch diese Vorgaben des Distributionssystems Theater verzichten Stückentwicklungsprozesse im Forschenden Theater häufig auf die Realisierung einer offenen, sich mit und durch das (Kinder-)Publikum fortschreibenden Forschung. Versuche solche sich fortschreibenden Formate mit den Touranforderungen des Theaters zu versöhnen, münden in aufwendiger Nachbereitung und der Notwendigkeit einer ständigen Neu-Anpassung vor jeder weiteren Aufführung – das ist Arbeitszeit, die sehr selten in Kostenfinanzierungsplänen und Einrichtungszeiten in weiteren Aufführungsräumen einkalkuliert wird. Dennoch lassen sich die entstandenen Produktionen als veröffentlichte Produkte forschender Theaterprozesse verstehen - in Analogie zu einer Veröffentlichung von Forschungsergebnissen in der Wissenschaft.

Gemeinsam ist den drei Produktionen auch, dass sie ihren Anfang in einer spezifischen Auswahl von Materialien nehmen. Je nach professioneller Ausrichtung der Produktionsteams verschränkt sich die Arbeit am Visuellen und Haptischen mit den anderen Mitteln und erfindet darin sprachlich-interaktive (Grips Theater), performativ-intermediale (Schaubude) und klanglich-räumliche (Deutsche Oper) Übersetzungs- und Eigenlogiken des Forschens, die allesamt auf synästhetische Erlebnisformen zielen und neue Wahrnehmungs- und Assoziationsräume  eröffnen.

Partizipation und Anerkennung der Jüngsten

TUKI Bühne setzt den Transfer von Kinder-Fragen, -Ideen- und Perspektiven in professionelles Kindertheater um. Mit diesem Format wird die Partizipation der Jüngsten an der Theaterwelt auf eine neue Stufe gehoben. TUKI ForscherTheater ist dabei die Grundlage, die es einer Gruppe von Kindern ermöglicht, einen eigenen ästhetisch-forschenden Prozess zu durchlaufen. Anschließend wird die Kindergruppe zu Testpublikum und Feedbackgebenden in einem professionellen künstlerischen Prozess bei TUKI Bühne. Während die Künstler*innen von den Ideen und Reaktionen ihrer Kinder-Verbündeten profitieren, bekommen die Kinder Zutritt zu einer Arbeits-Welt, in der ihre Denkansätze und Handlungsweisen als wertvolle Ressource zurückgespiegelt werden. Als Teil des erweiterten Produktionsteams genießen sie in den Testläufen und bei der Premiere ihre Anerkennung und lernen den professionellen Theaterrahmen und dessen Arbeitsweisen und -abläufe kennen. 

TUKI Bühne stellt den Produktionsprozess von Kindertheater als eine koproduzierende Gemeinschaft zwischen Kita-Kindern und Künstler*innen auf. Das bereichert die Formen- und Themenvielfalt des Kindertheaters und stellt zugleich ein visionäres Modell vor, wie die Verknüpfung von ästhetischer Forschung in der Kita mit dem Theater als generationsübergreifend gestaltetem Kunst- und Verhandlungsraum glücken kann.

 

Anmerkung: Folgende unveröffentlichte und eigene Quellen sind in der untenstehenden Literatur nicht erfasst.

  • Leitfadengestützte Interviews von Verena Lobert:

Interview 1 GRIPS mit Altmann, Deike/ Dunger, Friederike/ Fillmann, Katja, Berlin 04.06.2019.
Interview Schaubude mit Barahona, Gonzalo/ Burnay Pereira, Franziska/ Kartsaki, Alpha Angelina/ Tamoszus, Susann, Berlin 28.06.2019.
Interview 2 GRIPS mit Dunger, Friederike/ Fillmann, Katja/ Hoch, Nora/ Schwabe, Lisa Vera/ Veenstra, Erik/ Wolgast, Maria, Berlin 27.06.2019.
Interview Deutsche Oper mit Bihl, Julia/ Seeberg, Franziska, Berlin 16.12.2019.

  • TUKI ForscherTheater-Logbücher:

Barahona, Gonzalo/ Tamoszus, Susann (Duo 5), Logbuch I, 1. Reise Schaubude_Pfiffikus, 09-11/2018.
Barahona, Gonzalo/ Tamoszus, Susann (Duo 5), Logbuch II, 1. Reise Schaubude_Pfiffikus, 11-12/2018.
Barahona, Gonzalo/ Tamoszus, Susann (Duo 5), Logbuch III, 1. Reise Schaubude_Pfiffikus, 01/2019.
Barahona, Gonzalo/ Burnay Pereira, Franziska/ Kartsaki, Alpha Angelina (Duo 5), Logbuch I, 2. Reise Schaubude_Pfiffikus, 04/2019.
Bihl, Julia/ Seeberg, Franziska (Duo 6), Logbuch I, 2.Reise DeutscheOper_Kastanienallee, 10-12/2019.
Dunger, Friederike/ Fillmann, Katja (Duo 2), Logbuch I, 1. Reise Grips_Barbarossastrasse, 09-11/2018.
Dunger, Friederike/ Fillmann, Katja(Duo 2), Logbuch II  1. Reise Grips_Barbarossastrasse, 11-12/2018.
Dunger, Friederike/ Fillmann, Katja(Duo 2), Logbuch III  1. Reise Grips_Barbarossastrasse, 12/2018-01/2019.

  • Regiebücher:

Seeberg, Franziska/ Wolff, Friederike: Handbuch_Expedition Tirili, Stand: 17.01.2020.
Fillmann, Katja/ Veenstra, Erik: Textbuch_Verwandelt_final, Stand: 04.11.2019.

 

Verwendete Literatur

  • Breitig, Renate (2020): Ein Funke springt über. TUKI Bühne schafft den Transfer vom Theater MIT Kindern zum Theater FÜR Kinder. In: TUKI Theater und Kita/ dies. (Hrsg.): Funken Flüge. TUKI Bühne. Ein Konzept für das Kindertheater (11-13). Online unter:  https://tuki-berlin.de/wp-content/uploads/2020/03/200130_TukiBuehne_Einzelseiten_web.pdf (letzter Zugriff: 15.11.2020)
  • Breitig, Renate (2018): Konzeption TUKI Bühne. Unv. Antragstext. Berlin.
  • Hinz, Melanie (2018): Forschendes Theater mit den Jüngsten. Vortrag Abschluss-Konferenz Pilotprojekt TUKI ForscherTheater, Berlin 2018. Online unter: https://tuki-berlin.de/wp-content/uploads/2020/02/Forschendes-Theater-mit-den-Jngsten_-Melanie-Hinz.pdf (letzter Zugriff am 15.11.2020).
  • Hinz, Melanie/ Kranixfeld, Micha (2018): A-Z des Forschenden Theaters in Sozialen Feldern. In: dies./Köhler, Norma/ Scheuerle, Christoph (Hrsg.): Forschendes Theater in Sozialen Feldern. Theater als Soziale Kunst III (11-19). München: kopaed.
  • Hinz, Melanie/ Kranixfeld, Micha/Köhler, Norma/ Scheuerle, Christoph (2018): Vom Zauberwort Forschendes Theater und dem Versuch einer wissenschaftlich-künstlerischen Bestandaufnahme. In: dies. (Hrsg.): Forschendes Theater in Sozialen Feldern. Theater als Soziale Kunst III (21-30). München: kopaed.
  • Kaiser, Johanna/Milbert, Maria (2018): Forschen ohne nichts? Facetten von Forschung im Forschenden Theater mit den Jüngsten. In: TUKI - Theater & Kita (Hrsg.): Fliegen ohne nichts. 3 Jahre Pilotprojekt TUKI ForscherTheater. Online unter: https://tuki-berlin.de/wp-content/uploads/2020/02/TUKI_ForscherTheater_Broschure_2018.pdf (letzter Zugriff am 15.11.2020).
  • Milbert, Maria (2017): Forschendes Theater mit den Jüngsten: Erkundungen in einem jungen Feld Kultureller Bildung. In: Wissensplattform Kulturelle Bildung Online: https://www.kubi-online.de/artikel/forschendes-theater-den-juengsten-erkundungen-einem-jungen-feld-kultureller-bildung (letzter Zugriff am 15.11.2020).
  • Peters, Sibylle (2013): Das Forschen aller – ein Vorwort. In: dies. (Hrsg.): Das Forschen aller. Artistic Research als Wissensproduktion zwischen Kunst, Wissenschaft und Gesellschaft (7-22). Bielefeld: transcript.
  • Pfeiffer, Malte (2018): Dritte Räume. Zur Hybridität Forschenden Theaters zwischen Wissenschaft und Kunst am Beispiel des Künstler_innenkollektivs Frl. Wunder AG. In: Hinz, Melanie/Kranixfeld, Micha/Köhler, Norma/ Scheuerle, Christoph (Hrsg.): Forschendes Theater in Sozialen Feldern. Theater als Soziale Kunst III (161-178). München: kopaed.
  • TUKI Berlin (o.J.): TUKI Konzept. Online unter: http://tuki-berlin.de/ueber-tuki/ (letzter Zugriff am 15.11.2020).

Anmerkungen

Dieser Text wurde von Renate Breitig lektoriert, welche alle vier TUKI Formate konzipiert und in den ein- bis dreijährigen Pilotphasen geleitet hat. TUKI wurde von Renate Breitig, der Gründerin von TUSCH Berlin und ehemaligen Referentin für Theater und Ästhetische Bildung im Berliner Bildungssenat mit dem Ziel aufgebaut, Theaterpädagogik als ästhetische Bildung im Kita-Alltag fest zu verankern und dafür verbindliche Strukturen zu schaffen.

Zitieren

Gerne dürfen Sie aus diesem Artikel zitieren. Folgende Angaben sind zusammenhängend mit dem Zitat zu nennen:

Verena Lobert (2020): Forschendes Theater für Kinder: Exemplarische Transfermethoden zwischen den Programmen TUKI ForscherTheater und TUKI Bühne. In: KULTURELLE BILDUNG ONLINE: https://www.kubi-online.de/artikel/forschendes-theater-kinder-exemplarische-transfermethoden-zwischen-den-programmen-tuki (letzter Zugriff am 16.07.2024).

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Dieser Artikel wurde dauerhaft referenzier- und zitierbar gesichert unter https://doi.org/10.25529/c1s4-m389.

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