Zu den Problemen theoretischer Abgrenzungen in der kulturellen Bildung

Vortrag bei der Fachtagung „Vermessung kultureller Bildung. Streitfälle“ am 2. und 3. Juni 2014 in der Akademie Remscheid

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von Max Fuchs

Erscheinungsjahr: 2014

 

Vorbemerkungen

Im Titel meines Beitrages ist von Problemen die Rede. Diese Probleme beginnen schon bei dem Verständnis von Theorie. Tom Braun, Wolfgang Zacharias und ich bereiten als Herausgeber gerade ein Buch mit dem Titel „Theorien der Kulturpädagogik“ vor, bei dem jetzt schon abzusehen ist, dass es sehr unterschiedliche Herangehensweisen an die Frage der Theorienbildung in der Kulturpädagogik gibt.

Ich will an dieser Stelle nur zwei große Unterschiede benennen. So haben wir zum einen Arbeiten, die die Theorienbildung in ihrer historischen Entwicklung darstellen. Andererseits gibt es Arbeiten, die mit nur wenigen historischen Bezügen sehr systematisch ihre Vorstellung von Theorie ausarbeiten.

Eine zweite Unterscheidung betrifft den anvisierten Geltungsbereich der Theorie. So gibt es Arbeiten, die sich sehr stark auf ein bestimmtes professionelles pädagogisches Feld beziehen, zum Beispiel auf Soziale Arbeit und Sozialpädagogik. Es gibt aber auch Arbeiten, die die ästhetische und kulturelle Dimension in der Pädagogik insgesamt thematisieren. Diese Arbeiten stehen in einer wichtigen Tradition. So ist an den Erziehungswissenschaftler Johann Friedrich Herbart zu erinnern, der in seiner Allgemeinen Pädagogik die ästhetische Darstellung der Welt als zentrale Aufgabe formuliert hat.

Man muss also damit rechnen, dass es eine Vielfalt legitimer Ansätze gibt. Ich selber werde im Folgenden nicht mit einer systematischen Definition dessen beginnen, was man unter „Theorie" zu verstehen hat, sondern vielmehr auf die griechische Wortbedeutung von Theorie zurückgehen, die es mit dem Schauen zu tun hat. Ich werde also eine Draufsicht auf Diskurse und Debatten rund um Theoriefragen vornehmen. Allerdings kann ich dann nicht zu den (im Sinne von allen) Problemen Stellung nehmen, sondern nur zu einer kleinen Auswahl Reflexionen anbieten.

Wozu Theorie?

Zunächst einmal ist daran zu erinnern, dass die Frage der Theorienbildung nicht einer exotisch kleinen Gruppe bestimmter Menschen vorbehalten ist, sondern dass jeder von uns im Alltag zu den unterschiedlichsten Problemen und Dingen seine eigene Theorie hat. Solche Alltagstheorien gibt es auch bei pädagogischen Profis. So hat man einmal festgestellt, dass Lehrerinnen und Lehrer sehr oft solche Alltagstheorien über Lernen, über die Entwicklung von Kindern und über das richtige Unterrichten haben, wobei sich allerdings als Problem herausgestellt hat, dass viele dieser Alltagstheorien wissenschaftlich nicht mehr tragbar waren. Daher ist es plausibel, die folgende These zu akzeptieren:

Es gibt kein theoriefreies Handeln. Allerdings gibt es die Alternative, entweder eine reflektierte Theorie zu haben oder eine schlechte.

Eine zweite Überlegung übernehme ich aus der Dissertation des Kunsthistorikers und Kunstpädagogen Ulrich Heinen (1996) über die Arbeit des Malers Peter Paul Rubens im 17. Jahrhundert. Heinen zeigt, dass in der Zeit dieses prominenten holländischen Malers nicht bloß Theoriediskurse (gemeint sind hier kunsttheoretische Diskurse) sehr verbreitet waren, sie waren auch nötig, um überhaupt eine Kommunikation zwischen dem Künstler (als Auftragnehmer), dem Auftraggeber und den Kunstkritikern zu ermöglichen: Theorien konstituierten Kommunikationszusammenhänge.

Zur Zeit von Rubens stellte man in diesem Zusammenhang Beziehungen her zwischen drei Gebieten: der Rhetorik, bei der insbesondere Cicero eine wichtige Rolle spielte, den Poetiken (etwa der von Aristoteles) und der Kunsttheorie. Insbesondere war Cicero mit seiner Aufgabenzuweisung an die Rhetorik wichtig: Erfreuen, Belehren und Bewegen.

Diese Elemente übernahm man auch in der Kunsttheorie, wobei sich die Maler, vor allem der hochgebildete Rubens, sehr bewusst mit der Frage auseinandersetzen, mit welchen ästhetischen Gestaltungsmitteln diese Wirkungsdimensionen in ihrem Werk erreicht werden können. Es handelt sich also um eine ausgewiesene Wirkungsästhetik, was heute sicherlich im Kontext der oft als problematisch diskutierten Transferforschung nicht uninteressant ist.

Interessant ist auch ein Katalog von Wirkungen, die man an den Arbeiten von Rubens und in seiner Reflektion über diese Arbeiten erkennen kann (hier entnommen dem Katalog zu der Ausstellung „Barocke Leidenschaften", Büttner/Heinen 2004):

  •  Liebe – Rausch – Begierde
  •  Furcht – Zorn – Triumph
  •  Glaube – Liebe – Hoffnung
  •  Standhalten.

Diese von den Künstlern akzeptierten Wirk-Erwartungen funktionierten dabei als anerkannte Qualitätsmaßstäbe, an denen sich die Werke messen lassen mussten.

Falls diese obige These also richtig ist, dass Theorien Kommunikationszusammenhänge konstituieren, dann hat das zur Folge, dass man im Hinblick auf eine Theorie ein Innen und ein Außen unterscheiden kann: Jede Theorie schließt also diejenigen zusammen, die von ihr überzeugt sind, sie schließt allerdings auch diejenigen aus dem Kommunikationszusammenhang aus, die diese Überzeugung nicht teilen. Dies führt zu der folgenden These:

Eine Pluralität von Theorien führt zwangsläufig zu einer Segmentierung des Diskursfeldes. Diese Segmentierung kann so weit gehen, dass die unterschiedlichen Theoriegruppen untereinander sprachlos werden.

Dies lässt sich in der Tat historisch am Beispiel der großen Methodendiskussionen (Positivismusstreit) aufzeigen. So stritten sich Adorno und Popper bzw. später Silbermann über die richtige Forschungsmethode. Dieser Streit wurde später von Habermas und Albert bzw. Luhmann fortgesetzt (Plöger 2003). Nach einer Weile versandete allerdings dieser Streit. Er tat dies allerdings nicht deshalb, weil sich die Kontrahenten geeinigt hätten, sondern weil sie davon überzeugt waren, dass ihre Positionen nicht zu vermitteln waren. Die heutige friedliche Koexistenz der Ansätze ist also kaum positiv zu bewerten, sondern vielmehr auf eine Kapitulation und Sprachunfähigkeit zurückzuführen. Vielleicht wären strittige Auseinandersetzungen dieser Ruhe vorzuziehen.

Welche Gründe gibt es für die Theorienvielfalt?

Auf der Suche nach Gründen für die Vielfalt an Theorien, die sich in jedem wissenschaftlichen Fachgebiet finden lassen, ist ein Blick in die Geschichte hilfreich. So ist etwa an die Arbeit des Wissenschaftstheoretikers und-historikers Thomas Kuhn (1967) zu erinnern, der sich seinerzeit dafür interessiert hat, wie wissenschaftliche Revolutionen in den Naturwissenschaften zustande kommen. In der Tat sprach er von Revolutionen, denn es entwickelten sich immer wieder zu bestimmten Zeiten völlig neue Auffassungen der jeweiligen Disziplin (insbesondere interessiert er sich für die Physik), die nicht bloß Weiterentwicklungen vorhandener Auffassungen waren, sondern die die bislang akzeptierten Auffassungen schlichtweg als falsch erklärten. Bei dem Versuch, für diese historisch feststellbaren Entwicklungen eine geeignete Theorie zu finden, die diese Entwicklungen erklären, griff und greift man etwa auf die Ansätze des Entwicklungspsychologen Jean Piaget zurück. Insbesondere hat man seine Theorie des Gleichgewichts angewandt. Nach dieser Konzeption integriert man so lange neue empirische Befunde in eine vorliegende Theorie (Assimilation), bis immer mehr widersprüchliche Ergebnisse aufzeigen, dass diese Theorie offensichtlich untauglich ist. Man entwickelt dann eine neue Theorie, die besser geeignet ist, auch diese Ergebnisse zu integrieren (Akkommodation). Mit solchen Ansätzen hat man etwa in dem damaligen Max-Planck-Institut in Starnberg gearbeitet (das von Weizsäcker und Habermas geleitet haben). Auch Günter Dux (2000) verwendet in seiner genetischen Kulturtheorie mit großer Plausibilität diesen Ansatz von Piaget.

Gerade die Revolutionen in den Wissenschaften zeigen dabei, dass man sich in jeder Hinsicht auf Neuland begeben muss: Man braucht neue Grundbegriffe (bei der wissenschaftlichen Revolution zu Beginn der Neuzeit brauchte man etwa neue Konzepte von Raum, Zeit und Bewegung), man entwickelt neue Methoden (bei der neuzeitlichen wissenschaftlichen Revolution etwa die gesteuerte Erfahrungsproduktion durch Experimente) und man lotet erneut Arten des Schließens aus (Induktion und Deduktion; vgl. Fuchs 1984).

Dieser Befund, dass wissenschaftliche Entwicklung kein kontinuierlicher Wachstumsprozess ist, sondern dass immer wieder durch Revolutionen in der Erkenntnisweise bisherige Erkenntnisweisen für falsch erklärt werden, lässt sich auch an der Entwicklung der Künste studieren. Spätestens seit dem 19. Jahrhundert gibt es in der Entwicklung der bildenden Kunst (die in ähnlicher Weise auch in den anderen Kunstsparten verfolgt werden kann) eine immer dichtere Aufeinanderfolge von Ismen (Realismus, Naturalismus, Impressionismus, Expressionismus etc.). Im Bewusstsein der beteiligten Künstler ging es dabei gerade nicht darum, das Spektrum der ästhetischen Ausdrucksmittel auszudehnen, sondern man versuchte explizit, vorliegende alte Kunstauffassungen als falsch und untauglich nachzuweisen: Es ging um den Streit um das Deutungsrecht darüber, was gegenwärtig und zukünftig als Kunst verstanden werden soll.

Die Pluralisierung von Theorien aufgrund nationaler kultureller Stile

Der bekannte norwegische Friedensforscher Johann Galtung hat vor einigen Jahren eine interessante Studie vorgelegt, in der er unterschiedliche intellektuelle Stile unterschied:

  • einen saxonischen Stil, der sich in dem pragmatischen Vorgehen angelsächsischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zeigt,
  • einen teutonischen Stil, bei den von sorgfältig definierten allgemeinen Begriffen durch eine präzise Ableitungslogik immer konkretere Begriffe entwickelt werden,
  • einen gallischen Stil, der insbesondere Wert auf einer gute sprachliche Darstellung der Ergebnisse legt,
  • und einen nipponischen Stil, bei dem die Einordnung in vorhandene Traditionen wichtig.

Offensichtlich ist eine solche Unterscheidung heute noch relevant. So hat der Neurowissenschaftler Ernst Pöppel, der zur Zeit an der Universität in Peking lehrt, davon berichtet, dass er eines Tages eine hochbegabte chinesische Studentin weinend vorfand. Auf seine Frage nach dem Grund ihres Weinens antwortete sie, dass es ihr nicht gelungen sei, ein in der Literatur beschriebenes Experiment so durchzuführen, dass das dort angegebene Ergebnis auch herauskam. Dies gelang ihr auch nach mehrfacher Wiederholung nicht. Pöppel wusste, dass die junge Frau sehr sorgfältig arbeitet. Daher sagte er ihr, dass dies kein Scheitern sei, sondern dass sie etwas Neues gefunden habe. Aber genau das entsprach nicht ihrer Vorstellung. Denn offenbar ist nach ihrer Vorstellung das Ziel wissenschaftlichen Arbeitens nicht die Produktion von neuem Wissen, sondern die Reproduktion von Bekanntem (vgl. Needham 1988). Dies aber ist eine alte chinesische Tradition, der die chinesische Kultur eine Jahrtausende anhaltende Stabilität zu verdanken hat, die aber in völligem Gegensatz zu dem Verständnis von Wissenschaft im Westen in der Neuzeit steht. (Watson 2001, 2008)

Man kann also trotz aller Internationalisierung und Globalisierung der Forschung und der Wissenschaften davon ausgehen, dass es nach wie vor nationale Forschungskulturen gibt, die ebenfalls einen Beitrag zur Pluralisierung Theorienbildung leisten.

Pluralisierung von Theorien durch verschiedene Bezugsdisziplinen

Unterschiedliche Ansätze einer Theorienbildung kommen auch dadurch zustande, dass man sich auf verschiedene Bezugsdisziplinen stützt. So kann man auch in der Erziehungswissenschaft Ansätze unterscheiden, die sich eher auf Philosophien, auf etablierte soziologische Ansätze, auf psychologische Ansätze oder auf andere wissenschaftliche Anleihen aus anderen Disziplinen beziehen. Insbesondere gibt es eine große Nähe zur Philosophie, so dass es erziehungswissenschaftliche Konkretisierungen philosophischer Theorien gibt, etwa im Bereich der Phänomenologie, der Hermeneutik, des Marxismus, der analytischen Philosophie etc..

Es lassen sich auch Unterscheidungen in der Theorienbildung danach treffen, in welchem Trägerbereich die zu theoretisierende Kulturarbeit stattfindet. So gibt es starke Traditionen etwa in der kirchlichen oder in der gewerkschaftlichen Kulturarbeit, die sich auf die weltanschaulichen und theoretischen Grundlagen in den betreffenden Feldern beziehen

Unterschiede gibt es zudem zwischen den unterschiedlichen künstlerischen Sparten, die im Zuge der Autonomisierung der Felder auch ihre eigenen Diskurstraditionen entwickelt haben. Je traditionsreicher dabei eine Sparte ist, desto vielfältiger ist auch das jeweilige Theorienprogramm, so dass es auch deutliche Unterschiede in theoretischen Zugangsweisen in derselben Sparte gibt.

Begriffe und Bezeichnungen

Jeder, der sich mit Kulturarbeit befasst, stolpert früher oder später darüber, dass es eine Vielzahl von Begriffen gibt, die dieses Praxisfeld beschreiben: kulturelle Bildung, ästhetische Bildung, aisthetische Bildung, musische Bildung, soziokulturelle Bildung oder künstlerische Bildung (vgl. Reinwand-Weiss 2012). Manchmal haben diese unterschiedlichen Begrifflichkeiten etwas mit unterschiedlichen theoretischen Grundlagen zu tun, gelegentlich sind es allerdings auch ganz andere Gründe, die zu den verschiedenen Bezeichnungen geführt haben. Ein interessantes Beispiel ist etwa der als Referenzpapier immer noch wichtige „Ergänzungsplan musisch-kulturelle Bildung" des Bildungsgesamtplans. Dieses Papier wurde in den 1970er Jahren entwickelt, zu einer Zeit also, als man sich ideologiekritisch mit dem Begriff des Musischen auseinandersetzte und immer mehr zu dem Begriff der kulturellen Bildung überging. Fast alle Bundesländer waren damals dafür, den Begriff der musischen Bildung durch den Begriff der kulturellen Bildung zu ersetzen. Nur Bayern stimmte dem nicht zu und bestand auf der Beibehaltung des Begriffs der musischen Bildung, so dass man als Kompromiss zu dem fachlich nur schwer nachvollziehbaren Doppelbegriff musisch-kulturelle Bildung gekommen ist.

Eine besondere Schwierigkeit ergibt sich dabei daraus, dass manchmal dieselben Begriffe sehr verschiedene Praxen bezeichnen (wenn etwa Telefonkritzeleien und ein Umgang mit Beethoven unter dem Begriff der kulturellen Bildung subsumiert werden). Manchmal bezeichnen allerdings auch verschiedene Begriffe dasselbe. So war lange Zeit der Begriff der musischen Bildung in der evangelischen Jugendarbeit verwendet worden. Die Erwartung, dass man es dabei mit einer angestaubten traditionellen Jugendarbeit zu tun hat, erfüllt sich allerdings nicht. Denn gerade in der evangelischen Jugendkulturarbeit gibt es viele Projekte, die hochaktuelle jugendkulturelle Tendenzen aufnehmen.

Vor dem Hintergrund dieser Begriffsvielfalt könnte man daher erproben, ob sich der folgende Ordnungsvorschlag als tauglich erweist: Demzufolge wäre ein pädagogischer Umgang mit den Künsten, also eine künstlerische Bildung, der Kernbereich des Feldes. Ein etwas weiteres Spektrum hätte dann eine ästhetische Bildung, da sich ästhetische Dimensionen eben nicht nur an ausgewiesenen Kunstwerken identifizieren lassen. Eine noch größeren Geltungsbereichs hat der Begriff der aisthetischen Bildung, bei dem es um die Entwicklung der sinnlichen Wahrnehmungsfähigkeit geht. Der weiteste Begriff wäre dann der Begriff der kulturellen Bildung, der alle anderen Bildungsformen umfasst (Fuchs 2008).

Allerdings ist dieser Ordnungsvorschlag problematisch, weil seine Relevanz davon abhängt, wie die jeweilig verwendeten Begriffe gedeutet und definiert werden. Ich will dies nur am Beispiel der künstlerischen Bildung aufzeigen. Gerade Kunst ist ein ausgesprochen dynamischer Begriff, der sehr unterschiedliche Erscheinungsformen im Laufe seiner Geschichte und in den verschiedenen Regionen der Welt aufgezeigt. Ich erinnere mich an den ersten Weltkongress der UNESCO zu arts education, bei dem die Pariser Zentrale der UNESCO drei europäische traditionelle Kunstformen, nämlich die Musik, das Theater und die bildende Kunst, als zu behandelnde Themen ausgesucht hat. Dieser Vorschlag traf relativ schnell auf Protest aus Afrika, Asien und Südamerika, denn die Kollegen sagten, dass Musik, Theater und bildende Kunst sicherlich in der europäischen Tradition eine zentrale Rolle spielen, in ihren Heimatländern dagegen Weben, Haare flechten, Stelzen laufen und andere Praktiken eine sehr viel größere Bedeutung haben und zu arts education gezählt werden müssen.

Muss Abgrenzung überhaupt sein?

Im Folgenden will ich Argumente sowohl für eine positive als auch für eine negative Antwort auf die Frage nach der Notwendigkeit von Abgrenzung geben.

Bei der Begründung dafür, dass Abgrenzung notwendig ist, kann man sich auf Herder beziehen. Er hatte das Verdienst, wesentlich dafür verantwortlich zu sein, dass der Begriff der Kultur in der deutschen Sprache eingeführt wurde. Ein Zeitgenosse Herders, Moses Mendelssohn, sprach noch davon, dass „Kultur“, „Bildung“ und „Aufklärung“ Neuankömmlinge in der deutschen Sprache seien. Bei der Herderschen Verwendung von „Kultur" spielt Kunst zunächst einmal überhaupt keine Rolle. Er untersuchte vielmehr die Lebensweisen der Menschen in verschiedenen Gegenden der Welt (und wurde so zu einem Stammvater der Ethnologie). Diese unterschiedlichen Lebensweisen nannte er jeweils Kultur, eine Begriffsbestimmung, die sich bis heute in der Kulturdefinition der UNESCO wieder findet.

Da es sehr unterschiedliche Lebensweisen, also Kulturen, auf der Welt gibt, ist eine wichtige Erkenntnis die, dass Kultur ein Pluralitätsbegriff ist. Dies bedeutet aber zugleich, dass Kultur wesentlich Unterscheiden bedeutet (Fuchs 2008).

Revolutionär in dem Ansatz von Herder war allerdings nicht nur der Nachweis dieser Pluralität von Kultur, sondern seine Behauptung, dass die unterschiedlichen menschlichen Lebensformen (Kulturen) gleichwertig sind. Denn wie selbstverständlich hat man seinerzeit angenommen, dass es nur eine Form eines zu akzeptierenden menschlichen Lebens geben könne, nämlich die europäische Lebensform.

Die Notwendigkeit des Unterscheidens gibt es dann natürlich auch in der kulturellen Bildungsarbeit. So ist natürlich zu unterscheiden, welche Bildungswirkungen ein Umgang mit den Künsten oder mit alltagsästhetischen Objekten hat. Unterschiede sind zu treffen etwa wenn man sich das Mitgliederspektrum der Bundesvereinigung kulturelle Kinder und Jugendbildung (BKJ) anschaut, in dem Medienpädagogik, Zirkuspädagogik, Spielpädagogik, die traditionellen Kunstsparten oder etwa Kindermuseen repräsentiert sind.

Die Frage nach der Wirksamkeit lässt sich allerdings auch innerhalb derselben Sparte stellen: So ist natürlich zu fragen, ob ein Umgang mit Mozart oder Beethoven, mit der Musik von Helene Fischer oder mit arabischer Musik - und dies auch noch in unterschiedlichen institutionellen Umgebungen und mit sehr verschiedenen Vermittlungsstrategien - wirklich rechtfertigt, undifferenziert von der Bildungswirkung von Musik schlechthin zu sprechen (Rittelmeyer 2010).

Was für den Teilbereich der Musik gilt, gilt insgesamt für den gesamten künstlerischen Bereich. Natürlich muss sich die kulturelle Bildungsarbeit auch mit der Frage auseinandersetzen, dass man überhaupt unter Kunst verstehen will. Rubens wurde oben erwähnt. Aber was sind die Gemeinsamkeiten der Arbeiten von Rubens mit Konzeptkunst, mit den ready mades von Duchamps oder etwa mit dem Stück 4:33 von John Cage. Es liegt auf der Hand, dass die traditionellen Kategorien einer idealistischen Autonomieästhetik hier überhaupt nicht mehr greifen, weswegen man in der aktuellen Kunsttheorie oft genug die Frage danach, was Kunst eigentlich ist, durch die Frage ersetzt hat: Wann ist Kunst? (vgl. Fuchs 2011). Selbstgewisse Überzeugungen davon, was Kunst ist, müssen daher immer wieder konfrontiert werden mit anerkannten Kunstwerken, die aber den üblichen Rahmen sprengen. Ich erinnere hier nur an das Kunstwerk Merda d'Artista des italienischen Künstlers Piero Manzoni.

Es gibt allerdings auch gute Gründe, die Frage nach der Abgrenzungsnotwendigkeit zu verneinen oder zumindest differenzierter zu sehen. So gab es in der Hochzeit der Postmoderne am Ende des letzten Jahrhunderts, deren Leitbegriff der Begriff der Differenz ist, durchaus Gegenbewegungen. Der bekannte amerikanische Soziologe Todd Gitlin stellte etwa verwundert die Frage, wie es komme, dass wir offensichtlich mehr Energie in die Bemühungen um Abgrenzung und das Finden von Unterschieden stecken als in die Suche nach Gemeinsamkeit. Ein ähnliches Ziel verfolgte die philosophische Gegenbewegung zu dem philosophischen Liberalismus, nämlich der Kommunitarismus, der bewusst den Gedanken der Gemeinschaft in den Vordergrund stellte.

Insgesamt muss man konstatieren, dass es offenbar in unserer Gesellschaft einen Unterscheidungszwang gibt, so dass sich die Frage stellt, woher diese gefühlte Notwendigkeit, ständig Unterscheidungen treffen und sich von anderen zu distanzieren zu müssen, kommt: Ist er wirklich eine anthropologische Konstante oder ist dies dem Erfolg von Marketingmaßnahmen zu verdanken? Diese Frage ist deshalb wichtig, wenn man die eingangs erwähnte These von Theorien als Kommunikationszusammenhängen ernst nimmt: Denn dann produziert man mit der Ausdifferenzierung und einer übertriebenen Unterscheidung Kommunikationshandicaps und Wahrnehmungsprobleme.

Gründe für den Theorienpluralismus

Die Tatsache, dass man die Welt aus sehr verschiedenen Perspektiven betrachten kann, ist natürlich schon lange bekannt. Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang etwa an die Philosophie der symbolischen Formen von Ernst Cassirer (1990), der die symbolischen Formen als Weltzugangsweisen definiert und zumindest acht davon unterscheidet (Mythos, Religion, Staat, Sprache, Technik, Wirtschaft, Wissenschaft und natürlich die Kunst). Mit jeder dieser symbolischen Formen kann ich eine spezifische Wirklichkeit konstruieren. Dabei sind die unterschiedlichen Wirklichkeitskonstruktionen nicht gegeneinander auszuspielen, denn keine ist verzichtbar und keine ist durch andere ersetzbar. Allerdings erfüllen unterschiedliche symbolische Formen unterschiedliche Zwecke.

Neben diesen objektiven Gründen für eine Vielfalt an Zugangsweisen gibt es natürlich auch subjektive Gründe. Johann Gottlieb Fichte sagte einmal, dass die Frage, welche Philosophie man habe, entscheidend davon abhänge, was für ein Mensch sei. Damit wird die Auswahl der individuell akzeptierten Philosophie (oder Theorie) zu einer Charakterfrage. Das bedeutet insbesondere, dass Weltanschauungen, Religionen, politische Bekenntnisse auch bei der Auswahl von Theorien eine Rolle spielen.

Auch ist der Begriff des Paradigmas von Thomas Kuhn hilfreich. Eine saloppe, aber durchaus ernst gemeinte deutsche Übersetzung des Paradigmabegriffs ist schlicht und einfach „Mode". Natürlich gibt es zu gewissen Zeiten eine Dominanz bestimmter Methoden, die dann den Mainstream in der Wissenschaft ausmachen. Solche Moden prägen dann durchaus die Wissenschaft- und Forschungspolitik, insofern sie zu einer bestimmten Stellenbesetzung und einer bestimmten Verteilung von Fördergeldern führen. D.h. die die Wahl einer bestimmten Theorie hängt nicht bloß von einer unbeeinflussbaren Suche nach Wahrheit ab, sondern sie ist vielfältig in politische Kontexte, in den Streit um das Deutungsrecht und um Ressourcen eingebunden.

Fazit

Die vorangegangenen Überlegungen konnten nur einige vorläufige Hinweise zu Problemen theoretischer Abgrenzung geben. Trotzdem will ich versuchen, ein kleines Fazit aus diesen Überlegungen zu ziehen:

  1. Eine erste Schlussfolgerung klingt vielleicht banal, ist aber trotzdem von Bedeutung: Abgrenzung ist nur dann möglich und nötig, wenn man es mit einer Vielfalt unterschiedlicher Theorien zu tun hat. Vielfalt wiederum ist inzwischen sogar ein als Menschenrecht geschützter Wert. So gibt es eine UNESCO-Konvention zum Schutz kultureller Vielfalt. Sofern man Wissenschaft zu Kultur zählt, ist damit auch einige eine Ermutigung ausgesprochen, Vielfalt nicht bloß zu erhalten, sondern sogar noch zu vergrößern: Vielfalt gilt im UNESCO-Kontext nämlich als Reichtum.
     
  2. Bei aller daraus folgenden Notwendigkeit, die Unterschiede – man erinnere sich an den Herderschen Kulturbegriff – zu identifizieren, sollte Unterscheidung nicht bedeuten, dass man anderen Sichtweisen Respekt, Anerkennung und Wertschätzung nicht zukommen lässt. Dies ist umso weniger statthaft, wenn man sich an die These von Johan Galtung erinnert, dass es unterschiedliche nationale kulturelle Forschungstraditionen gibt, die eng mit den Lebens- und Denkweisen der Menschen zusammenhängen.
     
  3. Eine solche Anerkennung anderer Ansätze fällt dann umso leichter, je mehr man sich der begrenzten Tragweite des eigenen Ansatzes vergewissert hat. Dies gilt insbesondere für die auch in der kulturellen Bildungsarbeit verbreiteten Alltagstheorien, etwa darüber, was Kinder sind und wie sie lernen oder was Kunst ist.
     
  4. Die Geschichte der Wissenschaften zeigt, dass selbst allseitig akzeptierte Theorien immer nur Wahrheiten auf Zeit sein können. Daher ist die auch von den Gegnern von Karl Popper anerkannte Falsifikationstheorie geradezu ein Pflichtprogramm für jede wissenschaftliche Arbeit. Geisteswissenschaftler leiden möglicherweise am meisten darunter, dass die „Wahrheit“ ihres spezifischen Ansatzes ständig in der Diskussion ist. Vielleicht hilft als Trost der Hinweis darauf, dass auch die stabilste unserer Wissenschaften, nämlich die Mathematik, Probleme mit dieser Wahrheit hat: So sprach einmal der bedeutende französische Mathematiker Andre Weil davon, dass der liebe Gott existiere, weil die Mathematik widerspruchsfrei sei. Der Teufel existiere jedoch auch, und zwar deshalb, weil diese Widerspruchsfreiheit der Mathematik nicht zu beweisen ist (dies bezieht sich auf die sogenannten Begrenzungssätze, v. a. auf der Grundlage der Arbeiten von Kurt Gödel).
     
  5. Man kann im Hinblick auf die Breite des Gegenstandsfeldes von Wissenschaften von einem sehr großen Spektrum ausgehen. In der Soziologie hat etwa Luhmann den Anspruch gehabt, alles, was mit Gesellschaft zu tun hat, zu erforschen. Die andere Seite des Spektrums wird von extrem spezialisierten Studien eingenommen. Vielleicht ist auch für die Kulturpädagogik sinnvoll, einen Vorschlag des amerikanischen Soziologen Robert Merton zu übernehmen, nämlich sich um Theorien mittlerer Reichweite zu bemühen.
     
  6. Wenn die UNESCO-Überzeugung stimmt, dass Vielfalt Reichtum bedeutet, dann kann man dies als Ermutigung verstehen, diese Vielfalt weiter auszudehnen. Dies gilt insbesondere für die Kulturpädagogik. So lernt jeder Studierende der Erziehungswissenschaft bereits im Grundstudium, dass es eine Vielzahl theoretischer Konzepte und Positionen in der Pädagogik gibt. Ein beliebig herausgegriffene Handbuch (Krüger 1997) unterscheidet etwa 13 unterschiedliche Theorieansätze in der Pädagogik. Diese große Zahl von umfassenderen Theorieansätzen gibt es nicht bloß in der Allgemeinen Pädagogik, sondern auch in dem Spezialgebiet der Schulpädagogik kann man entsprechend ausdifferenzierte Theorieansätze finden. Es wäre durchaus hilfreich, wenn sich die wissenschaftliche Kulturpädagogik in Zukunft darum bemühen würde, eine Kulturpädagogik im Kontext der jeweiligen Theorien aus zu formulieren.

Literatur

Braun, T./Fuchs, M./Zacharias, W.(Hg.): Theorien der Kulturpädagogik. Remscheid 2014 (i.V.).

Büttner, N./Heinen, U. (Hg.): Peter Paul Rubens. Barocke Leidenschaften. München: Hirmer 2004.

Cassirer, E.: Versuch über den Menschen. Frankfurt/M.: Fischer 1990.

Dux, G.: Historisch-genetische Theorie der Kultur. Weilerswist: Velbrück 2000.

Fuchs, M.: Untersuchungen zur Genese des mathematischen und naturwissenschaftlichen Denkens. Weinheim: Beltz 1984.

Fuchs, M.: Kulturelle Bildung. München: Kopaed 2008.

Fuchs, M.: Kultur macht Sinn. Wiesbaden: VS 2008.

Fuchs, M.: Kunst als kulturelle Praxis. München: Kopaed 2011.

Heinen, U.: Rubens zwischen Predigt und Kunst. Weimar 1996.

Krüger, H.-H.: Einführung in Theorien und Methoden der Erziehungswissenschaft. Opladen: Leske und Budrich 1997.

Kuhn. Th.: Zur Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1967.

Needham, J.: Wissenschaft und Zivilisation in China. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1988.

Plöger, W.: Grundkurs Wissenschaftstheorie für Pädagogen. München: Fink 2003.

Reinwand-Weiss, V.-I.: Künstlerische Bildung - Ästhetische Bildung - Kulturelle Bildung. In: Bockhorst u.a. (Hg.): Handbuch Kulturelle Bildung. München: Kopaed 2012.

Rittelmeyer, Chr.: Warum und wozu ästhetische Bildung? Oberhausen: Athena 2010.

Watson, P.: Das Lächeln der Medusa. Die Geschichte des modernen Wissens. München: Goldmann 2001.

Watson, P.: Ideen. Eine Kulturgeschichte von der Entdeckung des Feuers bis zur Moderne. München: Goldmann 2008.

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Max Fuchs (2014): Zu den Problemen theoretischer Abgrenzungen in der kulturellen Bildung. In: KULTURELLE BILDUNG ONLINE: https://www.kubi-online.de/artikel/den-problemen-theoretischer-abgrenzungen-kulturellen-bildung (letzter Zugriff am 14.09.2021).

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