Bildungsqualität, Bildungsforschung und Kulturelle Bildung
Im letzten Jahrzehnt hat die (mit empirischen Verfahren arbeitende) Bildungsforschung in Deutschland große Aufmerksamkeit durch internationale Vergleichsstudien erlangt. Im Blickpunkt stand dabei insbesondere die Bildungsqualität der Schule. Tatsächlich reicht das Feld der Bildungsforschung sehr viel weiter. Ihr Gegenstand umfasst „Voraussetzungen, Prozesse und Ergebnisse von Bildung über die Lebensspanne, innerhalb und außerhalb von (Bildungs-)Institutionen“ (Prenzel 2005:12). In den folgenden Abschnitten nutzen wir diese Definition, um den Gegenstandsbereich „Kulturelle Bildung“ für weiterführende Forschung zu strukturieren. Dabei gehen wir auch der Frage nach, inwieweit Ansätze der empirischen Bildungsforschung auf diesen besonderen Gegenstandsbereich angewendet werden können, um Anhaltspunkte für die Qualität Kultureller Bildung in Deutschland zu gewinnen.
Thema und Begriffsbestimmung
Der Zweck einer auf die aktuelle Bildungswirklichkeit bezogenen Forschung kann darin gesehen werden, Probleme im Bildungswesen zu identifizieren und Wissen zu ihrer Lösung beizutragen (Berliner 1992). Anders formuliert zielt die Bildungsforschung auf Wissen, das hilft, die Bildungswirklichkeit besser zu verstehen und weiter zu entwickeln. Hier kann unterschieden werden zwischen
>> deskriptivem Wissen, das z.B. Bildungsergebnisse oder Prozesse sowie Voraussetzungen von Bildung beschreibt;
>> explanativem Wissen, das Bildungsergebnisse auf bestimmte Prozesse, Voraussetzungen oder Bedingungen von Bildung zurückführt und erklärt;
>> Veränderungswissen, das darlegt, wie gegebene Ziele unter bestimmten Voraussetzungen mit bestimmten Maßnahmen erreicht werden können.
Diese verschiedenen Arten von Wissen sind miteinander verbunden. Erklärungen setzen Beschreibungswissen voraus. Erklärungswissen wiederum liefert Hinweise auf Ansatzpunkte für Veränderungen. Auf deskriptives Wissen zielen typischerweise Überblicksstudien (Surveys), die umfangreiche, oft repräsentative Stichproben einbeziehen. Aber auch Fallstudien können zum Beschreibungswissen beitragen. Experimentelle (zum Teil auch quasiexperimentelle) Designs sind erforderlich, um Vermutungen/Hypothesen über beeinflussende Faktoren und ihre Effekte zu prüfen. Belastbare Befunde über die Wirkung von Maßnahmen oder Innovationen setzen Interventionsstudien oder Feldexperimente voraus, bei denen andere Einflussgrößen systematisch kontrolliert werden. Gemeinsam ist allen empirisch orientierten Forschungszugängen, dass Merkmale (z.B. von Bedingungen, Prozessen und Ergebnissen) mit Hilfe von schriftlichen oder mündlichen Befragungen, Beobachtungsverfahren oder Tests erfasst werden. Selbstverständlich müssen die Zuverlässigkeit und Gültigkeit solcher Messungen kritisch geprüft werden.
Betrachtet man die inhaltliche und systemische Breite des oben skizzierten Gegenstandsbereichs von Bildungsforschung, dann liegt es auf der Hand, dass unterschiedliche Disziplinen gefordert sind – von der Erziehungswissenschaft über die Psychologie und Soziologie bis zu den Fachdidaktiken und Fachwissenschaften. Viele relevante Fragestellungen der Bildungsforschung können nur in interdisziplinärer Zusammenarbeit ertragreich beantwortet werden. Deshalb ist Bildungsforschung insgesamt nicht als Disziplin, sondern als interdisziplinäres Forschungsfeld (analog z.B. zur Klima- oder Meeresforschung) zu verstehen.
Historische Dimension
Die Anfänge einer empirischen Bildungsforschung in Deutschland liegen über 100 Jahre zurück. Pioniere wie August Lay, Ernst Meumann und etwas später Aloys Fischer wendeten empirische Erhebungsverfahren und Untersuchungsansätze erfolgreich auf pädagogische Fragestellungen an, fanden jedoch in der stark geisteswissenschaftlich orientierten Pädagogik wenig Beachtung. Offensichtlich werdende Problemlagen im deutschen Bildungssystem der Nachkriegszeit ließen einen großen Wissensbedarf erkennen, der in der Forderung von Heinrich Roth (1962) nach einer „realistischen Wende“ in der pädagogischen Forschung ihren Ausdruck fand. Ein starkes Gewicht und hohe Sichtbarkeit erhielt die Bildungsforschung um das Jahr 2000 mit den großen internationalen Schulleistungsstudien (vgl. Krapp/Prenzel/Weidenmann 2006; Zlatkin-Troitschanskaia/Gräsel 2011). Eine wichtige Rolle spielte dabei das „Programme for International Student Assessment“ (PISA), das von der OECD im Kontext ihrer regelmäßigen Berichtserstattung über Bildungssysteme (z.B. OECD 2011a) aufgelegt wurde. Die schwachen Leistungen der SchülerInnen in Deutschland und Belege für große Disparitäten (z.B. nach sozialer oder ethnischer Herkunft, aber auch Geschlecht oder Region), die in der ersten PISA-Erhebung gefunden wurden (Baumert u. a. 2001), haben den Stellenwert empirischer Studien zur Bildungsqualität und Qualitätsentwicklung hervorgehoben und die Nachfrage nach empirisch fundierten Erkenntnissen im Bezug auf lern- und lehrrelevante Bedingungen kräftig verstärkt (z.B. Prenzel/Allolio-Näcke 2006).
Das inhaltliche Spektrum der Erhebungen bei PISA lässt durch die regelmäßige Untersuchung der Lesekompetenz (neben mathematischen und naturwissenschaftlichen Kompetenzen) eine erste Öffnung hin zum Feld der Kulturellen Bildung erkennen. Erhebungen zur Lesefreude oder zur Nutzung von Medien und Computern erweitern die Perspektive. Generell betonen die Erhebungskonzeptionen, die sich an Vorstellungen von „Literacy“ orientieren, den Stellenwert der Kompetenzen für die gesellschaftliche und kulturelle Teilhabe (siehe Larissa von Schwanenflügel/Andreas Walther „Partizipation und Teilhabe“). Hier ist von einer Kultur im weiten Sinne die Rede, die auch die Mathematik, die Naturwissenschaften oder die Technik einschließt. Aber auch die Ausrichtung auf Schlüsselkompetenzen wie Lesen gewinnt Relevanz für unzählige andere Domänen oder Kulturbereiche, weil der (bildende) Zugang zu diesen in einem hohen Maße von einer elaborierten Lesefähigkeit abhängt. Das Untersuchungsprogramm schließt aber auch kulturelle Ressourcen und Praktiken im Elternhaus und in der Schule ein, die als mögliche Bedingungsfaktoren für die Entwicklung von Kompetenzen und Orientierungen betrachtet werden (vgl. Klieme u. a. 2010; Prenzel u. a. 2007). Kulturelle Praktiken wie zum Beispiel Leseverhalten oder Mediennutzung sind ebenfalls seit geraumer Zeit Gegenstand von Überblicksstudien, die z.B. im Auftrag der Deutschen Shell oder der Stiftung Lesen durchgeführt werden (z.B. Albert u. a. 2010). Insgesamt werden die großen nationalen und internationalen Vergleichsstudien, die auch Ergebnisse von Bildungsprozessen erfassen, bisher noch durch eine relativ enge Ausrichtung auf wenige Inhaltsbereiche und auf das formelle Lernen in Unterricht und Schule bestimmt.
Aktuelle Situation
Während Kompetenzen von Kindern, Jugendlichen und sogar Erwachsenen in den Bereichen Mathematik, Naturwissenschaften sowie Lesen bereits seit längerer Zeit in regelmäßigen Abständen mit hohem methodischem Aufwand evaluiert werden (TIMSS, PISA, PIACC), gibt es bisher kaum umfassende, systematische oder international vergleichende Untersuchungen zu kulturellen Bildungsaktivitäten und deren Ergebnissen. Als Ausnahme kann zum Beispiel die von der UNESCO in Auftrag gegebene Studie zu „Arts Education“ (Bamford 2010) gelten, in der künstlerische Angebote für Kinder und Jugendliche in über 40 Ländern dokumentarisch abgebildet und in Hinblick auf bestimmte Qualitätsmerkmale untersucht wurden. Diese Studie kann als wichtiger Schritt zur Erschließung der Kulturellen Bildung für international vergleichende Forschung verstanden werden. Allerdings ist die Untersuchung noch weit von dem Ziel entfernt, an repräsentativen Stichproben Indikatoren für Voraussetzungen, Bedingungen, Prozesse und Ergebnisse Kultureller Bildung zu erfassen. Tatsächlich ist es aus verschiedenen Gründen im Bereich der Kulturellen Bildung sehr viel schwieriger, mit den etwa bei PISA verwendeten Test- und Erhebungsmethoden zu arbeiten. Im Bereich Mathematik und Naturwissenschaften hat die Schule gewissermaßen das Monopol für die Bereitstellung von Lerngelegenheiten, die curricular eingeordnet sind und mehr oder weniger weltweit auf ähnliche Ziele abheben. Kulturelle Bildung dagegen findet in vielfältigen Einrichtungen und an unterschiedlichsten Orten statt – und dabei häufig informell. Daraus ergibt sich die große Schwierigkeit, Bezugssysteme für (Teilbereiche) der Kulturellen Bildung zu definieren, an denen sich zum Beispiel die Testentwicklung orientieren könnte. Ebenso kompliziert ist die Aufgabe, zuverlässige und aus theoretischer Sicht vergleichbare Angaben und Daten über Prozesse Kultureller Bildung zu erhalten. Nicht zuletzt stellt sich die Frage nach Umfang und Komplexität von Aufgabenstellungen, die für die Erfassung von Kompetenzen im Bereich Kultureller Bildung als angemessen betrachtet werden, verbunden mit der Herausforderung, die unter diesen Aufgabenstellungen erbrachten Leistungen in ihrer Qualität zuverlässig und valide zu beurteilen (siehe Tobias Fink „Evaluationen im Feld der Kulturellen Bildung“). Hindernisse für umfassendere Untersuchungen zur Kulturellen Bildung liegen somit weniger im methodischen, sondern eher im theoretischen Bereich. Repräsentative Studien setzen Theorien und Modelle Kultureller Bildung voraus, die von den Fachleuten in diesem Bereich weitgehend akzeptiert sind und die einigermaßen konkrete Aussagen zulassen, zum Beispiel über die Struktur der angestrebten und zu erfassenden Kompetenzen.
Erhebliche Anstrengungen zur Strukturierung des Feldes der Kulturellen Bildung und zu einer ersten, breit angelegten Beschreibung der Situation in Deutschland wurden für den im Juni 2012 erschienenen Bildungsbericht unternommen (Autorengruppe Bildungsbericht 2012) (siehe Mariana Grgic/Thomas Rauschenbach „Kulturelle Bildung im Horizont der Bildungsberichterstattung des Bundes“). Das Schwerpunktthema dieses Berichts ist die musisch-ästhetische und Kulturelle Bildung in Deutschland. Mit dieser Schwerpunktsetzung verbindet sich das Ziel, Indikatoren für ein fortlaufendes Monitoring von Kultureller Bildung zu klären und eine erste Datenbasis zu schaffen.
Folgt man der typischen Herangehensweise der Bildungsforschung, dann können vordringliche Aufgaben und Funktionen von Forschungsvorhaben zum Thema Qualität Kultureller Bildung darin gesehen werden, Bedingungen, Prozesse, Wirkungen und Erträge von Kultureller Bildung theoretisch zu differenzieren und mit Hilfe empirischer Methoden zu beschreiben.
Ausblick – Perspektiven – Herausforderungen
Entscheidend für die weiterführende Erforschung des Felds der Kulturellen Bildung wird es sein, die Expertisen unterschiedlicher Disziplinen zusammenzuführen, um von kleineren explorativen Studien ausgehend größere Forschungsprogramme vorzubereiten. Auf diese Weise haben mehrere interdisziplinäre Arbeitsgruppen in Deutschland seit einiger Zeit begonnen, das Feld „Bildung im Museum“ zu erschließen (vgl. Graf/Noschka-Roos 2009). Fragen der Besucherforschung werden inzwischen auch durch DFG-geförderte Untersuchungen Effekte der Situierung und Wirkungen der Textgestaltung und gezielter Medienunterstützung im Museum aufgeklärt. Für den hier im Blickpunkt stehenden Bereich der Kulturellen Bildung ist das Erfordernis interdisziplinärer Forschungszugänge besonders offensichtlich. Die Vielfalt kultureller Bildungsgegenstände verlangt domänenspezifische Kompetenz in den jeweiligen Gebieten (Theater, Kunst, Musik...), die – je nach Fragestellung – mit fachdidaktischer, pädagogischer oder genereller sozial- und kulturwissenschaftlicher Expertise verbunden sein muss.