Kulturelle Bildung zwischen den Kulturen
Adressaten Interkultureller Bildung
Kulturelle Bildung vermag einen Raum der Begegnung zu schaffen zwischen verschiedenen Kulturen – ob ethnisch, alters- oder geschlechtsspezifisch, regional, religiös u.a. geprägt -, der Annäherungen und Verknüpfungen ebenso ermöglicht wie Erkenntnis der Unterschiede und damit Interkulturelle Bildung realisiert. Dieser Raum ist nicht für besondere Zielgruppen oder Adressaten bestimmt, sondern eine Chance für alle, die sich aktiv oder passiv in den Wirkungshorizont Kultureller Bildung begeben. Die Gesellschaft eines Einwanderungslandes, wie dies Deutschland mittlerweile ist, ist in ihrer Alltäglichkeit so kulturell vielfältig geprägt, dass jegliche Bildungsbemühung stets auf kulturell vielfältig geprägte Menschen gleichgültig welcher Herkunft trifft.
In dem Kontext Interkulturalität wird Kultur(en) meist verstanden als eine Vielzahl von sich gegenseitig abgrenzenden Lebensweisen und Werteprägungen. Kultur kann als gemeinsamer, Koheränz schaffender Nenner einer Gruppe – vom Dorf bis zum Kontinent – gelten, wie das der „Leitkultur“ unterstellt wird. In der Kulturwissenschaft wird dies als „Kohärenz-Position“ (Thomas 2003:138ff.) bezeichnet. Hier ist die so verstandene Kultur oft mit qualitativen Wertungen und vermeintlicher Homogenität ausgestattet, die nach außen abgrenzt. Sie baut auf einer hohen Kohärenz nach innen und Konstruktion von Differenz nach außen auf.
Dagegen steht die „Differenz-Position“ (Feldtkeller 2003:165ff.) für die Dekonstruktion der Vorstellung, dass eine monokulturelle Sozialisation in der heutigen Welt fraglos den Normalfall darstellt, und geht vielmehr von Kultur als Ergebnis einer Vielfalt von Erfahrungen, Handlungen, Erkenntnissen und Verhalten aus, die ständiger Veränderung durch Fremdes und Neues unterworfen ist. Sie verweigert sich qualitativer Wertung, gerät damit jedoch häufig in die Position libertärer Beliebigkeit, weil losgelöst von sozialen Bedingungen.
Die Basis: Kulturelle Vielfalt
Im Rahmen dieser beiden Positionen bewegen sich Theorie und Praxis interkultureller Arbeit; sie erscheinen selten in Reinform, aber prägen den gesamten Integrationsdiskurs und die Integrationspolitik und somit natürlich interkulturelle Kulturarbeit wie Kulturpädagogik (siehe Kolland 2012a).
Beide Positionen fußen auf der Einsicht in die Notwendigkeit kultureller Vielfalt, von diversity, so wie diese in der UNESCO-Deklaration seit 2001 weltweit ratifiziert ist.
„Cultural diversity“ (siehe Bernd Wagner „Von der Multikultur zur Diversity“) bedeutet Mannigfaltigkeit, aber auch Differenz und Verschiedenheit. Insbesondere für den Prozess von Integration und den Abbau von Diskriminierung ist diese Erkenntnis fundamental, denn der Zugewinn kann nur dann fruchtbar werden, wenn die differierenden Werte, Traditionen, Erfahrungen, Lebenspraxen erkannt, zueinander in Bezug gesetzt, in der gesellschaftlichen Interaktion erprobt sowie gemeinsame Regeln des Konfliktaustrags entwickelt werden: eine Demokratie des Respekts (siehe Kolland 2006:147f.).
Ein ideales Forum für diesen Prozess im Bildungskontext ist Kulturelle Bildung, weil sie relativ wenig durch Leistungs- und Bildungskanons festgelegt ist und Experimenten offen steht, die dafür Voraussetzung sind.
Dieser Ansatz ist einerseits keineswegs neu, da Kulturelle Bildung, wenn sie sich ihres Kontextes und Kerns „ästhetische Erziehung“ und Umgang mit den Künsten bewusst ist, erkennt, dass Entwicklung in der Kunst stets die Begegnung mit dem „Anderen“, dem „Fremden“ sucht und findet, sei dies beim Bau gotischer Dome oder im avantgardistischen Tanz, andererseits aber lange durch eine versperrende Assimilationstheorie und -politik, die auf Anpassung an die deutsche „Leitkultur“ orientierte und Fremdes abwehrte, blockiert war. Die Entwicklung interkultureller Kultureller Bildung spiegelt sehr genau die Geschichte des Einwanderungslandes Deutschland und seiner verschiedenen Phasen, ebenso wie die Phasen deutscher Bildungspolitik, wobei der Pisa-Schock zwar Kulturelle Bildung ernsthaft bedrohte, die dadurch ausgelöste Erkenntnis aber, dass das große Potential junger Menschen mit Migrationsgeschichte vernachlässigt worden war, dazu führte, dass diese – vom neuen Bildungsnotstand getrieben – neu in den Fokus bildungspolitischer Aufmerksamkeit und Förderung gerieten.
Die Antwort auf den Pisa-Schock
Kulturelle Bildung galt und gilt als (Geheim-)Rezept gegen gesellschaftliche Exklusion und für Chancengerechtigkeit, weil hier Möglichkeiten der Persönlichkeitsentwicklung und kreativer Tätigkeit bereitstehen, die (nicht unmittelbar) abhängig sind von sprachlichen Fähigkeiten und Wissensfundus und die Kindern und Jugendlichen aus bildungsvernachlässigenden sozialen Kontexten Chancen der Partizipation und Entfaltung ihrer Potentiale bieten und sie auf ihrem Weg in die Transkulturalität (siehe Welsch 1998b; Datta 2005) begleiten.
Das Betriebssystem Kulturelle Bildung hat den MigrantInnen viel zu verdanken: Skeptisch und unsicher dem Eigenwert Kunst gegenüber, dessen Wertschätzung eigentlich keine Begründung benötigt, bieten die von sozialer Exklusion Bedrohten immer wieder aufs Neue den wichtigen Begründungszusammenhang der Notwendigkeit Kultureller Bildung mit den bekannten Stichworten Empowerment, Identitätsfindung, Überwindung von Sprachlosigkeit, Konfliktaustragungsort, Kommunikationsbrücke, Stärkung interkultureller Kompetenz. Um dies wirklich nachhaltig nachzuweisen, fehlen noch Instrumente und Zeit (siehe Kolland 2012b:101ff.).
Eigene Erfahrung und Beobachtung lehrt aber, was es z.B. für eine junge Muslima bedeuten kann, auf der Bühne ihre Identität zu formulieren und zu behaupten – gegen ihre Familie, community oder die Mehrheitsgesellschaft. Sie geht stärker von der Bühne herunter als sie diese betrat. Dieser Moment wird ihr vielleicht erst zehn Jahre später nutzen, vergessen wird sie ihn jedenfalls nie. Beeindruckend sind Beispiele von interkulturell gemischten Gruppen oder Klassen, die sich mit Comic-Zeichnen befassen – das genaue Beobachten und die Entscheidung für sehr individuelle Zeichenweisen führt zu neuen Wegen visueller Kunst und Kommunikation.
Die Internationalisierung der Bevölkerungsstruktur hat dazu gezwungen, Kultur- und Bildungskanons zu überprüfen und aufzubrechen. Sie hat gewohnte Kultur-Sicherheiten infrage gestellt und leitkulturelle Arroganz sichtbar und damit zweifelhaft werden lassen (Kolland 2004:43ff.).
Die Achtung vor den neuen kulturellen und künstlerischen Potentialen, die Immigration mit sich brachte, haben die Sprachen der Kunst, insbesondere die der Jugendkultur (siehe Christian Schmidt „Jugendkulturelle Szenen und Kulturelle Bildung“) verändert. „Urban culture“, die Kunst des Untergrunds der Metropolen dieser Welt, ist aus dieser migrantischen Szene heraus gewachsen und von allen ihren Schattierungen geprägt. Rap und HipHop haben den Weg aus den Ghettos herausgefunden, Bollywood-Tanz auch. Dennoch bleibt die Konnotation als Kultur der Exkludierten und wird auch so voll Stolz von ihnen genutzt; Sprache wird weiterentwickelt – nicht aus Unvermögen, sondern als jugendkulturelles Distinktionsmerkmal. Diese Entwicklungen heben nach und nach Grenzen zur „Hochkultur“ auf.