Kulturelle Bildung in pluralen Gesellschaften: Diversität von Anfang an! Diskriminierungskritik von Anfang an!
Abstract
Dieser Beitrag setzt sich mit Kunst, Kultur und Bildung aus der Perspektive der Diversitätsforschung und Diversitätspädagogik auseinander. Er fokussiert die Auseinandersetzung mit Kultureller Bildung als Lernhandlung und Bildung in einer hierarchisch strukturierten, dominanzkulturellen Gesellschaft. Positionierungen der Kulturellen Bildung und der Kulturbegriff werden macht- und diskriminierungskritisch hinterfragt. Der Bereich der Kulturellen Bildung, der in diesem Beitrag näher analysiert wird, ist der Bereich der an Kinder adressierten literarischen Produktionen, genauer die Kinder- und Jugendliteratur. Die gleichzeitige und polarisierende Produktion von Differenz und Dominanz in den Lebens- und Erfahrungsräumen der Kindheit, insbesondere in der Kinder- und Jugendliteratur, wird in diesem Artikel mithilfe von drei Spannungsfeldern konkretisiert. Damit sollen die in diesem spezifischen Bereich der Kulturellen Bildung implizit enthaltenen hegemonialen Einschreibungen problematisiert werden. Am Ende des Beitrags werden die Möglichkeiten einer diversitätsorientierten und diskriminierungskritischen inklusiven Kulturellen Bildung skizziert.
Dieser Beitrag fokussiert die Auseinandersetzung mit Kunst und Kultur als Lerngegenstand. Die mit den Ausdruckformen und Gestaltungsbereichen wie Musik, Theater, Malerei, Plastik, Film, Tanz, Literatur verbundenen Lernhandlungen und Bildungsangebote finden in einer hierarchisch strukturierten Gesellschaft, einer dominanzkulturellen Gesellschaft statt. Das Feld der Kunst und Kultur ist von hegemonialen Einschreibungen, Zugangsbarrieren und entsprechenden Diskriminierungsrisiken bzw. Ausschlussrealitäten betroffen. In gleichstellungsorientierten Gesellschaften, die zunehmend pluraler werden, werden Fragen des Zugangs zu Ressourcen und die damit zusammenhängende Realisierung eines aktiven Diskriminierungsschutzes dringlicher. Solche Fragen werden zunehmend zum Gegenstand öffentlicher Debatten. Kulturelle Bildung muss in diesem Ungleichheitsgefüge hinsichtlich der mit ihr verbunden Zugangsbarrieren und diskriminierungsrelevanten Anteile befragt werden.
In diesem Artikel wird zunächst der gesellschaftliche Auftrag Kultureller Bildung mit Bezug auf Ungleichheitsstrukturen diskutiert. Hierzu werden drei prägnante Positionen herangeführt. Diese weisen auf ein Spektrum von Gestaltungspotenzialen Kultureller Bildung in pluralen Demokratien der Gegenwart. Danach wird der Kulturbegriff als zentraler Bestandteil in dem Zusammenhang von Kultur, Bildung und Kindheit dominanzkritisch hinterfragt. Der Bereich der Kulturellen Bildung, der in diesem Beitrag näher analysiert wird, ist der Bereich der an Kinder adressierten literarischen Produktionen, genauer die Kinder- und Jugendliteratur.
Fokus auf Kinder- und Jugendliteratur
Der Kinder- und Jugendliteratur als Medium der Lesesozialisation bzw. Material, an dem Lesen als bedeutende Kulturtechnik gelernt wird, kommt eine bedeutende Rolle in Informationsgesellschaften zu. Sie ist zentral für Lernhandlungen und für das selbstständige Erfassen, Verstehen und Deuten der sozialen Wirklichkeit (vgl. Ehlers 2016). Lesekompetenz ist eine bedeutende Grundlage für Partizipation, bereits schon in der frühen Kindheit. An Kinder gerichtete literarische Werke enthalten aber in vielen Fällen kulturell-hegemoniale, diskriminierungsrelevante Bestände, sprich Dominanzbilder (vgl. Bochmann/Staufer 2013). Diese gründen sowohl aus der Normalisierung von Dominanz als auch aus der Dramatisierung von Differenz. Die gleichzeitige und polarisierende Produktion von Differenz und Dominanz in den Lebens- und Erfahrungsräumen der Kindheit, insbesondere in der Kinder- und Jugendliteratur, wird in diesem Artikel mithilfe von drei Spannungsfeldern konkretisiert. Damit sollen die in diesem spezifischen Bereich der Kulturellen Bildung implizit enthaltenen hegemonialen Einschreibungen problematisiert werden. Am Ende des Beitrags werden die Möglichkeiten einer diversitätsorientierten und diskriminierungskritischen inklusiven Kulturellen Bildung skizziert.
Kulturelle Bildung für plurale Demokratien: Drei Positionen
Der vielschichtige Auftrag sowie das Selbstverständnis von Kultureller Bildung in pluralen Demokratien der Gegenwart bilden den Ausgangspunkt meiner Überlegungen. Folgende Perspektiven sind für meinen Zugang zu Kultureller Bildung in pluralen Gesellschaften zentral. Die erste Position ist die der Bundesregierung. Die Bundesregierung begreift Kulturelle Bildung als eine zentrale demokratische Ressource. Diese Demokratisierungsaufgabe der Kulturellen Bildung wird in dem programmatischen Anspruch „Kultur für alle!“ postuliert. Damit gilt es, gleichwertige Zugänge zu Kultureller Bildung für alle Kinder und Jugendlichen* zu realisieren. Die Konkretisierung des offiziellen Auftrags wird wie folgt formuliert:
„Die Begegnung und Auseinandersetzung mit Kunst und Kultur sind für jeden Menschen von prägender Bedeutung. Sie beeinflussen die sinnliche Wahrnehmung, die kreativen Fertigkeiten und die Ausdrucksfähigkeit. Sie ermöglichen einen Zugang zur Geschichte, zu den Traditionen, Werten und kulturellen Leistungen in Deutschland, Europa und der Welt. Durch kulturelle Bildung werden wichtige Grundlagen für den gesellschaftlichen Zusammenhalt geschaffen. Kultur und kulturelle Bildung vermitteln Traditionen, Kenntnisse und Werte, die eine Gesellschaft erst lebenswert machen [Herv. d. Verf.].“ (BKM 2018)
Dieser umfassende Blick auf die Potenziale Kulturelle Bildung bezieht sich auf ihre Bedeutung für die Persönlichkeitsentwicklung der einzelnen Zugehörigen* einer spezifischen Gesellschaft (Ausbildung der eigenen sinnlichen Wahrnehmung, des eigenen kreativen Ausdrucks). Er betont die Bedeutung von geschichtlichem Lernen in der Kulturellen Bildung. Er hebt zugleich die Vielschichtigkeit des geopolitischen Bezugs von Kultureller Bildung hervor, sprich die lokalen Aspekte, kontinentalen Aspekte, globalen Aspekte (Deutschland/Europa/die Welt). Und schließlich umfasst dieser Blick die große Bedeutung von Kultureller Bildung für die soziale und gesellschaftliche Vergemeinschaftung und für soziale Kohäsion (Schaffung von gesellschaftlichem Zusammenhalt).
Die zweite für die Gestaltung von Kultureller Bildung in pluralen Demokratien der Gegenwart aus meiner Sicht zentrale Fokussierung kann in der Position der Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung (BKJ o.J.) nachvollzogen werden. Der hier zugrunde liegende Anspruch lautet:
„Kulturelle Bildung für alle! sowie Kinder- und Jugendrechte durchsetzen! In insgesamt sechs Argumenten wird die Konzeptualisierung von Kultureller Bildung durch die Parameter Kinderrechte, emanzipatorische und solidarische Handlungsformen und Empowerment eingerahmt.
Demokratie leben und Freiheit gestalten. Kulturelle Bildung ist ein Lebens- und Praxisfeld, in dem Orientierung und Selbstverortung möglich sowie Selbstwirksamkeit und gemeinschaftliches Handeln erfahrbar werden. Interesse und Bereitschaft, Möglichkeit und Fähigkeit zum eigenen Engagement sind Grundlagen gelebter Demokratie und gestalteter Freiheit, die mit und durch Kunst und Kultur gestärkt werden [Herv. d. Verf.].“
Hier wird Kulturelle Bildung als konkrete Möglichkeit zur Stärkung des gesellschaftlichen Engagements von Kindern und Jugendlichen* eingeschätzt. Kulturelle Bildung bildet einen Möglichkeitsraum, in dem gesellschaftliche Strukturen, Bedeutungsgewebe, Funktionsweisen kennengelernt werden (Orientierung), aktiv angeeignet werden können (Selbstverortung) und schließlich mitgeformt werden können, durch den eigenen und gemeinsamen Einsatz (Selbstwirksamkeit und gemeinschaftliches Handeln). Die grundlegende Bedeutung einer konstruktiven Auseinandersetzung mit Kunst und Kultur wird durch die Kontextualisierung von Kultureller Bildung als Lebens- und Praxisfeld betont. Kulturelle Bildung ist unmittelbar wichtig für die eigene Lebensführung, die gesellschaftliche Kommunikation und die konkreten Beiträge zu Verständnissen von Gesellschaft.
Die Perspektive der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) auf Kulturelle Bildung bildet die dritte aus meiner Sicht bedeutende Fokussierung auf Kulturelle Bildung. Kulturelle Bildung bedeutet Bildung zur kulturellen Teilhabe! Kulturelle Teilhabe wird hier als Partizipation am künstlerisch-kulturellen Geschehen einer Gesellschaft betrachtet. Aus der Sicht der bpb sei Kulturelle Bildung darüber hinaus eingebettet in die Lebens- und Handlungsvollzüge der Gesellschaft im Allgemeinen. „Im Ergebnis bedeutet kulturelle Bildung die Fähigkeit zur erfolgreichen Teilhabe an kulturbezogener Kommunikation mit positiven Folgen für die gesellschaftliche Teilhabe insgesamt [Herv. d. Verf.].“ (Ermert 2009)
Teilhabe an Kultureller Bildung stärkt in dieser Perspektive die Mitgestaltung von Gesellschaft insgesamt.
Alle hier herangezogenen Positionen stehen stellvertretend für die öffentlichen Verhandlungen, Debatten und auch Kontroversen, die um die Potenziale und Ziele von Kultureller Bildung geführt werden. Kulturelle und soziale Vielfalt gilt es, durch Kulturelle Bildung zu unterstützen. Das soll wiederrum zu mehr sozialer Inklusion führen. Kulturelle Bildung ist mit dem Aufbau von Informationskompetenzen sowie mit der allgemeinen Medienbildung eng verbunden. Damit zusammenhängende Erfahrungs-, Verstehens- und Deutungsprozesse werden als Schlüsselkompetenzen für die Handlungsfähigkeit in globalisierten, digitalen Wissens- und Informationsgesellschaften betrachtet. Plurale Gesellschaften müssen Fragen des gerechten Zugangs und des medialen Kompetenzaufbaus mit solchen der sozialen Kohäsion zu Bedingungen immer voranschreitender Diversifizierung von Lebenslagen und Lebensformen produktiv verbinden. Was bedeutet es vor diesem Hintergrund, Kulturelle Bildung in pluralisierten Gesellschaften diskriminierungskritisch zu befragen? Und was bedeutet es überhaupt, Kulturelle Bildung aus der Perspektive der Diversitätsforschung und Diversitätspädagogik zu reformulieren?
Differenz, Dominanz und Diversität in der Kulturellen Bildung
Angebote der Kulturellen Bildung stellen eine bedeutende gesellschaftliche Ressource dar. Diese Ressource ist zu Bedingungen stabiler Ungleichheitsverhältnisse (vgl. Eggers 2012) ungleich verteilt. Es existieren teilweise erhebliche Zugangsbarrieren. Katja Kinder weist in ihrem Grußwort zum Themenabend „Szenenwechsel! Diversität in Kultur und Bildung“ auf einen zentralen Perspektivwechsel in der Kulturellen Bildung, nämlich auf die Erkenntnis hin, dass „[…] Barrieren kein Naturphänomen sind, sondern tagtäglich gemacht/konstruiert werden. Und sie [die Barrieren] würden längst nicht diese Wirkmächtigkeit besitzen, wenn Ausschlusspraxen nicht schon in der frühsten Kindheit anfangen und systematisiert eingeführt werden würden“ (Kinder 2016).
Katja Kinders Zugang verstehe ich als Plädoyer für eine kritische und konstruktive Auseinandersetzung mit dominanzgesellschaftlichen Einschreibungen in der Kulturellen Bildung, die alle schon recht früh im Lebensverlauf greifen. Es gelte v.a. ihre Gemachtheit, ihre Herstellungsweisen herauszustellen, zu durchschauen und zu durchbrechen, um ihnen damit ihre normalisierende Macht zu entziehen. Die systematische Konstruktion von Differenz respektive Dominanz in der Kulturellen Bildung gilt es, hier zu verstehen und zu unterbrechen, um mehr Teilhabe zu ermöglichen. Teilhabe ist aus meiner Sicht immer in einer konsequenten gleichstellungsorientierten Perspektive verankert. Drei Dimensionen sind für Gleichstellungspolitiken unerlässlich (vgl. Eggers 2015), nämlich einmal die Sicherung von Chancengleichheit, die Sicherung des Rechts auf Teilhabe von ungleich positionierter Zugehöriger* einer Gesellschaft und schließlich die voraussetzungsvollste Aufgabe, die Sicherung von Schutz vor Diskriminierung (vgl. ebd.). Alle drei Dimensionen müssen in die Konzeptualisierung, die Praxis und die Evaluation von Angeboten der Kulturellen Bildung systematisch einbezogen werden.
Soziale Normen und Hierarchien in der Kulturellen Bildung: Einige Problematisierungen
Das im Zentrum der Kulturellen Bildung stehende Konzept Kultur ist ein machtgeladener und umkämpfter Gegenstand. Der Analysebegriff, den ich im Weiteren zugrunde lege, ist die Dominanzkultur von Birgit Rommelspacher (vgl. 1995). Rommelspachers Begriff beinhaltet eine grundlegende Kritik an kultureller Hegemonie. Sie zielt folglich darauf, die Machtinteressen, die mit der Herstellung von kultureller Differenz zusammenhängen, offenzulegen. Ich problematisiere den Zusammenhang von Kultur und Dominanz bzw. Machtsicherung. Biologistische Begründungen von Differenzen besitzen heutzutage keine legitime Erklärungskraft mehr. Seitdem ist kulturelle Differenz zur neuen Konfliktlinie, Differenzlinie und zum Begründungsmuster für soziale Hierarchien geworden (vgl. Tibi 2001). Der Referenzrahmen für rassistisch begründete Differenzproduktion hat sich in Richtung Kulturdifferenz verschoben. Kultur wirkt als Unterscheidungsmerkmal für rassistisch markierte Menschen daher in vielen Fällen extrem repressiv und fixierend. Die Lebens-, Erfahrungs- und Handlungsräume rassistisch markierter Menschen werden vorschnell entlang kulturalisierender Deutungen eingeschätzt und wahrgenommen. Annita Kalpaka (vgl. 2005) spricht hier von einer „Kulturalisierungsfalle“. Kulturell hegemoniale, dominanzkulturelle Strukturen, intersubjektive Machtrelationen und Dominanzbilder sind in vielen Fällen noch die gesellschaftliche Norm im Feld der Kunst und Kultur und folglich in den damit zusammenhängenden Bildungsverhältnissen. Diese sozialen Normen greifen sehr früh in die Kindheit ein.
Dekoloniale Kritiken des Zusammenhangs von Kultur, (globaler) Machtrelationen und Exklusionen fokussieren die kulturelle Moderne und europäische Werte und Normen als zutiefst durch Machtinteressen und Dominanzen geprägt. Walter Mignolo bezeichnet die Zentralsetzung von Europa und die europäische Moderne als selbstverständliche Referenz und Zielpunkt soziokultureller, politischer und wissenschaftlicher Entwicklung als einen „Western Code“ (= dt. „Westliche Kodierung“) (vgl. Mignolo 2011), ähnlich dem Konzept der „männlichen Herrschaft“ von Pierre Bourdieu (vgl. 1998). Es handelt sich bei dem Western Code um ein ausgefeiltes Herrschaftssystem, welches zudem aktiv verleugnet und versteckt werden muss. Die Grundlage der Westlichen Kodierung ist laut Mignolo eine Verallgemeinerung der europäischen Zivilisation (europäische Geschichte, Gesellschaftsform, Wissensproduktion), als der Prototyp und Endpunkt gelungener, menschlicher Entwicklung. Die Symbolsysteme anderer Gesellschaften werden im Vergleich zur westlichen Zivilisation hierarchisch bewertet. Sie werden vor dem Hintergrund des Arbeits- und Lebensmodels weißer, bürgerlicher, männlicher Subjekte abgewertet, als Abweichungen dazu dargestellt. Es geht nicht um ein gleichberechtigtes Nebeneinander (pluriversale Weltordnung), sondern darum, eine westzentrische (polycentric) Weltordnung durchzusetzen. Diese Durchsetzungswege (historische und gegenwärtige) sind zutiefst gewaltförmig.
Nach Mignolo besteht die Westliche Kodierung der europäischen Aufklärung (Moderne) einerseits aus einer Rhetorik der Moderne, aus einer offiziellen Glanzseite. Zugleich besteht aber andererseits eine sehr wirksame inoffizielle, illegitime Schattenseite zu der im Wesentlichen eine Logik der Kolonialität gehört, die „Colonial Matrix of Power“. Beide Seiten sind untrennbar. Sie bilden erst gemeinsam eine funktionierende Einheit. Zu der Glanzseite gehören solche Eigenschaften wie Demokratie, technologischer Fortschritt, Autonomie bzw. Freiheitsrechte, Menschenrechte, Rationalität und Säkularität. Diese werden gemeinhin als europäische Werte betrachtet und vermittelt, als intrinsisch zum europäischen Wesen gehörend. Sie werden nicht als Werte begriffen, die gleichzeitig an vielen verschiedenen geopolitischen Orten entworfen und entwickelt wurden–und in Teilen auch kontestiert waren. Zu der Schattenseite der Moderne gehören die Realitäten von Exklusionen, Hierarchien, eingeschränkten Freiheitsrechten und Ausbeutung (vgl. Andreotti et al. 2015). Diese werden verleugnet und de-thematisiert. Die gleichzeitige Ausbeutung, Kolonisierung und Unterwerfung von Menschen, ganzer Gesellschaften, durch theoretisch gesehen „Gleiche“ wird als Unfall der Aufklärung und nicht als Regelfall der Aufklärung aufgefasst und vermittelt (vgl. Mignolo 2011). Auf der Grundlage der Westlichen Kodierung wird ein hegemoniales System–bestehend aus Wissensproduktion, ökonomischen und politischen Strukturen–als Maßstab moderner Entwicklung für die gesamte Welt verallgemeinert (Universalisierung). Zu den wesentlichen Funktionen des Systems gehören die Begründung von Differenzen und der Entwurf von damit zusammenhängenden Sozialcharakteren.
Die in dem europäischen Kulturbegriff eingeschriebene Gewalt und Marginalisierung, die eingeschriebenen Hierarchien und Dehumanisierungen werden in der Analyseperspektive von Decolonial Studies als „Violences of Modernit“ (vgl. Andreotti et al. 2015) begrifflich gefasst. Der produzierte Schatten der (kulturellen) Moderne (Produktion von Hierarchien, Differenzen, Exklusionen) ist die Möglichkeitsbedingung für ihre Glanzseite, mit ihrer großen Erzählung und universalem Anspruch. Dieser Widerspruch ist tief verankert in allen Grundlagen der Moderne, in ihren Wissensproduktionen und Gesellschaftsformen (Gesellschaftsvertrag), einschließlich ihrer Kunst und Kultur. Die Gleichzeitigkeit von Kolonialität und Moderne, von Aufklärung und der flächendeckenden Installation von Geschlechterhierarchien bspw. gehörte von Anfang an zum europäischen Wertesystem. Es handelt sich insofern keineswegs um neutrale Werte und Normen, sondern vielmehr um in Gewalt und Exklusion implizierte Konzepte. Die zunehmende Beteiligung von den „Anderen“ der Moderne, in gegenwärtigen, gesellschaftlichen Feldern der Wissenschaft, Politik und Kultur, macht die Widersprüche in der modernen Grundlage unserer Ungleichheitsstruktur immer offensichtlicher. Die Auseinandersetzung mit diesem Widerspruch führt zu dem Ruf nach einer diskriminierungskritischen Betrachtung des Zusammenhangs von Bildung, Kultur, Kindheit und Pluralität. Bildungsbezogene Verfahren, Konzepte, Inhalte und Medien müssen daran orientiert werden, die „Violences of Modernity“, die Exklusionen und Hierarchien mittels Kolonialität und geschlechtlichem Ordnen tradiert zu reflektieren, zu unterbrechen, auf jeden Fall nicht zu reproduzieren. Es gilt insofern, den „Western Code“ der Kulturellen Bildung offenzulegen, zu irritieren und zu durchbrechen.
Das erste Spannungsfeld:
Eines der privilegiertesten Kinder der (gegenwärtigen) Welt, Prinz George von Cambridge, wurde am 23. Juli 2013 geboren. Ich war sehr erstaunt zu lesen, dass sein Vater Prinz William das erste Kinderzimmer seines Sohns ausgerechnet im „afrikanischen Stil“ einrichten wollte, in seiner Bezeichnung als „african-themed nursery“ (CNN 2013). Dazu Prinz William im Interview mit dem Nachrichtensender CNN: „I’ll have toy elephants and rhinos around the room. We’ll cover it in sort of, you know, lots of bushes and things like that. Make him grow up as if he’s in the bush.“ (Ebd.)
Zehn Jahre zuvor, bereits zum bedeutenden 21. Geburtstag (2003), hatte Prinz William sich auch schon für eine „African-Themed Party“ im Windsor Castle entschieden (vgl. BBC 2003). Seine Gäste traten in–aus ihrer Sicht–themenbezogenen Kostümen auf. Diese spielten entweder auf den Themenkomplex „Wildheit“ (Kannibalismus, Tarzan, Dschungel, Tiere, Bananen) oder auf Kolonialästhetik (Tropenhelme, Reisekleidung, Insignien kolonialer Herrschaft) an. Der Windsor Castle wurde passend zum diesem Anlass mit Attrappen von Elefanten ausstaffiert (Bennett 2013). In mehreren Interviews äußerte sich Prinz William zu seinen Entschlüssen. Er betonte dabei stets, es gehe ihm darum, seinem Sohn die eigene Faszination für den afrikanischen Kontinent früh zu vermitteln. Zu problematisieren sind aus meiner Sicht folgende Aspekte: Ein komplexer Lebensraum, der zweitgrößte Kontinent unseres Planeten, wird kodiert als „Busch“, auf seine Natur reduziert. Die Symbolsysteme dieses geopolitischen Orts werden nicht zum Ausgangspunkt der Betrachtung bestimmt oder gar einbezogen. Die hier angelegte Linse ist fest verankert in der kolonialen Matrix der (globalen) Machtrelationen. Der Zugang Prinz Williams zum afrikanischen Kontinent hebt zudem nur einen sehr begrenzten Teil der Natur hervor. Diesen idealisiert er als „unberührt“. Es scheint mir hier treffender, von einer Fetischisierung als von einer Idealisierung zu sprechen, um den gewaltförmigen Zugriff zu fokussieren. Seine häufig angewendete sprachliche Charakterisierung dieser Natur als „A* Busch“ blendet ihre komplexe Einbettung aus. Seine Sprachhandlung ordnet kolonial. Die Natur des afrikanischen Kontinents erscheint nicht als alltägliches Ökosystem, sondern als mystischer, prämoderner Ort, archaisch, in einer präkulturellen Zeit festgefroren. Die Kultur dieses pluralen geopolitischen Raums wird in dieser Fixierung de-thematisiert. Die Gesellschaftsformen, Geschichtlichkeit, inklusive der kolonialen Geschichte des afrikanischen Kontinents, existieren offenbar nicht in dem Erziehungsprogramm Prinz Williams, ebenso wenig in seinen „Cultural Politics“ oder in seiner Feierkultur.
Zugleich aber scheint der afrikanische Kontinent für die Konstruktion seiner weißen (royalen) Identität, für die Gestaltung des dominanzkulturellen Selbst, eine zentrale Rolle zu spielen. Diese Referenz scheint auch noch in gegenwärtigen pluralen Demokratien der Gegenwart zu funktionieren und nicht nur für die Konstruktion weißer imperialer Identitäten der vergangenen Kolonialzeit Gültigkeit zu besitzen. Entscheidende Lebensereignisse werden mit Zugriff auf rassistisch markierte, kolonisierte Menschen und ihren Lebenszusammenhängen als Referenz gestaltet. Europa und europäische Normen und Werte sind insofern aus meiner Sicht ohne ihre grundlegende Verbindung zu Kolonialität nicht verstehbar. Prinz Williams kolonialgeprägte Erziehungsideen und ästhetische Ideen verdeutlichen eine Dynamik, die ich als „Dominanz von Anfang an!“ oder „Kolonialität von Anfang an!“ bezeichnen möchte. (Gesellschaftskritische Um-Formulierungen zu „Bildung von Anfang an“: „Soziale Ungleichheit von Anfang an“, „Bildungsungleichheit von Anfang an“, „Differenz von Anfang an“.) Seine kulturellen (Bildungs-)Praxen normalisieren entscheidend die Ausbeutungskultur von Kolonialität. Die Kostüme seiner Gäste reproduzieren kulturrassistische Ästhetiken und Wissensstände und zeitigen kulturrassistische Hierarchien. Gesellschaftliche Teilungsprinzipien, soziale Hierarchien und Bewertungsmuster sind Bestandteil von (europäischen) Normen und Werten. Sie sind bereits ab frühster Kindheit wirksam. Die Kulturalisierungfalle bedeutet hier, dass die Kulturtechniken von rassistisch markierten Menschen und Gesellschaften entweder gewaltvoll ausradiert oder lediglich als „putzige“, nicht ernst zu nehmende Folklore banalisiert aufgerufen und instrumentalisiert werden. Dominanzkulturelle Repräsentationsmuster polarisieren insofern systematisch Natur vs. Kultur bzw. Folklore vs. Hochkultur.
Das zweite Spannungsfeld:
Der weiße niederländische Kinderbuchautor Dolf Verroen thematisiert in seinem 2005 im Peter Hammer Verlag erschienenen Kinderbuch „Wie schön weiß ich bin“ die Geschichte der Kolonisierung Surinams durch die Niederlande und v.a. die damit einhergehende Versklavung der Gesellschaften Surinams. Diese fiktive Erzählung wird in Form von Tagebucheinträgen der Hauptprotagonistin Maria, ein weißes, zwölfjähriges Mädchen, geschildert. Die Erzählung beginnt mit Marias zwölftem Geburtstag. Maria wird zum ersten Mal als Erwachsene behandelt. Sie bekommt eine Perlenkette, eine Handtasche, eine Peitsche und ein Schwarzes Kind „geschenkt“: „Zum Geburtstag bekommt Maria viele schöne Geschenke. Das schönste ist ein kleiner S*.“ (Verroen 2005)
Das Cover des Kinderbuchs besteht aus einem ganzseitigen Bild des Seitenprofils des Gesichts eines weißen (rosafarbenen) Mädchens. In ihrer Haarschleife ist der Name des Autors eingeschrieben, darunter über ihr gesamtes Gesicht gezogen die Aufschrift „Wie schön weiß ich bin“ in schwarzen Buchstaben. Die Pupille ihres Auges bildet–im ähnlichen Stil des abgebildeten Mädchenkopfs–das Profil eines Schwarzen Kinds mit weißer (geisterhaft wirkender) Pupille. Diese kleine Schwarze Figur ist das versklavte Kind, das Koko genannt wird. Koko wird von Maria in der weiteren Erzählung misshandelt, und nachdem sie sich mit ihm zu langweilen beginnt, schließlich verkauft. Er wird gegen eine ältere ebenfalls versklavte, weibliche Schwarze junge Frau, genannt Ula, ausgetauscht. In insgesamt 40 Kurzkapiteln schildert Maria den Alltag aus der Sicht der weißen Sklavenhalter. Zu ihrem Alltag gehört eine versklavte junge Schwarze Frau, die von Marias Mutter derart gewalttätig mit einem Gegenstand (ihrem hochhackigen Schuh) aus Eifersucht geschlagen wird, dass sie seitdem eine große Narbe im Gesicht trägt. Maria bezeichnet diese junge Frau daraufhin in der restlichen Geschichte nur noch als „die Narbe“. Marias Schilderungen sind beiläufige Berichte ohne jegliche kritische Stellungnahme, in ihrer detaillierten Grausamkeit–einschließlich sich selbst gegenüber, atemberaubend. Zwei Stränge der geschilderten Gesellschaftsordnung laufen etwa gleichstark nebeneinander in dieser Kindererzählung. Die erste ist die weiße Ordnung der Sklavenhalter, ihre rassistischen Grenzziehungen, Abwertungen und extremen Gewalttätigkeiten Schwarzen Menschen, einschließlich Kindern gegenüber. Der zweite Strang ist die sexualausbeuterische, grenzverletzende Ordnung einer weißen, bürgerlichen Männergesellschaft. Eine normalisierte und nicht kritisierte Schilderung des Zusammenhangs von Sexualität, Herrschaft bzw. Ohnmacht bildet die zweite Grundlage der Erzählung. Die weißen Männer dieser Gesellschaft üben extreme, sexualisierte Gewalthandlungen aus, die sie von sich selbst entfremden. Die erwachsenen weißen Frauen dieser Gesellschaft werden dadurch entmachtet, fixiert und zu schweigenden, manipulativen, Mittäterinnen gemacht. Die weißen Kinder dieser Gesellschaft werden dazu gezwungen, Zeug*innen dieser extremen Übergriffe und Grausamkeiten zu werden. Zugleich werden sie an diese Ordnungen als integraler Bestandteil ihrer Erziehung, ihrer Einführung in die hohe Kultur und als kulturelle Praxis des Coming of Age gewöhnt.
Dieses Buch wurde im Jahr 2006 mit dem „Deutschen Jugendliteraturpreis“ und mit dem „Gustav-Heinemann-Friedenspreis für Kinder- und Jugendliteratur“ ausgezeichnet. Unter der Perspektive einer Reproduktion von „Violences of Modernity“ und des Western Codes ist diese Entscheidung zu problematisieren. Für eine junge weiße Leserschaft ist die unkommentierte, nicht kontextualisierte Lektüre dieses Buchs aus meiner Sicht nicht zumutbar. Die Normalisierung von sexualisierter Gewalt, der Zusammenhang von Sexualität und Ohnmacht, erzählt mit den Worten einer Zwölfjährigen, ist im höchsten Maße problematisch. Für eine plurale Leserschaft, v.a. mit rassismuserfahrenen Bildungsteilnehmer*innen im Blick, stellt die Lektüre dieses Buchs aus meiner Sicht eine beschämende, demütigende, entmachtende Erfahrung dar. Vor allem im Nachwort des Verfassers wird deutlich, dass die historische Realität der Versklavung ausschließlich aus einer weißen, westzentrischen Perspektive erzählt wird. Abgrenzungen der weißen rassistisch verfassten Gesellschaft werden durch den Autor im Nachwort mit den abgrenzenden Reaktionen der Schwarzen Nachfahren* von Überlebenden* der Versklavung ihm gegenüber gleichgesetzt. Die Kinderbuchautorin Heike Brandt, selbst Preisträgerin des „Gustav-Heinemann-Friedenspreis für Kinder- und Jugendliteratur“ (1992), formuliert eine scharfe Kritik an der Auszeichnung dieses Kinderbuchs und der Empfehlung als wertvolle Jugendliteratur (vgl. Wolters 2006). In einer Antwort auf diese Kritik verteidigt ein Jury-Mitglied die Auszeichnung mit dem Verweis, dass der Friedenspreis drei Werte, nämlich „Friedfertigkeit, Toleranz und Zivilcourage“, prämieren soll. Heike Brandt (zitiert in Wolters 2006: 7) konkretisiert ihre Kritik daraufhin wie folgt: „Dolf Verroen macht im Nachwort nichts anderes als die Maria in seinem Text: Er nimmt lediglich seine eigenen Gefühle, seine Verwirrtheit, seine Unsicherheit, seine Vorurteile zur Kenntnis–und zwar ohne irgendetwas davon in einen Kontext zu setzen oder kritisch zu hinterfragen.“
Dehumanisierende, extrem abwertende Bezeichnungen für Schwarze Protagonist*innen sind die Norm in dieser Kindererzählung. Die Bildästhetik schließt an sensationsheischende kolonialgeprägte Blickverhältnisse an. Zu kritisieren ist auch, dass die weibliche Protagonistin als symbolische Figur (ohne Stellungnahme im Nachwort) als grausames Kind normalisiert wird. Aus der Perspektive der generationalen Ordnung handelt es sich hier um eine Technik, die Kinder für Erwachseneninteressen instrumentalisiert und damit symbolisch entmachtet.
Das dritte Spannungsfeld:
Als Kontextmaterial möchte ich ein letztes Spannungsfeld aufzeichnen. Dieses befasst sich mit der fehlenden Diversitätsorientierung von gesellschaftskritischer, progressiver, emanzipatorischer Kinder- und Jugendliteratur. Am Beispiel vom Bestsellern der Kinder- und Jugendliteratur, den „Pippi-Langstrumpf“-Erzählungen, drängt sich beim tieferen Blick die Frage auf, ob die Figur Pippi Langstrumpf als emanzipatives Modell nur für weiße Kinder funktioniert? Für rassistisch markierte Kinder, für Schwarze Kinder und Kinder of Color gibt es kaum Figuren, Handlungsmodelle und Möglichkeiten, sich als selbstwirksame, gesellschaftliche Handlungssubjekte in den beiden Erzählweiten vorzufinden und zu erfahren.
Pippi Langstrumpf ist die Hauptfigur der Kindererzählungen in drei Bänden von Astrid Lindgren. (Der Entwurf der Erzählung wird auf 1941 datiert. Am 1. September 1945 erschien die schwedische Erstausgabe des ersten Bands „Pippi Langstrumpf“. Entworfen mitten im Zweiten Weltkrieg und erschienen am Ende davon, verkörpert Pippi Langstrumpf in Teilen den Zeitgeist der Mittvierziger Kriegsjahre. Es werden aber nicht die naheliegenden Themen des Alltags zu Kriegszeiten thematisiert, sondern die Ferne, die paradiesische Flucht, eher eskapistische Themen – insofern samt imperiale Größenfantasien.) In Deutschland kam der erste Band von „Pippi Langstrumpf“ 1949 in die Buchhandlungen – übersetzt von Cäcilie Heinig. 1950 folgte „Pippi Langstrumpf geht an Bord“ und 1951 erschien „Pippi in Taka-Tuka-Land“. Die Pippi Langstrumpf-Erzählungen wurden in über 70 Sprachen übersetzt und erreichten 1987 bereits eine Weltauflage von 40 Millionen.
Astrid Lindgren gilt daher als eine der einflussreichsten Kinderbuchautor*innen des 20. Jahrhunderts. Sie ist Friedenspreisträgerin des Deutschen Buchhandels, hat sich für die Rechte von Kindern eingesetzt und sich mit dem Buch „Kati in Amerika“ 1950 gegen das System der Rassendiskriminierung in den USA gewandt. Pippi Langstrumpfs Lebenswelt galt als eine besonders erfolgreiche Ikonisierung einer feministisch-anarchistischen, selbstbestimmten, kinderemanzipierenden „Punk-Culture“-Perspektive. Pippi Langstrumpf wurde damit zu einer Art Kultfigur, zur Galionsfigur als emanzipatives Modell für Kinder, insbesondere für Mädchen. Die Hauptprotagonistin dieser Erzählung Pippi ist neun Jahre alt. Sie wohnt ohne ihre Eltern (ihre Mutter ist verstorben, der Vater ist auf See verschollen) mit zwei ungewöhnlichen Haustieren (einem Affen und einem Pferd) in ihrem eigenen Haus, in der „Villa Kunterbunt“. Sie gilt als das stärkste Mädchen der Welt. Mit ihren Freund*innen Annika und Thomas erlebt sie zahlreiche Abenteuer sowie alltägliche Auseinandersetzungen mit erwachsenen Funktionsträger*innen, Ordnungskräften*, Fürsorgekräften*, Geschäftsleuten und Nachbar*innen. Sie handelt dabei unkonventionell, ironisch, selbstsicher, rebellisch und lustvoll. Sie setzt sich über die Vorstellungen hinweg, die Autoritäten* davon haben, wie sich Kinder oder Mädchen verhalten sollen. Sie zieht sich eigensinnig an. Ihre Lebensentscheidungen basieren auf ihren eigenen Urteilen und Begründungen. Bei einer kritischen Analyse stellt sich jedoch heraus, dass es sich hierbei um eine recht widersprüchliche und auch ambivalente Figur handelt. Gleichzeitig werden mit den Botschaften der anarchistischen Selbstbestimmung zahlreiche Dominanzbilder aufgerufen. Pippis Erklärungen der sozialen Wirklichkeit und ihres eigenen Verhaltens nehmen Bezug auf Hierarchien, Differenzen und kolonialgeprägte Ordnungen. Folgende Auszüge sollen die imperialen Wissensformen und kolonialgeprägten Dominanzbilder der „Pippi-Langstrumpf“-Erzählungen konkretisieren. Allerdings ist zum Umfang der Fundstellen anzumerken: In der Erzählung sind kolonialgeprägte Repräsentationen die Norm und nicht die Ausnahme. Sie stabilisieren die dominanzkulturelle Erzählung. Bei „Pippi Langstrumpf“ sind sie ein Stilmittel – im Sinne von „Comic Relief“ – der Kontrastierung, absurder Weltdeutungen.
- „Pippi Langstrumpf“, Band I, Hamburg 1986 (Erstauflage 1945)
„[…] Pippi war ganz sicher, dass (ihr Vater) eines Tages zurückkommen würde. Sie glaubte überhaupt nicht, dass er ertrunken sein könnte. Sie glaubte, dass er auf einer Insel an Land geschwemmt worden war, wo viele N**** wohnten, und dass ihr Vater König über alle N**** geworden war und jeden Tag eine goldene Krone auf dem Kopf trug. […] (irgendwann) kommt er und holt mich, und dann werde ich eine N****-Prinzessin. Hei hopp, was wird das für ein Leben!“ (Lindgren 1945/1986: 8)
In Pippis Imaginationen verbindet sich Weißsein mit einem automatischen Führungsanspruch. Sie stellt sich nicht etwa vor, dass ihr Vater, verloren auf See gerettet wird, aufgenommen wird und vielleicht eine sinnvolle Tätigkeit in der aufnehmenden Gesellschaft findet, der der Gemeinschaft dient–ein durchaus realistisches Szenario. Ihre Vorstellung folgt einer imperialen Logik der Westlichen Kodierung. Ihr Vater ist zwar verloren, ahnungslos und in Not, er steigt aber direkt zur alleinigen Führung auf.
„‚[…] lügen ist sehr hässlich‘, sagte Pippi […] ‚aber ich vergesse es hin und wieder, weißt du. Und wie kannst du überhaupt verlangen, dass ein kleines Kind, das eine Mama hat, die ein Engel ist, und einen Papa, der N****-könig ist, und das sein ganzes Leben lang auf dem Meer gesegelt ist, immer die Wahrheit sagen soll? Und übrigens‘, fuhr sie fort, und sie strahlte über ihr ganzes sommersprossiges Gesicht, ‚will ich euch sagen, dass es in Kenia keinen einzigen Menschen gibt, der die Wahrheit sagt. Sie lügen den ganzen Tag. Sie fangen früh um sieben an und hören nicht eher auf, als bis die Sonne untergegangen ist. Wenn es also passieren sollte, dass ich mal lüge, so müsst ihr versuchen, mir zu verzeihen und daran zu denken, dass es nur daran liegt, dass ich zu lange in Kenia war. […] Ich lüge so, dass meine Zunge schwarz wird.‘“ (Ebd.: 16; vgl. auch Bordo 2014)
Hier verfügt das neunjährige weiße Kind über Wissen über (rassistisch markierte) Andere. Es handelt sich hier um „rassistisches Wissen“, welches auf einer Zuschreibung aufbaut, dass rassistisch markierte Andere häufiger lügen als weiße Subjekte.
- „Pippi Langstrumpf geht an Bord“, Band II, Hamburg 1986 (Erstauflage 1950)
„‚Stellt euch mal vor–N*****-prinzessin!‘, sagte Pippi träumerisch. ‚Es gibt nicht viele Kinder, die das werden. Und fein werde ich sein! In allen Ohren werde ich Ringe haben ‚und in der Nase einen noch größeren Ring.‘ ‚Was wirst du sonst noch anhaben?‘, fragte Annika. ‚Nichts weiter‘, sagte Pippi. ‚Nicht eine Spur mehr! Aber ich werde einen eigenen Diener haben, der mir jeden Morgen den ganzen Körper mit Schuhcreme putzt. Damit ich genauso schwarz werde wie die anderen. Ich stell mich jeden Abend zum Putzen raus, zusammen mit den Schuhen.‘“ (Lindgren 1950/1986: 174)
Hier verbinden sich wieder imperiale Bilder mit folkloristisch charakterisierenden. Pippi geht davon aus, dass sie als Weiße in einer Gesellschaft von Menschen of Color eine*n Diener*in haben wird und nicht selbst–als neu Eingeführte–zur Bedienung werden müsste. Sie malt sich ein nach ihren weißen Maßstäben fantasiertes Aussehen, welches die äußere Erscheinung von Menschen of Color als archaisch charakterisiert und banalisiert.
„Bald waren sie an einem kleinen See, und mitten in dem See lag die unbewohnte Insel. […] Wenn es hier nur keine Kannibalen und Löwen gibt! […] Man kann nicht vorsichtig genug sein. Das hätte sich gerade gelohnt, vor dem Ertrinken gerettet zu werden, nur um einem Kannibalen zum Mittagessen vorgesetzt zu werden! Aber es waren keine Kannibalen zu sehen. […] Annika kroch so dicht wie möglich zu Pippi heran. […] Annika zitterte. Wenn ein Kannibale da hinter dem Wacholderbusch stand! Oder wenn sich ein Löwe hinter dem großen Stein versteckt hatte? […] Pippi hatte eine Pistole in Bereitschaft, und hin und wieder feuerte sie einen Schuss ab, so dass das Pferd vor Schreck hohe Bocksprünge machte. ‚Da starb ein Löwe‘, sagte sie befriedigt. Oder: ‚Jetzt hat das letzte Stündlein von diesem Kannibalen geschlagen!‘.“ (Ebd.: 117ff.)
In dieser Szene wird ein Themenkomplex, welcher zu einer zentralen Technik des kolonialen Ordnens gehört, aufgerufen: die sensationsheischende Rede weißer Menschen von „Menschenfressern“. Pippi Langstrumpf verwendet diese Rede, um ihr heldenhaftes, dominanzkulturelles Selbstbild zu bauen. Pippi bändigt die Gefahr im Alleingang.
- „Pippi in Taka-Tuka-Land“, Band III, Hamburg 1986 (Erstauflage 1951)
„Sie wohnten alle in kleinen gemütlichen Hütten zwischen Palmen. Die größte und feinste Hütte gehörte König Efraim. […] eine sehr feine, neugebaute kleine Hütte war für Pippi bestimmt.“ (Ebd. 1951/1986: 99)
Hier wird Weißsein verbunden mit einem unhinterfragten Anspruch auf die besten Ressourcen. Diese Darstellung verstärkt eine imperiale Machtrelation, banalisiert die Entrechtung und Enteignung des Besitzes von rassistisch markierten Menschen und ihren Gesellschaften und zeitigt somit den Western Code.
„Unterdessen näherten sich die kleinen Schwarzen Taka-Tuka-Kinder Pippis Thron. aus irgendeinem unbegreiflichen Grund bildeten sie sich ein, dass weiße Haut viel feiner sei als Schwarze, und deshalb waren sie voller Ehrfurcht, je näher sie an Pippi und Thomas und Annika herankamen. Pippi war ja außerdem Prinzessin. Als sie ganz nah an Pippi herangekommen waren, warfen sie sich alle zu gleicher Zeit vor ihr auf die Knie und senkten die Stirnen auf die Erde. ‚Was seh ich? Spielt ihr hier auch Sachensuchen? Ich spiel mit!‘ Sie legte sich auf die Knie und schnüffelte auf der Erde herum. […] Sie setzte sich wieder auf ihren Thron. [Warum setzt sie sich überhaupt auf einen Thron, und bleibt nicht einfach auf der Erde sitzen? Anm. d. Verf.]. […] Kaum saß sie da, als alle Kinder wieder ihre Köpfe vor ihr auf die Erde senkten. […] ‚Habt ihr was verloren?‘, fragte Pippi. ‚Hier ist es jedenfalls nicht, ihr könnt genauso gut wieder aufstehen.‘“ (Ebd.: 103)
Hier wird die Gewaltwirkung weißer ästhetischer Normen verharmlost. Schwarze Kinder sind von sich aus angeblich von der weißen Haut angetan. Sie finden diese sogar besser (viel feiner) als die eigene, sie glauben an eine Hierarchie–zu ihren Ungunsten. Es handelt sich hierbei um rassistisches Wissen. Es baut auf Themenkomplexe, nach denen Weißsein als etwas „Überlegenes“ und „Gottähnliches“ inszeniert wird. In Pippis Handlungen wird Weißsein als Spiel mit der Ambivalenz von Herrschaft ironisiert und damit die extreme Gewaltförmigkeit weißer, imperialer Praxen trivialisiert. Diese Technik, bizarre Praxen als Normalität von kolonisierten Menschen in Witzen und Anekdoten zu vermitteln, zieht sich durch alle drei Bände: In Kenya lügen alle, in Brasilien laufen alle Leute mit Ei im Haar herum, in Ägypten laufen alle rückwärts, in Südafrika hängen kranke Kinder am Pferdeschwanz von der Deckenlampe, in Argentinien ist es streng verboten, Schularbeiten zu machen, in China wohnt ein Mann unter seinen riesigen Ohren und mault, in Indien kämpft Pippi mit einer Riesenschlange (vgl. ebd. 1945/1986: 15f.; 1950/1986: 117; 1951/1986: 149, 175).
Dieses rassistische Wissen wird als witzig eingerahmt. Es dient zudem dazu, Pippis allwissende Stellung zu untermauern. Sie verfügt über Wissen, dass weder widerlegbar ist noch von einer anderen Person geteilt wird. Sie genießt einmalige Einblicke in die Funktionsweise der globalisierten Welt. Die Figur Pippi neigt ohnehin zu einer eher unsolidarischen Handlungsweise. Sie regelt Dinge für andere, nicht mit ihnen gemeinsam. Sie belehrt andere häufig. Sie handelt am liebsten im Alleingang. Schwarze Menschen kommen fast ausschließlich als stumme und handlungsunfähige, auf Führung angewiesene Figuren vor. Rassistische Begriffe und kolonialgeprägte Dominanzbilder gehören zur Normalität dieser Erzählung. Astrid Lindgren hat sich zu Lebzeiten zudem vehement dagegen gewehrt, die rassistischen Bezeichnungen oder Konstruktionen entfernen oder verändern zu lassen.
Kolonialordnende Repräsentationsmuster als Beispiel der Normalisierung von westlich kodierten, gewaltvollen Verhältnissen
An drei Spannungsfeldern konkretisiert habe ich einen dominanzkritischen Blick auf den Zusammenhang von Kultur, Bildung, Machtrelationen und Kindheit geworfen. Kulturelle Bildung reproduziert in vielen Fällen gesellschaftliche Hierarchien und Dominanzbilder in ihren Konzepten, Methoden, Techniken, Programmen und Praxen – anstatt gesellschaftliche Barrieren und Hierarchien zu befragen und zu verschieben bzw. zu kritisieren. Für diesen Beitrag habe ich die Herstellung sozialer Normen in der Kulturellen Bildung im Teilbereich der Kinder- und Jugendliteratur konkretisiert. Meine Beobachtungen hier generalisiere ich auf die Angebote der Kulturellen Bildung. Es wäre von Teilbereich zu Teilbereich zu prüfen, ob die Zugänge, Methoden, Techniken und Praxen mehr Kritik und weniger Reproduktion von dominanzgesellschaftlichen Einschreibungen ergeben. Kultur ist ein machtgesättigtes Konzept. Es bringt normalisierte gewaltvolle Verhältnisse mit sich. Universal betrachtete kulturelle Werte sind im Endeffekt (gewaltvoll) durchgesetzte Werte. Sie bestehen aus einem kleinen Ausschnitt menschlicher Ausdrucksweisen aus dem Lebens- und Arbeitsmodell einer kleinen einflussreichen Gruppe, die dann universalisiert wurden. Universale Werte sind eigentlich durchgesetzte Werte unter Marginalisierung und Ausschalten von Optionsvielfalt.
Ausblick
Im letzten Teil dieses Artikels möchte ich auf der Grundlage meiner dominanzkritischen Betrachtung einige Überlegungen bzw. Veränderungsmöglichkeiten skizzieren. Rudine Simms Bishop (1990) hat in ihrem gleichstellungsorientierten Artikel „Mirrors, Windows and Sliding Doors“ zur Kinder- und Jugendliteratur in pluralen Gesellschaften festgestellt, dass an plurale Kinder und Jugendliche* gerichtete Angebote, Materialien und Konzepte zwei Funktionen erfüllen müssen. Diese Funktionen bezeichnet sie als Spiegel- und Fensterfunktion. Alle Kinder müssen die Möglichkeit haben, handelnd vorzukommen (Mirror) und ihre eigene Handlungsmacht gespiegelt zu bekommen. Alle Kinder müssen Erfahrungen von Diversifizierung machen können (Windows). Sie müssen erfahren und nachvollziehen können, welche vielfältigen Optionen der Lebensgestaltung und Konfliktbewältigung, Vielfalt von ästhetischen Orientierungen ebenso Vielfalt von Zuneigung, Zugehörigkeit und Begehren vorhanden sind. Dieser Anspruch ist in den dargestellten drei Spannungsfeldern nicht eingelöst, im Gegenteil, dort werden Differenzbotschaften zu Machtbotschaften, zu Hierarchiebotschaften und zu Erziehungsbotschaften. Eine diversitätsorientierte Kulturelle Bildung folgt der Verpflichtung, gesellschaftliche Freiräume für Multiperspektivität und Optionsvielfalt zu initiieren, zu etablieren und sichtbar zu machen. Eine diskriminierungskritische Kulturelle Bildung muss den Zusammenhang von Kultur und Bildung machtkritisch, dominanzkritisch befragen und erfassen. Mit Kunst und Kultur zusammenhängende soziale Hierarchien und Traditionen von Exklusionen müssen problematisiert werden. Die barrierereichen Wege mehrfachdiskriminierter Gruppen müssen samt den damit zusammenhängenden Marginalisierungen thematisiert und sichtbar gemacht werden. Es ist wichtig, Diskriminierungskritik, die Kritik an Ungleichheitsrelationen, bereits in der frühkindlichen Bildungs- und Kulturarbeit als zentrale Ausgangsperspektive zu setzen, weil die Realität gesellschaftlicher Exklusion (Differenz und Dominanz) von Anfang an wirksam ist! Es gilt insofern schließlich, eine nachhaltige Empowerment-Infrastruktur als kritisches Gegengewicht von Anfang an zu etablieren.