Kulturelle Bildung und Schule
„Bildung ist mehr als Schule!“ Der seit 2002 vielzitierte Slogan der „Leipziger Thesen“ (Bundesjugendkuratorium u.a. 2002) sollte bis heute, in Zeiten von Ganztagsschulen und lokalen Bildungslandschaften, allgemeiner Konsens sein. Seither existieren zahlreiche Positionierungen, die eine Stärkung der Kulturellen Bildung an Schulen fordern: Die „Unesco-Road Map zur Kulturellen Bildung“ (2006b), die Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ des Deutschen Bundestages (2007b) und die „Aachener Erklärung“ des Deutschen Städtetags (2007) sind nur einige Beispiele.
Fachlich wie politisch scheint man sich einig zu sein: Angebote der Kulturellen Bildung mit ihren Potentialen für ganzheitliches Lernen, für Kompetenz- und Persönlichkeitsentwicklung mit und in den Künsten, sollte allen jungen Menschen in umfassendem Maße zur Verfügung stehen. Dieses Ziel ist nur durch die vernetzte Zusammenarbeit von Trägern und Einrichtungen der Kulturellen Bildung mit Schulen zu erreichen. Denn die Schule ist der Ort, an dem potentiell alle Kinder und Jugendlichen erreicht werden. Doch wie steht es, über die künstlerischen Schulfächer hinaus, um die Kulturelle Bildung an allgemeinbildenden Schulen?
Best Practice versus Strukturmangel
Ob Zirkuszelte auf dem Schulhof, Matheunterricht im Museum oder Musiktheater im offenen Ganztag – das Praxisfeld „Kulturelle Bildung an Schulen“ hat sich innerhalb der letzten Jahre rasant entwickelt. Der Auf- und Ausbau von Ganztagsschulen infolge des PISA-Schocks veränderte die deutsche Schullandschaft ab 2003 stark und beförderte die Zusammenarbeit von schulischen mit außerschulischen Bildungsträgern mehr denn je. Seither ist bundesweit eine vielfältige Kooperationspraxis von Einrichtungen der Kulturellen Bildung mit Schulen entstanden. Die verschiedenen Kunstsparten und Angebotsformen Kultureller Bildung bieten vielfältige Formate für die Zusammenarbeit mit Ganztagsschulen. Bundesweit beweist die Praxis: Kultur und Schule können sich unter entsprechenden Voraussetzungen sehr gut vernetzen und Kindern und Jugendlichen in gemeinschaftlicher Zusammenarbeit umfassende Gelegenheiten zu Persönlichkeitsentwicklung, zu Kompetenzerwerb und kultureller Teilhabe bieten. Wettbewerbe für Kooperationen zwischen Kultur und Schule wie „MIXED UP“ (BKJ und BMFSFJ) und „Kinder zum Olymp!“ (Kulturstiftung der Länder) zeigen dies Jahr für Jahr eindrucksvoll auf.
Die „Best-practice“-Frage also kann heutzutage als „geklärt“ bezeichnet werden. Bereits seit 2004 beschäftigt sich die Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung (BKJ) im Rahmen ihres Netzwerks „Kultur macht Schule“ intensiv mit der Qualitätsentwicklung und Struktursicherung von Kooperationen. Ihr Ziel ist es, die spezifischen Bildungswerte der Kulturellen Bildung innerhalb des Lernortes Schule aufrecht zu erhalten. So wurden 2006 die „11 Qualitätsbereiche für Kooperationen“ (Kelb 2007:60ff.) generiert und darauf aufbauend das „Qualitätsmanagementinstrument für Kooperationen (QMI)“ (BKJ 2007b).
Ebenso wie die Aktivitäten der BKJ trugen weitere bundesweite Initiativen wie die der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung („Ideen für mehr – ganztägig lernen“) und der Kulturstiftung der Länder („Kinder zum Olymp“ s.o.) maßgeblich zur aktuellen Popularität der Kulturellen Bildung bei. Der „Kooperationsboom“ beschert der Kulturellen Bildung also insgesamt erhöhte Aufmerksamkeit. Und auch in der Politik ist der Bedarf erkannt worden, Kulturelle Bildung an Schulen auszubauen. So sieht beispielsweise die Kultusministerkonferenz „aufgrund der herausragenden Zukunftsbedeutung des Themas den Bedarf, Aktivitäten und Akteure durch geeignete politische Maßnahmen zu flankieren und stärker miteinander zu vernetzen“ (Kultusministerkonferenz 2007:3). Heinz-Jürgen Stolz kritisiert gar die „überbordenden Erwartungen“ der Politik als realitätsfern, „schulbildungsferne Milieus [...] ausgerechnet per Kultureller Bildung erreichen zu wollen“ (Stolz 2011:8).
Trotz wachsendem Bewusstsein für ihre Notwendigkeit ist der Ausbau kultureller Bildungsangebote an Schulen noch lange nicht flächendeckend erfolgt. Bundesweit betrachtet erhalten vor allem von Bildungsbenachteiligung betroffene Kinder und Jugendliche immer noch vergleichsweise wenig Möglichkeiten zur Teilhabe an kulturellen Angeboten (siehe Larissa von Schwanenflügel/ Andreas Walther „Partizipation und Teilhabe“). Diese bleiben vor allem Jugendlichen der Mittelschicht vorbehalten (Fuchs 2011e:177).
Zudem finden Kulturkooperationen häufig unter einschränkenden Bedingungen statt, z.B. im Rahmen zeitlich begrenzter und finanziell schlecht ausgestatteter Projekte, die keine strukturelle Verankerung finden und damit wenig Nachhaltigkeit in ihren Bildungswirkungen erfahren. Dies liegt vor allem an mangelnden Förderstrukturen in Ländern und Kommunen. Die vom Zentrum für Kulturforschung durchgeführte Evaluation der bundesweiten Beiträge zum Wettbewerb „MIXED UP“ aus den Jahren 2005 bis 2010 zeigt deutlich: Ein überproportionaler Anteil der Wettbewerbsbeiträge wurde aus den Ballungsgebieten Berlin und Hamburg sowie aus NRW eingereicht. Zum einen sind dort reichhaltige kulturelle Infrastrukturen vorhanden. Vor allem aber werden in diesen drei Ländern Strategien zur Vernetzung von Partnern in der Kulturellen Bildung konkret vorangetrieben (Keller/Keuchel 2011). „Man könnte aufgrund dieser Beobachtung ableiten, dass politische landesweite Initiativen helfen können, die Bedeutung von kultureller Bildung an Schulen zu stärken“ (a.a.O.:61). Gleichzeitig ergab die Evaluation ein deutliches Defizit eingereichter Kooperationsprojekte aus ländlichen Regionen. Der Strukturaufbau insgesamt und insbesondere in ländlichen Regionen stellt folglich eine der großen zukünftigen Herausforderungen dar.
Von Projekten zu Netzwerken
Ein weiteres Phänomen zeigt der Kooperationswettbewerb „MIXED UP“, den die BKJ seit 2005 auslobt, deutlich auf: Was mit überschaubaren Wettbewerbsbeiträgen, bestehend aus zumeist bilateral und zeitlich begrenzt angelegten Kooperationsprojekten, begann, wuchs mit den Jahren zu einer Bewerberschaft heran, die sich zunehmend durch umfassende Netzwerkstrukturen auszeichnet. Nicht selten beteiligen sich mehrere Schulen und mehrere außerschulische Partner gleichzeitig an Projekten, unterschiedliche KünstlerInnen und PädagogInnen, Vereine und Institutionen der verschiedenen Kunstsparten. So zeigte die Evaluation der Wettbewerbsdaten, dass sogenannte spartenübergreifende Projekte, die verschiedene Kunstdisziplinen thematisieren, am stärksten vertreten sind. Über alle Wettbewerbsjahre hinweg definierte sich fast jedes dritte „MIXED UP Projekt“ (29 %) als spartenübergreifend (Keller/Keuchel 2011:25). Nicht selten erwächst aus einer sparten- und trägerübergreifenden Kooperation ein Netzwerk, das kontinuierlich zusammenarbeitet und die Verzahnung der Angebote innerhalb einer Region bzw. eines Stadtteils befördert. Eine neue Qualität von Verbindlichkeit erhalten Bildungsnetzwerke durch die Verortung in kommunalen Strukturen (siehe Brigitte Schorn „Kulturelle Bildung in kommunalen Gesamtkonzepten“).
Zentrale Strategien für mehr Nachhaltigkeit
Derzeitig scheinen zwei Strategien Bildungskooperationen konzeptionell fortzusetzen und zu erweitern und damit dem Ziel „Mehr kulturelle Teilhabe für alle“ auf nachhaltige Weise näher zu kommen, von zentraler Bedeutung:
Kulturelle Bildung in lokalen Bildungslandschaften fest verankern
Diese Strategie setzt auf eine eher dezentrale Organisation von Bildung und verfolgt die gleichwertige Einbeziehung aller schulischen und außerschulischen Bildungspartner einer Kommune, einer Region oder eines Stadtteils. Dahinter steht die Überzeugung, dass eine Vielfalt von Bildungsgelegenheiten bessere Bedingungen des Aufwachsens für Kinder und Jugendliche schaffen. Es existieren einige gelungene Beispiele, wie Kulturelle Bildung durch gute Vernetzung innerhalb einer lokalen Bildungslandschaft eine gewisse Struktursicherheit erfährt.
Mehr Teilhabe durch kulturelle Schulentwicklung
Seit des „Kooperationsbooms“ erwächst bei den Trägern und Einrichtungen der Kulturellen Bildung auch der Anspruch an den schulischen Partner. Für zahlreiche außerschulische Fachkräfte gilt das erklärte Ziel, an einer Schulreform mitzuwirken und die Bildungswirkungen von Schule und Jugendkulturarbeit unter dem Dach eines „neuen Haus des Lernens“ zusammenzuführen (Becker 2007:77). Für die Gestaltung „neuer Häuser des Lernens“ bietet Kulturelle Bildung vielfältige Möglichkeiten. Die Erfahrungen haben gezeigt, dass Schulen, die sich in allen Bereichen durch eine gewisse Kulturaffinität auszeichnen, gute Voraussetzungen für Kooperationen mit außerschulischen Partnern mitbringen (siehe Tom Braun „Kulturelle Schulentwicklung“).
Betont sei, dass keine der beiden Strategien durch die jeweils andere ersetzbar ist. Im Gegenteil brauchen wir dringend beides: Schulen, die offen sind für ganzheitliche Bildung, für vielfältige Bildungsgelegenheiten, außerschulische Kooperationspartner und dritte Lernorte. Und wir brauchen kommunal verantwortete Bildungslandschaften, die eine systembezogene Vernetzung der Träger und Einrichtungen Kultureller Bildung mit den Orten der formalen Bildung, insbesondere der Schulen und Kindertagesstätten, ermöglichen.
„Von Projekten zu Strukturen“ zu kommen lautet also die zentrale Herausforderung, für dessen Umsetzung vor allem die Politik gefragt ist. Im Allgemeinen gilt: Kulturelle Bildung ist eine Querschnittsaufgabe der Ressorts Jugend(hilfe), Kultur und Schule bzw. Bildung. Und im Besonderen: Auf den relevanten Ebenen Bund, Länder und Kommunen muss dieser Querschnitt im Rahmen von Förderprogrammen, Netzwerken und Kooperationsvorhaben aktiv gestaltet werden.
Mindestens so dynamisch, wie sich Kulturelle Bildung und Schule in den letzten Jahren aufeinander zu bewegt haben, fallen bis heute die Fachdebatten rund um dieses Thema aus. Dabei ist vor allem die fehlende „gleiche Augenhöhe“ der Kooperationspartner vielfach bemängelt worden. Allen Hürden entgegen jedoch steht das Leitziel „kulturelle Teilhabe für alle Kinder und Jugendlichen“. Und dies ist ohne Bildungskooperationen nicht zu erreichen.