Die konvergente Medienwelt – Veränderter Rahmen für den Mediengebrauch
Der Kinofilm „Spider-Man“, der 2002 zum Kassenhit wurde, basiert auf einem Comic von 1962. Zu diesem Comic wurden ab Ende der 1960er Jahre zahlreiche Animationsserien produziert, die weltweit und teilweise sehr erfolgreich vermarktet wurden, so z.B. Mitte der 1990er Jahre die Serie „New Spider-Man“. Ende der 1970er Jahre kam eine Realfilmserie hinzu, die in Form ausgekoppelter Folgen auch fürs Kino zweitverwertet wurde, allerdings ohne großen Erfolg. Den erzielte dann 2002 der erste Spielfilm, der weltweit hohe Einspielquoten verzeichnete und der Figur des Spinnenmenschen zu großer Popularität verhalf. 2004 kam „Spider-Man 2“ auf den Markt, 2007 „Spider-Man 3“ und der vierte Kinofilm lief 2012 an. Zeitgleich mit dem ersten Kinofilm erschienen Soundtrack und Hörspiel und es begann ein umfassendes System crossmedialer Vermarktung. Neben der Weiterverwertung auf dem Konsummarkt, z.B. in Form von Spielfiguren und Postern, existiert mittlerweile eine breite Palette von Medienprodukten: Videos und DVDs, Off- und Online-Computerspiele und Internetseiten mit Foren, Chats und Shops für die Fans. Auf der Homepage www.spider-man-der-film.de stößt man unter der Rubrik Spider-Man-Produkte auf den Lego Movie Maker. Mit ihm kann man eigene Filme mit Lego-Figuren drehen, und zwar im voll ausgestatteten Mini-Filmstudio inklusive Spider-Man-Kulisse, digitaler Videokamera mit USB-Kabel zum direkten Einspielen in den PC. Dort kann der Film dann beliebig weiter bearbeitet und über das Internet verbreitet werden.
Die konvergente Medienwelt integriert crossmediale Vermarktung in einem Vernetzungssystem
Das Beispiel „Spider-Man“ veranschaulicht zweierlei:
1. Crossmediale Vermarktung erfolgreicher Medienproduktionen oder beliebter Medienfiguren ist kein neues Phänomen. Die mediale Mehrfachvermarktung und die Verzahnung von Medien- und Konsummarkt existieren schon recht lange und in variantenreichen Ausprägungen. So werden beliebte Kinderfernsehstars wie „die Maus“ schon lange umfassend vermarktet, über mediale und sächliche Produkte gleichermaßen. Neben DVDs, Büchern und Computerspielen findet man Maus, Elefant und Ente als Stofftiere, auf Nachtlichtern, Trinkbechern, T-Shirts und Kinderautositzen. So bleibt die Maus nicht nur ein Fernsehstar, sondern sie wird in allerlei medialen und sächlichen Variationen zum Rundumbegleiter von Kindern. Crossmediale Vermarktung und Verknüpfung mit dem Konsummarkt sind aus der heutigen Medienwelt nicht mehr weg zu denken.
2. Die konvergente Medienwelt integriert diese Strategien; jedoch haben Digitalisierung und multifunktionale Endgeräte wie der PC neue Impulse gegeben und die Verweis- und Vernetzungssysteme erweitert. Die konvergente Medienwelt verzahnt unterschiedliche Medienträger (technische Ebene), Medienangebote (inhaltliche Ebene) und mediale Aktivitäten (Handlungsebene). Über die zentrale Schaltstelle, die multifunktionale und multimediale Struktur des Internets, wird alles „aus einer Hand“ zugänglich gemacht und miteinander vernetzt.
Ein Fan von Spider-Man sieht sich so einer Inhaltsvervielfachung gegenüber und kann zwischen verschiedenen medialen Wegen zu seinem Favoriten wählen: Kino, Fernsehen, DVD und weitere massenmediale Angebote, aber auch Produktionen anderer Fans auf einschlägigen Plattformen, die wie YouTube User-Generated-Content offerieren. Mediale Zusatzangebote wie Informationen über SchauspielerInnen, Produktionshintergründe, News und Events aus dem Spider-Man-Universum u.ä. unterstützen Fantum und Involvement. Inhaltsähnliche Angebote wie Computerspiel, Hörspiel, Roman, Soundtrack usw. erlauben multimediale Beschäftigung mit dem Favoriten. All das kann der Spider-Man-Fan mit eigenen medialen Aktivitäten koppeln, sei es in kommunikativer Ausrichtung, wie sie Foren und Chats ermöglichen, oder sei es in produktiven Formen, wie sie z.B. vom Lego Movie Maker angeregt werden. Deren Ergebnisse können dann via Internet wiederum in die Fangemeinde rückvermittelt und von dieser kommentiert werden.
Die konvergente Medienwelt animiert zu vernetztem Medienhandeln
Die Vernetzung von Rezeption, Interaktion und Produktion impliziert nicht ein bloßes Mehr an medialen Angeboten, sondern die Palette medialer Aktivitäten auf unterschiedlichen Aktivitätsniveaus und mit unterschiedlichen Eigenanteilen führt zu qualitativen Veränderungen des Medienerlebens und -handelns. Die konvergente Medienwelt mit ihren materiellen Strukturen, ihren inhaltlichen Angeboten aus globalen massenmedialen und privaten Quellen, ihren miteinander verknüpften Optionen für Rezeption, Kommunikation und Interaktion sowie ihren medialen Artikulations-, Präsentations- und Distributionsmöglichkeiten konturiert heute den Rahmen für Medienaneignung, also für das Handeln der Menschen mit und in Medien. Die zentralen Implikate von Medienaneignung, nämlich die selektiven mentalen, kommunikativen und eigentätigen Akte der Realisierung der Angebote und Tätigkeitsoptionen der Medienwelt, deren Interpretation im Kontext persönlicher und sozialer Lebensbedingungen sowie deren subjektiv variierende und variierte Integration in die eigenen Lebensvollzüge, beziehen sich in der konvergenten Medienwelt nicht mehr nur auf Einzelmedien. Sie integrieren vielmehr die Vernetzungsstrukturen zwischen Einzelmedien auf technischer und inhaltlicher Ebene sowie zwischen inhaltlichen Angeboten und Kommunikationsräumen und medialen Produktionswerkzeugen und Veröffentlichungsflächen.
Für die Nutzerseite bedeuten gerade die Vernetzungsstrukturen der konvergenten Medienwelt eine Ausweitung ihrer medialen Handlungsmöglichkeiten. Nach dem derzeitigen Kenntnisstand werden diese Handlungsmöglichkeiten ab der zweiten Hälfte der Kindheit, wenn die Strukturen des Internets allmählich selbständig zugänglich werden, zunehmend interessant, und mit dem beginnenden Jugendalter werden sie in wachsender Breite und Komplexität ausgeschöpft (siehe Kathrin Demmler/Ulrike Wagner „Mediensozialisation und kulturelles Lernen“). Zuwendung erfahren vor allem die kommunikativen und in deren Kontext auch die produktiven Mitmachangebote des Social Web.
Vernetztes Medienhandeln birgt Problemlagen und Potentiale
Die erweiterten medialen Handlungsmöglichkeiten bergen auf der einen Seite Unterstützungspotential für ein souveränes Leben in unserer zunehmend mediatisierten Gesellschaft. Auf der anderen Seite können daraus Problemlagen erwachsen, die nicht auf den Umgang mit Medien und auf den Einzelnen beschränkt bleiben. Zwei Stichpunkte mögen beide Richtungen illustrieren:
1. Gebündelte mediale Orientierungsofferten können einseitige Denk- und Handlungsmuster begünstigen
Medien sind – für Heranwachsende ist das gut belegt – zentrale Orientierungsquellen, sei es für Äußerlichkeiten, Alltags- und Problembewältigung, Weltverständnis und Menschenbilder oder für die Ausformung von Lebensperspektiven. Im Wechselspiel mit den Vorgaben der eigenen sozialen Umwelt werden mediale Orientierungsofferten vorrangig verstärkend wirksam, und zwar primär dann, wenn sie sich in das eigene Lebenskonzept einfügen oder tragfähiger erscheinen als reale Vorbilder. Die Strukturen der konvergenten Medienwelt setzen hier neue Akzente: Die medialen Orientierungsofferten werden gebündelt und in unterschiedlichen Kontexten werden so identische Botschaften ausgesendet: Im Fernsehen werden Supermodels gesucht, in Zeitschriften ohne Ende Diäten angepriesen, im Internet wird auf pro-ana-Seiten „Hungern als Lebensgefühl“ abgefeiert usw. Über die Vernetzungsstrukturen kann man sich einspinnen in die penetrante Propagierung eines Ideals, das Schlanksein mit Wohlbefinden, Anerkennung und Erfolg koppelt. Die Möglichkeit eigener Artikulation und Präsentation mit medialen Mitteln klinkt sich hier verstärkend ein. Social Communitys sind für viele junge Menschen mittlerweile zentrale Orte, um sich ihrer Lebenskonzepte zu versichern und an ihrer Identität zu arbeiten, indem sie das mediale Auftreten von anderen studieren, sich mit realen und virtuellen Bekannten austauschen oder Rückmeldungen auf die eigene mediale Darstellung erhalten (siehe Franz Josef Röll „Medienkommunikation und Web 2.0“). Die Perspektive der (vermeintlich) eigenen Generation hat dabei hohen Stellenwert. Da Teile des sozialen Lebens heute in medialen Räumen stattfinden, ist davon auszugehen, dass die hier als tauglich erachteten Orientierungen an Gewicht gewinnen.
Ob das dem Einzelnen zum Guten oder zum Schlechten gereicht, ist nicht ausgemacht. Fest steht jedoch, dass es in der konvergenten Medienwelt ein Leichtes ist, sich in der Rezeption von Unterhaltung und informativen Angeboten, in der Interaktion mit Gleichgesinnten und in der eigenen medialen Artikulation auf eine einseitige Perspektive zu konzentrieren und diese fortwährend bestätigen zu lassen. Medien fungieren heute nicht mehr nur als Materiallieferanten für mentale Prozesse, sie sind zugleich Erfahrungs- und Handlungsräume. So können die Vernetzungsstrukturen der konvergenten Medienwelt die Verstrickung in einseitige Denk- und Handlungswelten begünstigen.
2. Medienbasierte Partizipation kann souveräne Lebensführung unterstützen
Medien sind integrierter Bestandteil gesellschaftlicher Realität und ein kompetenter Umgang mit den jeweils aktuellen medialen Gegebenheiten markiert einen Teil sozialer Handlungsfähigkeit. Die mediale Konnotation von Partizipation hat in der Medienpädagogik seit den 1970er Jahren Tradition; eine der zentralen Methoden medienpädagogischer Praxis, die aktive Medienarbeit, ist darin verwurzelt. Die Strukturen der konvergenten Medienwelt und insbesondere die von ihr vorgehaltenen Aktivitätsoptionen geben neue und erweiterte Impulse für medienbasierte Partizipation: Zahllose Zugänge zu Information und Wissensbeständen, globale Interaktionsmöglichkeiten, mediale Werkzeuge zur Artikulation und Selbstinszenierung, Distributionswege und Veröffentlichungsflächen – all das ist im Prinzip jedem Menschen zugänglich und kann potenziell für Teilhabe am sozialen und gesellschaftlichen Leben nutzbar gemacht werden. Die Optionen des MitmachInternets aktivieren allerdings nicht per se und nicht allein partizipatives Handeln. So tummelt sich zwar die Mehrheit der jungen Generation ausgiebig im Social Web, doch nur ein kleiner Teil realisiert (bisher) die Möglichkeiten für Partizipation im Sinne von sozial verantwortlicher Selbstbestimmung. Bildungsstand, Aktivitätslevel im Medienhandeln und vor allem Interesse und Engagement für soziale, zivilgesellschaftliche und politische Kontexte sind offenbar die entscheidenden Moderationsfaktoren. Und dennoch bieten die partizipationsorientierten Optionen der konvergenten Medienwelt Ansatzpunkte und Anreize, um den partizipativen Handlungshorizont der Subjekte zu erweitern. So realisieren Heranwachsende in ihren Community-Aktivitäten z.B. Mitwirkung, wenn sie sich durch Meinungsäußerung oder Darstellung eigener Perspektiven in bestehende Gruppen oder Foren aktiv einbringen. Ein weiterer Schritt zur Realisierung partizipativen Handelns mit einem größeren Maß an Selbstbestimmung ist getan, wenn Heranwachsende selbst mediale Strukturen und Räume ausgestalten oder initiieren, um für ihre Belange einzutreten.
Souveränität in der mediatisierten Gesellschaft benötigt Medienkompetenz
Seit es sie gibt gestalten Medien die kommunikativen Strukturen öffentlichen, sozialen und individuellen Lebens mit. Durch die konvergente Medienwelt hat sich dieser Zusammenhang intensiviert. Insbesondere die breite Verfügbarkeit medialer Artikulationsmittel und Veröffentlichungsflächen verzahnt mediale Räume mit realen Lebensbereichen. Mediale Gegebenheiten und Aktivitäten werden immer selbstverständlicher ins soziale und öffentliche Leben integriert durch subjektives und gesellschaftliches Handeln. In den so vorangetriebenen Mediatisierungsprozessen verschränken sich mediale Gegebenheiten, soziale Handlungspraktiken und kulturelle Sinnkonstitution. Durch ihre Aktivitäten in den vernetzten Strukturen der konvergenten Medienwelt gestaltet insbesondere die junge Generation Mediatisierungsprozesse auch aktiv mit.
Die bisherige Kenntnislage verweist allerdings auf Ungleichverteilung sowohl was das Ausschöpfen der Potentiale für medienbasierte Partizipation angeht als auch hinsichtlich der Risiken und Problemlagen, die die konvergente Medienwelt birgt. Eine zentrale Trennlinie wird durch das Bildungsniveau markiert. Je höher dieses ist, desto größer ist die Chance, sich die Potentiale der konvergenten Medienwelt zunutze zu machen, die Partizipation und souveräne Lebensführung unterstützen können und desto geringer ist die Gefahr für einen (dauerhaft) riskanten Mediengebrauch. Gegen diese Ungleichverteilung anzugehen markiert eine wesentliche Anforderung an die heutige Gesellschaft und speziell an das Bildungssystem. Medienkompetenz im Sinne eines selbstbestimmten, kritisch-reflexiven und eigentätigen Umgangs mit den jeweils aktuellen medialen Gegebenheiten ist eine Schlüsselkompetenz, die für ein souveränes Leben in der mediatisierten Gesellschaft zunehmend mehr Gewicht erhält. Denn mediale Wege der Wissens- und Informationsaneignung, der Kommunikation und der eigenen Positionierung und Artikulation werden bedeutsamer und mehr und mehr selbstverständlicher Bestandteil sozialen und gesellschaftlichen Handelns. Die Optionen der konvergenten Medienwelt erweitern das Medienhandeln der Subjekte. Gleichzeitig erhöhen sie die soziale Verantwortung all derjenigen, die sich die Artikulations- und Veröffentlichungsmöglichkeiten zunutze machen. Medienkompetenz und mit ihr die Anforderungen an Maßnahmen zu ihrer Förderung werden dadurch komplexer.