Spiel und Bildung

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von Ulrich Baer

Erscheinungsjahr: 2013/2012

Hier soll geklärt werden, was Spiel ist, in welchen Formen und mit welchen Funktionen es in unserer gegenwärtigen Gesellschaft vorkommt und welche vielfältigen Beiträge Spiel als pädagogische Methode zur Kulturellen Bildung leisten kann (siehe Ursula Stenger „Spiel als anthropologische Konstante“).

Begriffsbestimmung „Spiel“

Sven spielt mit einfachen glatten Holzbausteinen, die für ihn mal ein Auto, mal ein Haus, mal eine Garage sind. Gerade so wie er es braucht für sein Spiel. Sein Spiel – jedes Spiel – ist eine eigene erfundene Welt, mit bestimmten Regeln, Personen und Handlungen. Dabei ist es egal, ob es sich um ein Brettspiel, ein Rollenspiel, ein Computerspiel oder das Spiel mit Puppen und Bauklötzen handelt. Spiel ist „so tun als ob“. Im Spiel wird eine eigene Wirklichkeit in den Gedanken und Handlungen der Spielenden konstruiert. Und annehmen, sich ausdenken kann man alles bis zu den Grenzen der Fantasie. Das Spiel ist der große Freiraum zum Experimentieren, zum Erproben, zum Ausleben, zum Erholen von den Begrenzungen der alltäglichen Realität. Im Spiel kann man schalten und walten wie man will mit den fiktiven Symbolen aus der Realität. Es ist dieselbe Freiheit zur Fiktion, die auch die künstlerische Produktion kennt.

„Der Form nach betrachtet, kann man das Spiel also zusammenfassend eine freie Handlung nennen, die als ‚nicht so gemeint’ und außerhalb des gewöhnlichen Lebens stehend empfun­den wird und trotzdem den Spieler völlig in Beschlag nehmen kann, an die kein materielles Interesse geknüpft ist und mit der kein Nutzen erworben wird, die sich innerhalb einer eigens bestimmten Zeit und eines eigens bestimmten Raums vollzieht, die nach bestimmten Regeln ordnungsgemäß verläuft und Gemeinschaftsverbände ins Leben ruft, die sich ihrerseits gern mit einem Geheimnis umgeben oder durch Verkleidung als anderes als die gewöhnliche Welt herausheben“ (Huizinga 1954).

Wie sieht diese Spielwelt aus? Sie ist meistens angereichert mit Materialien oder Symbolen aus der realen Umwelt: Spielzeugautos und Puppen, Material zum Bauen und Experimentieren. Dabei benutzen Kinder die vorgefertigten Spielzeuge oder verwenden Alltagsgegenstände und Materialien in ihrem eigenen Sinne. Sie selbst spielen oft auch in dieser ausgedachten Welt mit – in vielen Fällen kopieren sie dabei Aktivitäten und Rollen von Erwachsenen. Im Spiel bilden Kinder symbolisch und vereinfacht einen Ausschnitt aus dem komplizierten Erwach­senenleben nach. Worum geht es in diesen Spielwelten? Kinder spielen, um sich das Leben handhabbar zu machen, um die vielen tagtäglichen neuen Eindrücke zu verarbeiten, um sich das Leben durch Wiederholung mit eigenen Mitteln zu eigen zu machen. „Zu eigen machen“ heißt: es selbst zu beherrschen und nicht von fremden und unbegriffenen Mächten beherrscht zu werden. Spiel ist für Kinder ein Hilfsmittel auf dem langen Weg in ein selbständiges Leben, also ein richtiges „Lebens-­Mittel“.

Im Spiel geht es immer um die Bewältigung von (oft selbst gesetzten oder von Erwachsenen abgeschauten) Aufgaben – und zwar auf einem mittleren Spannungsniveau, d.h.: Die Probleme und Aufgaben im Spiel werden gelöst und bewältigt, das Ziel wird erreicht, aber es bleibt das Risiko des Scheiterns – genau das macht jedes Handeln im Spiel so spannend, interessant und lustvoll. Diese Dynamik ist ein weiteres wichtiges Kennzeichen (neben der erwähnten Als­-ob-­Realität) des Spiels: Erscheinen die zu bewältigenden Aufgaben zu leicht, verliert das Spiel an Spannung und wird als langweilig bezeichnet. An-­ und Entspannung wechseln durch Herausforderung und Bewältigung, durch eigene Aktivität, durch die Eigendynamik des Spiels und durch die Konfrontation mit der Umwelt (dem Spielmaterial, den Mitspielenden, der Natur).

Schauen wir uns noch weitere Merkmale an: Spielen ist eine zumeist freiwillige Handlung – vielfach ohne ein vorzeigbares Ergebnis: nicht ein Produkt ist das Ziel, sondern die Aktivi­tät, der Ablauf selbst verschafft Befriedigung und wird deshalb auch gerne oft wiederholt und geübt, solange, bis die Bewältigung der Aufgaben zu leicht fällt und keine spannende Herausforderung mehr darstellt. Das Spiel macht Spaß, es wird von angenehmen Gefühlen begleitet oder ruft sie hervor. Es beansprucht den ganzen Menschen, seine geistigen und körperlichen Fähigkeiten und seine Gefühle. Beim Zusammenspiel mit anderen kommt es grundlegend auf die sozialen Fähigkeiten zur Kooperation und auf die besondere Fähigkeit zu einer gemeinsamen Fantasie bei allen Mitspielenden an. Im Einzelspiel kann sich jeder ausdenken, was er will, aber beim Zusammenspiel in der Gruppe wird eine hochkomplexe Kommunikations­- und Interaktionsfähigkeit benötigt.

Der Reiz des Spiels

Jürgen Fritz erklärt in seiner Spieltheorie-­Veröffentlichung „Das Spiel verstehen“ (Fritz 2004), was den Reiz des Spiels für Menschen aller Altersgruppen ausmacht, und unterscheidet elf Reizquellen: Wettkampf, Wagnis, vom Zufall bestimmt werden, Spaß/Überraschung, Rausch, Entspannung, Sammelleidenschaft, sich in andere verwandeln, ästhetischer Genuss, künst­lerische Gestaltung, Problemlösung. Mit diesen Reizquellen kennzeichnet Fritz zugleich die Erlebniskategorien des Spiels, wobei mir noch ein wichtiges Element fehlt, nämlich das Erlebnis von Gemeinsamkeit, Interaktion – das Zusammenspiel.

Diese Reize wirken in den unterschiedlichen Spielformen (z.B. Theaterspiel, Kindergrup­penspiel, Computerspiel, Spielaktion) in verschiedener Zusammensetzung und beschrei­ben die Antriebs-­ und Auslöserkombinationen. Damit lässt sich die subjektive, psychische Funktion des Spiels analysieren. Das ist in Bezug auf die Klärung spielerischer Elemente in der künstlerischen Arbeit durchaus bedeutend. Wenn es in der Kulturellen Bildung um die Förderung spielerisch-experimenteller Produktionsweisen geht, ist die bewusste Beeinflus­sung der Reizkombinationen beachtenswert. Für die Beschreibung der gesellschaftlichen Funktion des Spiels müssen jedoch andere Faktoren, nämlich Wirkungsbeobachtungen, heran gezogen werden.

Für die Sozialwissenschaft ist das Spiel ein wichtiger Bestandteil der frühkindlichen Sozialisationsprozesse, in denen das Kind die Grundqualifikationen des sozialen Handelns erwirbt. Es lernt einerseits an die Erwartungen anderer Menschen anzuknüpfen, aber ande­rerseits auch eine eigene Identität zu entwickeln und zu behaupten. Beim Spiel handelt es sich – sozialwissenschaftlich betrachtet – um Prozesse, die sowohl unter der Perspektive der Integration des Kindes in soziale Beziehungssysteme als auch unter der Perspektive der Individualisierung betrachtet werden müssen. Diese im Spiel und mit dem Spiel ablaufenden Sozialisationsprozesse bestimmen auch die geistige Leistungsfähigkeit, die sozialen Fähigkeiten und die gefühlsmäßigen Dispositionen der Kinder. Das beschrieb der Erziehungs­wissenschaftler Lothar Krappmann in seinem Gutachten für den Deutschen Bildungsrat bereits 1975. Im Spiel lernen die Kinder den Umgang mit Objekten, mit anderen Menschen und mit sich selbst. Durch diese generelle Weltaneignungsfunktion lässt sich das Spiel nicht einzelnen Fachbereichen oder Disziplinen zuordnen, sondern stellt eine interdisziplinäre Handlungskategorie dar. Werden spielerische Handlungsformen in bewusst gesteuerten und geplanten Lernvorgängen eingesetzt, spricht man vom Spiel als Lernform bzw. vom Spiel als pädagogische Methode. Die didaktische Theorie hierzu wird als Spielpädagogik bezeichnet.

Spielpädagogik

Die Spielpädagogik als sozialwissenschaftliche Methodenlehre ist in Deutschland zu Beginn der 1970er Jahre in den pädagogischen Aus-­ und Fortbildungseinrichtungen (z.B. Akademie Remscheid für musische Bildung und Medienerziehung, Pädagogische Hochschule Berlin, Fachhochschule Köln) verstärkt in die Curricula aufgenommen worden und durch die neue Entwicklung praktischer Modelle in der Kinder-­, Jugend­- und Sozialarbeit auch konzeptionell voran gebracht worden. Exemplarische Praxismodelle: die Entstehung der für Deutschland völlig neuen Abenteuer­-, Bau-­ und Aktivspielplätze (der erste im Berliner „Märkischen Viertel“, einer anfangs infrastrukturell vernachlässigten Hochhaus-Satellitensiedlung), die Entwick­lung der jährlich stattfindenden mehrwöchigen Ferienspielaktion „Mini-München“ durch die Pädagogische Aktion München, die Einrichtung von Spielmobilen, die mit umgebauten Lkw, Bussen oder Bauwagen vernachlässigte Stadtteile anfahren und dort Spielaktionen durchfüh­ren. Diese Einrichtungen haben sich in Deutschland inzwischen flächendeckend ausgebreitet und werden ergänzt durch Spielangebote in allen Kinder-­ und Jugendeinrichtungen und auch in Sportvereinen, Behinderteneinrichtungen, Kinder­-, Kunst­- und Familienmuseen. Durch die Bildungsreform in den 1970er Jahren sind in der Bundesrepublik vor allem für die Vorschuler­ziehung viele neue Lernspielmaterialien entwickelt worden, die auch im Grundschulunterricht genutzt werden. Im Unterricht der Sekundarschulen konnten dagegen Spielmethoden nie recht Fuß fassen, weil Spiel eher diskursives und nicht das von den Lehrplänen geforderte systematisch-fachspezifische Lernen ermöglicht. In Projektwochen und der zunehmen­den Ganztagsbetreuung werden inzwischen auch spielerische Lernverfahren genutzt. Die Verbreitung von Spielaktivitäten in pädagogischen Praxisfeldern wurde und wird gefördert durch regelmäßige Großveranstaltungen (Spielmärkte Remscheid und Potsdam, Spielmo­bilkongresse) und Publikationen (Praxisdokumentationen, Fachliteratur, Spielkarteien und -sammlungen, Zeitschriften „gruppe & spiel“ und „Spielmobilszene“).

Die Bedeutung des Spiels in pädagogischen Einrichtungen

Die gesellschaftliche Bedeutung des Spiels liegt nicht nur in der allgemeinen Sozialisationsfunktion. In pädagogischen Einrichtungen der Vorschulerziehung, im Schulunterricht, im Ganztagsbereich der Schulen, in Freizeiteinrichtungen für Kinder und Jugendliche, in der Weiterbildung und der Museumspädagogik, in soziokulturellen und sozialtherapeutischen Institutionen sowie in Ein­richtungen für Menschen mit Behinderungen wird Spiel als Methode eingesetzt und gefördert. Die Spielpädagogik in Deutschland als verbreiteter und anerkannter Aus-­ und Fortbildungsbereich ist jetzt rund 40 Jahre alt. Inzwischen haben sich die pädagogische Spieltheorie, ihre Spielkonzeption und ihre Praxis erheblich ausdifferenziert – eine Querschnittsaufgabe zwischen Freizeit­- und Sozi­alpädagogik, Kulturarbeit und Bildungswesen ist sie geblieben: Erziehung zum Spiel und mit Spiel.

Die Spielpädagogik geht von einer vielschichtigen Relevanz des Spiels in pädagogischen Einrichtungen für die Entwicklung von Heranwachsenden aus:

Bildungsfunktion

Durch die Fantasieentwicklung im Spiel und den Experimentalcharakter von Spielhandlungen können Kinder ihrem Alter und Entwicklungsstand entsprechende Erfahrungen sammeln. Diese kulturellen Bildungsprozesse, die im Spiel stattfinden, können durch die Auswahl der Spielmaterialien, durch bestimmte Spielangebote und Interventionen beim Spielen von den pädagogischen Fachkräften unterstützt und beeinflusst werden.

Lernfunktion

Spiel wird als Aktionsform häufig in mehreren Phasen der Entwicklung einer Gruppe ver­wendet, sei es eine schulische Projektgruppe oder eine außerschulische Freizeitgruppe. Da spielerisches Handeln eine Aktionsweise ist, können beliebige (Lern­-)Inhalte zum Spielthema gemacht werden. Die spielerische Herangehensweise und Bearbeitung eines Themas ent­spricht dabei mehr einem kreativen, künstlerischen und ganzheitlichen Umgang mit Inhalten als einer systematischen, wissenschaftlichen, fachspezifischen Methodik. Dadurch eignen sich Spielformen besonders gut, wenn es um interdisziplinäres, projektorientiertes Lernen geht, bei dem Experimente, Fiktionen, Analogien und Umwege eine Rolle spielen dürfen.

Analysefunktion

Durch die Beobachtung und Dokumentation des Verhaltens der Kinder beim Spielen kann erfasst und bewertet werden, was die Kinder auf welchen Gebieten und in welchen Leistungs-­ und Fähigkeitsbereichen können. Im Spiel drücken die Kinder – häufig ungehemmter als in Realsituationen – ihre Ängste, Sorgen und Wünsche aus. Dies wird in der Spieltherapie zur Problemanalyse genutzt.

Beschäftigungsfunktion

Nicht nur in der Familie, auch in der pädagogischen Einrichtung dient das Spiel der Kinder ihrer eigenständigen Beschäftigung in einer relativ sicheren, betreuten Umgebung.

Bestätigungsfunktion

Kinder verbessern durch Spielwiederholungen ihre Leistungen, differenzieren und vertiefen ihre Fähigkeiten und verschaffen sich durch die wiederholte Bewältigung der Spielanforde­rungen Bestätigungen, Anerkennungen und Erfolgserlebnisse.

Kommunikationsfunktion

Bei allen Spielaktivitäten, die in Kindergruppen stattfinden, wird nonverbal, präverbal und verbal kommuniziert. Je nach Spiel ist das Miteinander­-Sprechen ein notwendiger Spielbestandteil. Viele Spiele erfordern zusätzliche spielexterne Absprachen (z.B. über die Spielmaterialien) und Klärun­gen der Spielregeln. Alle sprachlichen Interaktionen fördern die Sprachentwicklung der Kinder.

Verarbeitungsfunktion

Im Spiel ver-­ und bearbeiten Kinder Erlebnisse und Situationen, die sie aufgewühlt, beeindruckt oder psychisch belastet haben. Sie können mit manchen Bewegungsspielen aufgestaute Aggressionen abreagieren oder versuchen, Konflikte durch das Nachspielen im Puppen- oder Rollenspiel zu verarbeiten.

Unterhaltungsfunktion

Die überwiegende Zahl der Spiele besitzt für die meisten Spielenden einen Freude bereitenden Unterhaltungswert – sie machen Spaß und ermöglichen Abwechslung durch Spannungser­lebnisse (kontrollierte Angst-Lust­-Erfahrungen). Riskante Spiele verschaffen den Kindern material-­ und zufallsgesteuerte Abenteuer. In den pädagogischen Einrichtungen werden die Spielbedingungen derart organisiert, dass möglichst keine ernsthafte Gefährdung oder nicht zu bewältigende Folgen beim Spiel hervorgerufen werden.

Sozialordnungsfunktion

Spiele dienen in den Gruppen in der Einrichtung auch dazu, die Sozialstruktur der Kindergruppe zu bilden und zu festigen. Viele Spiele werden von Kindern dazu genutzt, die Rangordnung untereinander zu organisieren, Hierarchien festzulegen, Untergruppen zu bilden und zu erproben und Freundschaften zu entwickeln und zu kultivieren.

Zeitstrukturierungsfunktion

Für den Alltag in der Einrichtung dienen bestimmte ritualisierte Spiele der Orientierung im Tagesablauf – ein Kreisspiel am Morgen, das Aufräumspiel kurz vor dem Verlassen der Einrichtung. Spielfeste und Spiele bei Feieranlässen markieren Höhepunkte und ergeben Zeitstrukturen – bis hin zu jahreszeitlich bedingten Spielformen.

Bildungsmöglichkeiten durch Spiel

Spiele schaffen Bildungsmöglichkeiten. Eine solche Aussage muss differenziert werden. Es existieren verschiedene Forschungsergebnisse zur Bildungswirkung einzelner Spiele, Spiel­arten, Spielformen und Nutzung bestimmter Spielmaterialien (Retter 1979; van der Kooij 1983; Baer/Thole 1985 ). Aber bei komplexen Spielhandlungen und den zahllosen Einflussfaktoren stößt die empirische Sozialforschung schnell an ihre Grenzen. Dennoch liefern langfristige Beobachtungen und systematische Erfahrungen von pädagogischen Fachkräften und viele spielpädagogische Fallstudien belastbare und vor allem praxisrelevante Aussagen zur mög­lichen Bildungswirkung von verschiedenen Spielen unter günstigen äußeren Bedingungen. Diese Zuweisung von Bildungswirkungen zu einzelnen Spielen und Spielformen findet man in den letzten Jahren verstärkt in den Spielesammlungen für Spielaktivitäten und -­projekte im Vorschulalter und im schulischen Ganztag (Baer 2007, Baer 2008).

In der weit verbreiteten Sammlung kooperativer Gruppenspiele (Baer 1994b) habe ich die nach meiner Erfahrung zutreffenden Merkmale aus vier Bildungskategorien den einzelnen Spielbeschreibungen zugeordnet. Für die praktische Umsetzung haben sich folgende Kate­gorien und Deskriptoren zu jedem Spiel als besonders nützlich und berücksichtigenswert herausgestellt:

>> Spielaktivität (Bildungsbereich: Individuelle Fähigkeiten) z.B. ertasten, kombinieren, improvisieren, darstellen…

>> Aktivität in der Gruppe (Bildungsbereich: Soziale Fähigkeiten) z.B. Kennenlernen, Körperkontakt, Rollenaufteilung, Kooperation…

>> Spiel­-Themen (Bildungsbereich: Wissenserwerb) z.B. Biografie, Familie, Werte, Selbsterfahrung, Außenseiter…

>> Spielformen (Bildungsbereich: Ausdrucks-­ und Gestaltungsfähigkeiten) z.B. Darstellendes Spiel, Materialspiel, Musikspiel, Spielaktion…

Zu jeder dieser vier Spielbeschreibungskategorien werden exemplarisch etwa 20 Deskrip­toren aufgelistet, mit denen man eine Vermutung über die Bildungswirkung des jeweiligen Spiels präzisieren kann. Eine vollständige Liste aller Deskriptoren ist der Spielesammlung zu entnehmen (Baer 1994b:6-­9).

Ein Beispiel für die vermuteten Bildungswirkungen: Wir vermuten, dass das Verständnis für bauliche Konstruktionen bei einem Kind gefördert wird, wenn es sich mit der Gestaltung einer Kugelbahn beschäftigt und selbst eine Bahn aufbaut. Wir vermuten, dass das Kind die dabei gemachten Einsichten als Erfahrung abspeichern kann, und sie dann später im Leben so nutzen kann, dass sie beispielsweise beim Zusammenbau eines Ikea­-Regals helfen. Wie kommen wir zu dieser Vermutung? Wir stellen fest, dass beide Tätigkeiten – Kugelbahnspiel und Regalbau – ähnliche geistige Leistungen erfordern. Die Zusammenstellung von Konstruk­tionsteilen soll also bewirken, dass die Konstruktion in beiden Fällen einen bestimmten Zweck erfüllen kann. In diesem Beispiel haben wir auf die Fernwirkung der Spieltätigkeit geschlossen.

Oftmals können wir eine Bildungswirkung auch direkt beobachten. Im folgenden Beispiel beobachten wir einen Bildungsvorgang, bei dem eine im Spiel gemachte Erfahrung sich gerade nicht so ohne weiteres in der Realwelt nachvollziehen lässt:

Ein Kind kleidet seine Puppe an und biegt die Puppenarme ganz nach hinten, damit die Arme einfach in die Jackenärmel geschoben werden können. Ein paar Stunden später hilft das Kind seinem jüngeren Bruder, eine Jacke anzuziehen, will den Arm des Bruders so weit wie bei der Puppe nach hinten biegen. Das geht aber nicht, weil sich die Armgelenke unterschei­den, das Brüderchen fängt an zu schreien, und wir können beobachten, dass das Kind die unterschiedliche Bewegungsmöglichkeit von Puppen-­ und Menschenarm erlebt und versteht.

Je genauer die Fähigkeiten benannt werden können, die im Spiel gelernt und geübt wer­den, umso differenzierter kann auch der mögliche Bildungsprozess beschrieben werden. Für ein Bildungstagebuch, für die Dokumentation der individuellen Entwicklung der Kinder in der Einrichtung hilft es sehr, wenn die vermuteten Bildungswirkungen detailliert benannt werden können. Denn um Kinder individuell zu fördern, müssen Fachkräfte analysieren können und verstehen, welche Bildungsprozesse bei welchen Spieltätigkeiten ausgelöst und gefördert werden können.

Ausblick

Kunst und Kultur müssen sich – vor allem, wenn es um die Vergabe öffentlicher Fördermittel geht – immer wieder gegen den Vorwurf zur Wehr setzen, als luxuriöser „Zuckerguss auf der Torte“ nur der Unterhaltung und Verzierung zu dienen. Gegen das Spiel wird Vergleichbares vorgebracht: es diene nur dem Spaß, der Ablenkung, dem Genuss, dem Eskapismus. Für das kommerzielle Spiel kann diese Wirkung nicht bestritten werden, für das Spiel im pädagogischen Kontext wird die Bildungsfunktion jedoch häufig noch unterschätzt, obgleich die Anerkennung der Lernfunktion des Spiels gerade in nonformalen und informellen Bereichen zunimmt, was auch an der Einbeziehung elektronischer Kommunikationsmittel in Spielaktivitäten liegt: z.B. webbasierter Spiele auf Kinderwebseiten, Geocaching mit GPS-Geräten, interaktiver Spielex­perimente in Museen und von Spielen mit Digitalkameras und Tabletcomputern. Insgesamt wird sich die Ausdifferenzierung der verschiedensten Spielwelten fortsetzen, und so entstand auch neben der Einbeziehung elektronischer Medien in Spielaktionen die dazu gegensätzliche Bevorzugung natürlicher Spielmaterialien und Spielumwelten (z.B. mit der Waldspielplatzbe­wegung). Den weitaus größten Anteil im gesamten Spektrum der Spielwelten von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen stellt jedoch weiterhin nicht das pädagogisch intendierte Spiel, sondern das kommerziell verbreitete Freizeitspiel dar, auf dessen zum Teil fragwürdige Inhalte und Formen von öffentlicher Seite kein Einfluss genommen werden kann. Deshalb muss das nicht­-kommerzielle Spiel weiterhin – vor allem wegen seiner Benachteiligungen kompensierenden Bildungswirkungen – staatlich unterstützt und gefördert werden.

Verwendete Literatur

  • Baer, Ulrich/Thole, Werner (Hrsg.) (1985): Kooperatives Verhalten im Spiel. Projektergebnisse, Spielak­tionen, Brettspiele. Remscheid: Akademie Remscheid.
  • Baer, Ulrich (2008): Spiel. In: Coelen, Thomas/Otto, Hans-Uwe (Hrsg.): Grundbegriffe Ganztagsbildung. Das Handbuch (155-163). Wiesbaden: VS.
  • Baer, Ulrich (Hrsg.) (2007): entdecken – gestalten – verstehen. Kreative Bausteine für die kulturelle Bildung in Kita, Hort und Grundschule. Münster: Ökotopia.
  • Baer, Ulrich (2007): Spielpraxis. In: Gruppe & Spiel, 5+6/2007, 3-78.
  • Baer, Ulrich (1994b): 666 Spiele für jede Gruppe – für alle Situationen. Seelze: Friedrich.
  • Daublebsky, Benita (1980): Vorschläge und Begründungen für ein Spielcurriculum. Stuttgart: Klett.
  • Fritz, Jürgen (2004): Das Spiel verstehen. Weinheim: Juventa.
  • Huizinga, Johan (1939): Versuch einer Bestimmung des Spielelementes der Kultur. Amsterdam: Pan­theon Akademische Verlagsanstalt.
  • Kooij, Rimmert van der (1983): Die psychologischen Theorien des Spiels. In: Kreuzer, Karl J. (Hrsg.): Handbuch der Spielpädagogik. Band 1 (297-335). Düsseldorf: Schwann.
  • Retter, Hein (1979): Spielzeug. Weinheim: Beltz.

Anmerkungen

Dieser Text wurde erstmals im Handbuch Kulturelle Bildung (Hrsg. Bockhorst/ Reinwand/ Zacharias, 2012, München: kopaed) veröffentlicht.

Zitieren

Gerne dürfen Sie aus diesem Artikel zitieren. Folgende Angaben sind zusammenhängend mit dem Zitat zu nennen:

Ulrich Baer (2013/2012): Spiel und Bildung. In: KULTURELLE BILDUNG ONLINE: https://www.kubi-online.de/artikel/spiel-bildung (letzter Zugriff am 14.09.2021).

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Dieser Artikel wurde dauerhaft referenzier- und zitierbar gesichert unter https://doi.org/10.25529/92552.30.

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