Erzählkunst
Das Erzählen
Erzählen ist eine den Menschen konstituierende Kommunikationsform, in der (über)individuelle Erfahrungen sinnstiftend geordnet und kommuniziert werden. Erzählen erfolgt intentional. Es ist verbunden mit „unterschiedlichen Aspekten der Unterhaltung […] bis hin zu Unterrichtung oder Belehrung über ethische und moralische Grundsätze der jeweiligen Zuhörer“ (Marzolph 2010:7).
Erzählen als Kunst geht über das alltägliche Erzählen hinaus. Es lebt vom unmittelbaren Kontakt zwischen ErzählerInnen und physisch anwesendem Publikum. Allein über die Lebendigkeit des gesprochenen Wortes, die beredte Mimik und Gestik des Erzählenden entstehen im Miteinander von ErzählerInnen und ZuhörerInnen imaginäre Welten, in denen Grundfragen der menschlichen Existenz bildhaft vermittelt werden.
In den schriftlosen Kulturen war (bzw. ist) das Erzählen ein Medium des Erinnerns, der Vergegenwärtigung vergangener (national bedeutsamer) Ereignisse und deren artifizieller Stilisierung sowie der Vergewisserung nationaler Identität. Mit der Einführung der Schrift wurden diese ephemeren Substrate fixiert und damit vor dem Vergessen bewahrt. Heute bilden diese Erzählungen einen Grundbestand des (inter)nationalen kulturellen Erbes.
Geschichte
Mündliches Erzählen als Kunstform kann auf eine mehr als 3000jährige Geschichte zurückblicken. Es hat in den verschiedenen Weltkulturen einen eigenen Berufsstand hervorgebracht. Heute haben Schrift und technische Medien (Hörfunk, Film, Internet-Formate) die herkömmlichen Funktionen des (künstlerischen) Erzählens übernommen. Gleichzeitig formiert sich weltweit seit ca. 30 Jahren eine Gegenbewegung, die so genannte „New Orality“. Sie versteht sich als radical counter culture (Haggarty 2003), da sie auf den Kern dieser Kunst rekurriert, auf den Menschen als Medium der vermittelten Geschichte.
Als Berufsstand erlebt die Erzählkunst gegenwärtig ihre Revitalisierung. Internationale Festivals sind Katalysatoren dieser Entwicklung. Hier treffen sich ErzählerInnen aus aller Welt und suchen den globalen Austausch von Stoffen und Techniken. Ihr Repertoire ist in der Regel nicht mehr nur national konnotiert. Sie greifen auf Stoffe aus der internationalen oralen Tradition zurück, erweitern diese um Fantastisches, (Auto)Biografisches und erproben Formen des Story Slam.
Mündlichkeit (orality) wird weltweit zu einem Schlüsselbegriff im Bereich Kultureller Bildung. Mit dem Engagement der ErzählerInnen im Bereich der Schule versuchen sie, dem Verlust an literarischer Bildung, an Sprach- und Erzählkompetenz, an Imaginationsfähigkeit und Zuhörbereitschaft gegenzusteuern.
Internationale Projekte und Wirkungen
England z.B. reagierte auf massive bildungspolitische Probleme mit dem „National Oracy Project“, in dem narrative Verfahren für alle Schulfächer erprobt und verbindlich in den Curricula fixiert wurden. Erzählkunst wird in Deutschland und in anderen europäischen Ländern (unter anderem Norwegen, Schweden, Irland, Frankreich, Spanien) mehr und mehr zum festen Bestandteil schulischer Praxis. Als Beispiel sei auf das Langzeitprojekt „ErzählZeit“ verwiesen, in dem seit 2005 professionelle ErzählerInnen an Berliner Kitas, Grund- und weiterführenden Schulen für jeweils ein Jahr Märchen und Mythen aus aller Welt erzählen. Mit der Evaluation dieses Projektes konnte zweifelsfrei belegt werden, welche Bedeutung der Erzählkunst im Rahmen interkultureller Bildung im Kindesalter zukommt. Erzählen stimuliert eine spezifische Form nicht nur des Zuhörens und der Aufmerksamkeit, sondern vor allem der Sprachbildung (siehe Marion Glück-Levi „Hören und Sprechen lernen“). Darüber hinaus fördert es emotionale Ansprechbarkeit, Vorstellungs- und Einbildungskraft, macht aufmerksam auf die narrativen Wurzeln der sprachgebundenen Künste und fördert den Zugang zu fundamentalen Fragen unserer Existenz. Kinder, die über mindestens ein Jahr kontinuierlich Märchen und Mythen aus aller Welt hören, zeigen deutliche Entwicklungsfortschritte in den Bereichen Sprach- und Erzählkompetenz, Konzentration und Zuhörfähigkeit, Fantasie und Kreativität, Erwerb kommunikativer und sozialer Fähigkeiten, literarische Bildung, Neugier auf fremde Kulturen, Neugier auf narrative Zugänge zur Welt und zu philosophischen Fragestellungen. In einem latenten Lernprozess verinnerlichen sie narrative Muster und nutzen diese zur Konstruktion eigener Erzählungen. Sie lernen, konflikthafte Handlungsfolgen sinnhaft zu strukturieren und in sprachlich geformten Bildern zu kommunizieren. So werden die Kinder selbst zu ErzählerInnen.
Darüber hinaus hilft Erzählen – ohne Zwang und Druck – beim Erlernen einer zweiten (oder dritten) Sprache. Hiervon profitieren insbesondere Kinder aus nicht-deutschen Herkunftsfamilien. Narrative Verfahren wecken auch bei Kindern mit Migrationshintergrund den Wunsch, das Gesprochene in Gänze zu verstehen, um dem Erzählten nicht nur in Umrissen, sondern im Detail folgen zu können. Geschichten mit abenteuerlichen Handlungen, besonders Märchen und Mythen, verfügen über eine suggestive Macht, die spontan und unaufdringlich eben diese Wirkung entfaltet. Das Verstehenwollen ist eine elementare Voraussetzung, um aus dem Ghetto des muttersprachlichen Idioms auszubrechen und die Fremdheit der anderen Nationalsprache überwinden zu können.
Professionelle ErzählerInnen sind im Schulalltag ein konkurrenzloses Sprachvorbild. Sie bringen in den Erfahrungsschatz der Kinder etwas ein, das diesen – auch den deutschsprachigen – mehrheitlich unvertraut ist: die Poesie des gesprochenen Wortes. Durch die wiederkehrende Begegnung mit einer vom Alltag unterschiedenen Sprache geschieht das allmähliche Sich-Einspielen in die Konventionen eines poetischen Wortgebrauchs und Sprachstils, und dies nicht nach dem strengen Regelsystem eines Lehrplanes, sondern im biegsamen Übereinkommen der miteinander Sprechenden (Gadamer 1998:11).
Somit erweist sich Erzählen als ein unverzichtbares Kapital im Bereich der Kulturellen Bildung und muss wieder zu einer Selbstverständlichkeit in allen Schulformen werden.