Kultur für alle. Kulturpolitik im sozialen und demokratischen Rechtsstaat
Ein neues Paradigma der Kulturpolitik
Als Hilmar Hoffmann nach seinen Lehrjahren in der Bergarbeiterstadt Oberhausen, wo er als erfolgreichstes Projekt die dortigen Internationalen Kurzfilmtage ins Leben gerufen hatte, 1970 als 45-Jähriger nach Frankfurt am Main als Dezernent berufen wurde, war ein neuer Aufbruch der Kulturpolitik nicht nur in der Theorie überfällig, sondern auch in der Praxis. Es war die Zeit der Sozialliberalen Koalition und des Neokeynesianismus. Jene optimistischen Worte der Regierungserklärung aus dem Munde von Willy Brandt vom 21. Oktober 1969 waren gleichsam das Motto: „Wir wollen mehr Demokratie wagen.“ Was er allgemein forderte, wollte Hilmar Hoffmann mit Hilfe der Kulturpolitik erreichen: „Das Ziel ist die Erziehung eines kritischen, urteilsfähigen Bürgers, der imstande ist, durch einen permanenten Lernprozeß die Bedingungen seiner sozialen Existenz zu erkennen und sich ihnen entsprechend zu verhalten“ (Brandt 1969:1125).
Die Einführungsrede von Hilmar Hoffmann vor der Frankfurter Stadtverordnetenversammlung vom 12. November 1970, also gut ein Jahr nach dem Amtsantritt von Willy Brandt, war ganz in diesem Geiste verfasst. Sie signalisierte den Abschied von der Vorherrschaft des Bildungsbürgertums in der Kulturpolitik und wies den Weg hin zur Öffnung und Erweiterung des kulturellen Lebens. Betont wird darin, Kultur sei „kein absoluter Wert, der an sich selbst gemessen werden kann, sondern nur an den gesellschaftlichen Entwicklungen, die sie bewirkt oder deren Bedingungen ihre Entfaltung unterworfen ist“ (Hoffmann 1970). Vor dem Stadtparlament hat er dann das Programm einer stark bildungsorientierten Kulturpolitik entwickelt, bezogen auf Erwachsenenbildung (siehe Wiltrud Gieseke „Kulturelle Erwachsenenbildung“), Büchereien, pädagogische Arbeit bei den Bühnen und in den Museen. Ähnlich war der Tenor des ersten Rechenschaftsberichtes von 1971 (vgl. Hoffmann 1971).
Das damals geplante Audiovisuelle Kommunikationszentrum für den zentralen Platz zwischen Römerberg und Dom (den heute die Schirn dominiert) hätte einen potenten und für alle offenen Einstieg in die erst dann sich entwickelnden neuen Kommunikationstechnologien und -wege bedeutet. Seine Planung zeigt, dass Kulturpolitik sich damals schon als Bestandteil der Qualifikation und Entwicklung von Humankapital verstand, und dies bezog sich nicht allein auf das wirtschaftliche Leben, sondern vorzüglich auf das soziale Zusammenleben und eine lebensdienliche Politik.
Die Kulturinitiativen des Deutschen Städtetages der folgenden Jahre, unter der Mitwirkung von Kurt Hackenberg, Hermann Glaser und Hilmar Hoffmann entstanden, schienen speziell auf Frankfurt gemünzt. Das Motto des Deutschen Städtetages „Rettet unsere Städte jetzt“ von 1971 wurde 1973 wieder aufgegriffen und durch das Programm „Bildung und Kultur als Element der Stadtentwicklung“ (Röbke 1993:117/118) mit Inhalt gefüllt. Dort lesen wir: „In allen Industrieländern stehen heute die Städte vor den gleichen schwierigen Problemen: Der rasche ökonomische und technische Strukturwandel hat tiefgreifende Einwirkungen auf die soziale und städtebauliche Struktur und einen Verlust an Umwelt- und Wohnqualität zur Folge. Die Stadt droht ihre menschlichen Züge und damit die Eigenschaften zu verlieren, die sie einst anziehend und begehrt gemacht haben.“ Und:
>> „Kultur in der Stadt bedeutet daher
>> die Kommunikation zu fördern und damit der Vereinzelung entgegen zu wirken,
>> Spielräume zu schaffen und damit ein Gegengewicht gegen die Zwänge des heutigen Lebens zu setzen,
>> die Reflexion herauszufordern und damit bloße Anpassung und oberflächliche Ablenkung zu überwinden“ (ebd.).
Diese Thesen wurden in Frankfurt programmatisch in die Tat umgesetzt. Mit den informell durch den Städtetag und die Kulturpolitischen Tagungen in Loccum verbundenen KulturpolitikerInnen entstand 1974 eine erste Bestandsaufnahme der neuen Kulturpolitik in der Bundesrepublik (Hoffmann 1974). Eine zweite wegweisende Publikation wurde herausgegeben von Olaf Schwencke, Klaus H. Revermann und Alfons Spielhoff (1974). 1976 kristallisierte sich aus diesem Geiste heraus die Kulturpolitische Gesellschaft.
Mit einer Spurensuche hat Kurt H. Biedenkopf 1986 versucht, Ansätze einer „Kultur für alle“ im Neheim-Hüstener Programm der NRW-CDU vom März 1946 aufzuspüren, weil dort gefordert wurde, die „Teilnahme an den kulturellen Gütern für das ganze Volk“ zu sichern (Biedenkopf 1986:13). Das sind aber damals bloß Deklamationen geblieben. Erst mit der Sozialliberalen Koalition kam es zur Abkehr von dem bis dahin noch dominierenden bildungsbürgerlichen schillernden Kulturbegriff der „kulturellen Güter“. Das neue Kulturverständnis war statt am „Schönen, Wahren, Guten“ am alltäglichen kulturellen Leben insgesamt orientiert und verzichtete weitgehend auf die Unterscheidung zwischen den verschiedenen sozialen und ästhetischen Sphären der kulturellen Teilhabe, ohne dass dadurch der Anspruch auf Qualität vernachlässigt wurde (siehe auch Kramer 2011:109ff., Kramer 2012:179ff.). Erst mit der konkreten Politik in Frankfurt und dem Titel des Buches „Kultur für alle“ entstand ein gängiger und wirkungsvoller Programm-Slogan.
Die entscheidenden Texte
Kaum irgendwo sonst war nach übereinstimmender Meinung der KritikerInnen die Krise der Stadt stärker zu spüren als in Frankfurt am Main. Alexander Mitscherlich (1965) schrieb sein Buch über die Unwirtlichkeit der Städte nicht von ungefähr in dieser hektischen Metropole des Hermes, des Gottes der Kaufleute und der Diebe, aber auch des Gelingens.
Auch für die Kulturpolitik war es in diesem Zusammenhang endlich an der Zeit, ein Buch über deren Ziele zu schreiben. Der Band „Kultur für alle“ (Hoffmann 1979) war, was die hohe Auflage und die Resonanz betraf, von einzigartiger Wirkung. Im Vorwort der zweiten Auflage sind die wichtigsten Argumente und Einwände der bis Herbst 1980 erschienenen über hundert Rezensionen zusammengefasst (Hoffmann 1981:9-28). Das Buch hat den Vorteil, dass die Arbeitsfelder der alten und neuen Kulturpolitik (in der zweiten Auflage auch die Erwachsenenbildung) erstmals einheitlich gegliedert und zusammengefasst sind. Denn gerade darin bestand ja eine der wichtigen Neuerungen: Neben den traditionellen Institutionen wurden neue Felder wie Film, Jazz, Medien, Alternative Kultur, Kulturelle Zielgruppen und kulturelle Freizeit als satisfaktionsfähige Größen nobilitiert. Und an alle richtete sich das neue Programm, nicht nur an das habituelle Bildungsbürgertum.
Im Folgeband „Kultur für morgen“ von 1985 ging es dann auch um Kultur und Arbeit, um die Sparkrise, die konservative Wende, die Instrumentalisierung der Kultur für die verschiedensten Nebennutzen wie Umwegrentabilität und konsumistische Attraktivität, um Städteranking mit Hilfe kultureller Highlights, aber auch um internationale Kulturbeziehungen (beeinflusst durch Themen der 1971 ins Leben gerufenen Römerberggespräche, lange Zeit eine der wichtigsten Diskussionsveranstaltungen der Republik).
Der letzte Band (Kultur als Lebensform) erschien 1990 zum Abschied von Hilmar Hoffmann als Kulturdezernent. Der Text lässt Kultur und Gesellschaft Revue passieren, thematisiert kulturelle Vielfalt als Ressource für das Überleben und resümiert Praxis-Erfahrungen.
Neben diesem Dreiteiler erschien 2006 ein umfangreicher Sammelband, in dem manche Themen, aber keine Texte sich wiederholen. In all diesen Bänden, die organisch aus der Weiterentwicklung des Konzepts hervorgehen, sind die wichtigsten Texte nachlesbar.
Das Werkzeug des Kulturpolitikers
In der Frankfurter Antrittsrede hat Hilmar Hoffmann im Herbst 1970 die Prinzipien seiner Arbeit erläutert. Sie sind bedenkenswert geblieben, auch wenn manche Vokabeln heute anders gewählt werden würden.
Für die etatisierten Institutionen soll der Kulturdezernent „folgende Hilfen anbieten“:
>> „den Institutsleitern bürokratisches Gestrüpp aus dem Wege räumen, um ihre Kräfte freizusetzen für die eigentlichen pädagogischen oder künstlerischen Aufgaben;
>> Denkanstöße geben und Aktivierungshilfen leisten, wo die Sache dies fordert;
>> Nach gewonnener Einsicht in die Notwendigkeit einer Ausgabenerhöhung die entscheidenden Gremien hiervon überzeugen, damit das Klinkenputzen einzelner Direktoren bei Parlamentariern nicht zur Übervorteilung anderer Institutionen gerät;
>> überall dort, wo es an aktiver Kooperation mangelt, diese herstellen helfen, um entweder durch klare Abgrenzung (etwa der Sammelgebiete der Museen) oder durch die Organisation von Wechselwirkungen optimale Effektivität sicherzustellen;
>> wo sich noch Relikte engen Ressortdenkens oder Betriebsblindheit registrieren lassen, diese einebnen und die jeweiligen Institute den Gesamtzusammenhang bewusst werden lassen, in dem sie ein integraler (funktionstüchtiger) Teil sind, aber nicht der wichtigste;
>> die Prioritäten überdenken, ob sie im Wandel zur mündigen Leistungsgesellschaft so noch, und in der bisherigen Subventionshöhe, vertretbar sind. Die Unverhältnismäßigkeit bestimmter Etatansätze zu ihrem gesellschaftspolitischen Stellenwert muß öffentlich diskutiert werden;
>> wo immer bestimmte Institute in einer teilweise selbstgewählten isolationistischen Exklusivität oder einem falsch verstandenen Wissenschaftsanspruch im Elfenbeinturm sich allzu wohl fühlen, sind sie zur lebendigen Popularisierung dessen zu ermuntern, was als kostspieliger und kostbarer Kunst- oder Archivbesitz ansonsten nur wenigen Eingeweihten („Gebildeten“) vorbehalten bleibt;
>> wo Bedeutung und Kostenaufwand einer Institution in einem umgekehrten Verhältnis zu den Besucherzahlen stehen, wird über die Möglichkeiten eines Besucherzuwachses nachgedacht werden müssen. Nicht nur Reisende mit dem Baedeker unterm Arm, sondern zuallererst die Bürger einer Stadt selbst sind aufgefordert, von ihrer Chance zu vermehrten Kenntnissen Gebrauch zu machen;
>> für den Fall, dass innerhalb des einen oder anderen Instituts noch autoritäre Herrschaftsstrukturen resistent geblieben sind, die die Verhältnisse vertikal statt horizontal regeln, werden Demokratisierungshilfen auch unaufgefordert gewährt werden müssen;
>> die im städtischen Kulturhaushalt registrierten Institute müssen sich in Konsequenz einer extensiven und langfristigen Bildungsplanung sowohl mit den Schulen als auch mit den Hochschulen als eine bildungspolitische Einheit begreifen, die sich nicht darin erschöpft, über die Studierenden die Besucherzahlen zu erhöhen“ (Hoffmann 2006: 52/53).
Alternative Kultur jenseits der Institutionen
1972 wurde das Frankfurter Dezernat in Dezernat Kultur und Freizeit umbenannt, und es erhielt die Querschnittskompetenz für Freizeit und war lange Zeit auch zuständig für Erwachsenenbildung, Bürgerhäuser, Zoo, Palmengarten, Forst.
Programmatische Texte des Europarates, die Entschließung der Konferenz der Europäischen Kultusminister zur Kulturpolitik als Instrument zur Verbesserung der Lebensqualität in Stadt und Land in Oslo 1976 und die Empfehlung über die Teilnahme und Mitwirkung aller Bevölkerungsschichten am kulturellen Leben, angenommen von der UNESCO-Generalkonferenz in Nairobi 1976 (alle bei Röbke 1992), erwiesen sich damals als nützliche Argumentationshilfen für eine neue Kulturpolitik. Noch keiner davon bezieht sich auf die Kulturwirtschaft, im Gegenteil: In einer „Erklärung über die kulturellen Zielsetzungen“ des Europarates von 1982 wird benannt, was damals auch für die Kulturpolitik prägende Überzeugung war: „Unsere Gesellschaft leidet unter einer zu starken Ausrichtung auf wirtschaftliche Ziele, dies schränkt den kulturellen Bereich ein und verurteilt die Kultur zu einer Randerscheinung“ (Schwencke 2010:101). Das hat sich dann später deutlich geändert.
Bei diesem Aufbruch in die Nach-Achtundsechziger Jahre folgten wir Bertolt Brechts Anweisung, aus dem kleinen Kreis der KennerInnen einen großen Kreis zu machen, und förderten Kulturelle Bildung, weil die Kunstrezeption Kenntnisse auch der Wahrnehmung voraussetzt.
„Demokratisierung der Kultur“ – verstanden als Abbau von Barrieren beim Zugang zum kulturellen Leben, verbunden mit Kultureller Bildung als konstitutivem Element der Sozialisation, war die Essenz der „Kultur für alle“. Aber ebenso gehörte die „Kulturelle Demokratie“ dazu, die Anerkennung der Existenz unterschiedlicher Kulturen und ihre Einbeziehung in die Kulturförderung. Die Würdigung alternativer Kulturformen, die Aufnahme neuer Bereiche wie Kino, Jazz und Vereinsarbeit in die Kulturförderung waren keine Nebensache.
Schon am 12. November 1970 hat Hilmar Hoffmann darauf hingewiesen, dass auch die sogenannte alternative Kultur ein Essential der Kulturpolitik ist. Die Förderung von Stadtteilkultur, Vereinen und Freizeiteinrichtungen wurde in Frankfurt fester Bestandteil der Kulturpolitik, sie musste neu geregelt und auch solide etatisiert werden. Tendenziell weitgehend übernommen hat Hilmar Hoffmann 1982 die Förderkriterien der Hamburger Stadtteilarbeit (Hoffmann 2006:659/660). Unterstützt werden sollten Maßnahmen und Aktivitäten, die geeignet waren, freies Engagement mit verantwortungsvoller Verwendung öffentlicher Mittel zu koppeln:
>> Die beabsichtigten Maßnahmen sollen das kulturelle Leben im Stadtteil bereichern bzw. ergänzen und erweitern.
>> Durch die Aktivitäten soll die Kommunikation zwischen einzelnen und Gruppen im Stadtteil gefördert werden.
>> Die kulturelle Aktivität soll das Image des Stadtteils verbessern und damit zu einer positiven Stadtteilentwicklung beitragen, die wiederum zu einem höheren Maß an Identifikation der Bewohner mit dem Stadtteil führen kann.
>> Die Eigenaktivitäten von Gruppen im Stadtteil sollen unterstützt werden, d.h. dass ein Engagement des möglichen Zuwendungsempfängers schon vor der Förderung erkennbar sein sollte.
>> Die geförderten Maßnahmen dürfen nicht auf Vereins- und Gruppenmitglieder beschränkt bleiben, sondern sollen der Öffentlichkeit im Stadtteil zugänglich sein.
Damals schienen die unterschiedlichen Kulturmilieus vor allem durch soziale Unterschiede geprägt. Dass es auch unterschiedliche religiös-ethnische Prägungen und Traditionen sein könnten, die ein förderungswürdiges Milieu der Vielfalt produzieren, das wurde als „Gastarbeiterkultur“, als Kultur der ArbeitsmigrantInnen damals aber auch schon erkennbar. Kulturentwicklung wurde verstanden als Prozess, an dem alle Schichten der Gesellschaft, auch die ZuwandererInnen, aktiv an der Veränderung und Neugestaltung des kulturellen Lebens beteiligt sind und in dessen Verlauf auch das kulturelle Erbe neu von den jetzigen NutzerInnen angeeignet wird. Die Vorstellung einer ausformulierten „Leitkultur“ war dem damaligen Denken fremd.
Zeitgebundenheit
Rückblickend wird erkennbar, wie stark die Kulturpolitik in den 1970er Jahren in die politischen Zusammenhänge dieser Epoche eingebettet war. Damals ahnte noch niemand, wie radikal sich der neoliberale schlanke Staat später darauf konzentrieren würde, die Rahmenbedingungen für die internationalisierte Wirtschaft und Finanzwelt zu optimieren. Zu dieser Zeit waren allerdings auch Kunst und Kultur als Kreativitätsressource und als Hilfe zur Akzeptanzpflege für eben diese wirtschaftliche Tätigkeit noch nicht instrumentalisiert, sie sollten vielmehr auf der sozialen Ebene Teil der Gesellschaftspolitik sein.
Konflikte um Kulturprogramme wie „Lieder im Park“ oder Kinder- und Jugendtheater etwa zur sexuellen Aufklärung blieben nicht aus. Aber es gab auch schöne Erfolge. Als ein Beispiel für die Tragfähigkeit des Demokratisierungs-Ansatzes sei die beispielhafte öffentliche Sammelaktion zum Ankauf des Gemäldes „Die Synagoge“ von Max Beckmann für die Städtische Galerie im Städel genannt. Vor den Thespiskarren aus dem Theaterfundus ließen sich 1972 Politikgrößen auf der Hauptwache spannen. Die Sammlung brachte zwar nicht die nötige Summe zusammen, aber es war eine pressewirksame Aktion, die den Bankier Jürgen Ponto so stark beeindruckte, dass er den Reste der Summe spendete, ohne dies für die Imagewerbung „an die große Glocke zu hängen“ (Hoffmann 1999:118-119; Hoffmann 2003:118-120).
Widersprüche und Spannungen begleiten die Entwicklung auch heute. Einerseits soll Kulturpolitik einen Beitrag zur gesellschaftlichen Integration leisten, etwa im Zusammenhang mit Kommunalpolitik, mit Jugendrevolten oder mit den Parallelkulturen von MigrantInnen in der Einwanderungsgesellschaft; auf der anderen Seite verteidigen die privilegierten Eliten ihre Sphären. Auf der einen Seite will der neoliberale Staat die Ausgaben für die öffentliche Kulturpolitik möglichst niedrig halten, auf der anderen Seite möchte er die Kulturwirtschaft als ökonomische Ressource entwickeln.
Die Kritik an dem Programm
Trotz aller Unklarheiten und mancher Verschwommenheiten, wie sie einer breiten kulturellen Bewegung immer anhaften, blieb die demokratische Kulturpolitik der 1970er Jahre mehrdimensional: Sie war damals nie, wie Thomas Assheuer meinte, ein „Angriff auf die inneren Angelegenheiten der Kunst, die Bewirtschaftung der Ästhetik, ihre Inbetriebnahme als Bindemittel für die Gesellschaft“ (1997); heute (2011) ist sie viel eher dazu geworden. Sie konnte das auch genauso wenig sein wie eine „konsensstiftende Einheitskultur“, und sie wollte auch nicht „nur eine maßgebliche Tradition“ für eine „Kulturnation“ verordnen. Während sie doch einerseits der sozialen und ethnischen Vielfalt den notwendigen Entfaltungsraum bieten sollte, gilt es andererseits aber, ergebnisoffenen Kulturprozessen als die Gesellschaft integrierenden Kräften der gemeinschaftlichen Produktion von Lebensverhältnissen zur Wirkung zu verhelfen. Diesen Spagat hatte die Kulturpolitik damals auszuhalten. Deswegen musste sie auch zwischen dem Anspruch der Künste vermitteln, sich an Wahrheit und Qualität zu orientieren, während sie gleichzeitig den ästhetischen Ausdrucksformen verschiedener Milieus ihr Recht zugestehen musste. Dieses Spannungsverhältnis war nur solange ins Gelingen zu wenden, als künstlerische Tätigkeit als unabgeschlossener Prozess verstanden wurde. Sobald einer sich auf vollendete und kanonische Werke konzentrieren wollte, war der sozialkulturellen Vielfalt nicht mehr Genüge zu tun.
Die Politik der „Kultur für alle“ hat sich gegen den auch in Frankfurt am Main verbreiteten Pessimismus und Fatalismus jener Linken gewendet, die das kapitalistische System prinzipiell abschaffen wollten und die in ihm keinerlei Chancen sahen, weil sie sich an jener gern verabsolutierten, aber falsch verstandenen These Theodor W. Adornos orientierten: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“ (Adorno 1980 (1951):40). Sie hat sich auch auf Kompromisse eingelassen, wie sie nach der politischen Wende von 1977 und der Dominanz der CDU in Frankfurt angesagt waren. Dass die alternative Kultur bis auf wenige Relikte dann abstarb oder den Kontakt zu den hegemonialen Milieus verlor, ist nur zum Teil der Politik anzulasten. Es fehlte schließlich auch das engagierte nachfragende Publikum.
Die „gesellschaftspolitische In-Wert-Setzung des kulturellen Erbes“ gehört zu den Prinzipien des ambitionierten Programms einer „Kultur für alle“, das ein anregungsreiches lebendiges kulturelles Milieu für möglichst breite Schichten der Bevölkerung produzieren wollte und dazu auch das heute noch gültige kulturelle Erbe für die ständige Überprüfung und Neu-Aneignung bereithielt (Hoffmann 2006:188,119).
Kulturpolitik ist Gesellschaftspolitik, nicht umgekehrt
Auch einem anderen kritischen Einwand braucht nicht ausgewichen zu werden. Was kann kulturelle Spezifik uns heute noch bedeuten, wenn alles und jedes als Kultur firmiert, fragten konservative Bildungseliten. In der Tat wird bei der Integration des Alltags in die Kulturdiskussion gern übersehen, dass dieser nur insoweit genuin mit Kultur zu tun hat, wie er wesentlich von den Charakteristika einer Kultur geprägt ist. Nicht der Alltag als solcher, sondern die ihn prägenden Wertungen sind Bestandteil der Kultur.
Mit den Prinzipien einer Politik von „Kultur für alle“ sollte seit den 1970er Jahren verhindert werden, dass relevante Teile der Bevölkerung von dem Kontakt mit dem kulturellen Leben und dem Erbe ausgeschlossen blieben. Auch wenn es mit dem erweiterten Kulturbegriff kaum gelang, neue Bevölkerungsschichten an die klassischen Kulturinstitutionen zu binden, so bedeuteten Museumspädagogik, Bürgerhäuser, die Förderung von Straßenfesten und relevanten Vereinsinitiativen, Veranstaltungen wie „Lieder im Park“, „Jazz im Museum“ sowie neue Vermittlungsformen in den „Musentempeln“ doch immer auch die Chance, dass „kulturferne“ Gruppen sich am kulturellen und gesellschaftlichen Leben beteiligt sehen konnten und in nicht wenigen günstigen Fällen impulsgebende Partner für neue ästhetische Ausdrucksformen wurden.
Als Folge einer neoliberalen Politik wurde seit den 1990er Jahren die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich, wurden die neue Armut und die Prekarisierung und damit die Entstehung von Parallelwelten in ausgegrenzten sozialen Milieus billigend in Kauf genommen. Auch wenn dieser neoliberale ‚schlanke Staat’ erst recht in der Krise sein völliges Versagen eingestehen musste, wurde gleichwohl die Kluft zwischen Arm und Reich aber deswegen nicht verkleinert, eher klafft die Schere noch weiter auseinander. Darunter leidet das ganze Gemeinwesen insgesamt, denn immer mehr Menschen igeln sich in abgeschotteten Privatwelten ein, und der Diskurs einer kulturellen Öffentlichkeit über Sinn und Grundwerte der Gemeinschaft wird immer brüchiger.
Zukunft ist ein kulturelles Programm
Eher beiläufig hat Hilmar Hoffmann einmal formuliert: „Zukunft ist ein kulturelles Programm“ (1997). Gleichwohl hat diese Formel schnell Beachtung gefunden. Eine Gesellschaft, die heute die Maßstäbe und Modelle auf lebensdienliche Weise fortentwickelt, die Lebensqualität als Folge von Nachhaltigkeit und Verantwortung für die Zukunft ermöglicht, wird nicht nur selbst zukunftsfähig; sie wird auch für andere zugkräftig und kann das Interesse jener auf sich lenken, die noch nicht wissen, was sie alles ohne kulturelles Interesse versäumen.
Wir müssen wissen, wohin wir wollen und wie wir was erreichen möchten. Nicht der Fortschritt der Technik allein, nicht die boomende Wirtschaft für sich, sondern die Kultur im umfassenden Sinne ist es, was das Dasein in einer Gesellschaft lebenswert und zukunftsfähig, interessant und abwechslungsreich macht.
In der „Erlebnisgesellschaft“ und der „Gesellschaft der Lebensstile“ werden die milieuspezifischen unterscheidenden ästhetischen Kodierungen, das kennerschaftliche Vergnügen an exklusiven Kunstereignissen, die Ausstaffierungen mit den Attributen der kulturellen Highlights als soziales und kulturelles Kapital und als Elemente der Distinktion sowie der marktgerechten Positionierung wahrgenommen und genutzt. Deswegen meinen manche, das Programm der „Kultur für alle“ sei überholt. Aber wer so argumentiert, sei daran erinnert, dass Kultur als „ideelle Lebensgrundlage“ einer Gemeinschaft darauf angewiesen ist, dass mindestens rudimentär alle einbezogen sind in jene Prozesse der kulturellen Öffentlichkeit, in denen die Regeln des Miteinander ausgehandelt und bestätigt werden.
Künstlerische Arbeit ist Teil der ständigen Selbstreflexion einer Gesellschaft, hat man gesagt, und so wurde auch das Programm „Kultur für alle“ immer verstanden. Wir spüren angesichts der Herausforderungen der Gegenwart, dass mehr als das selbstreferentielle Spiel der Eventgesellschaft oder der Kunst des aktuellen Akademismus notwendig ist, um Kulturpolitik in ihrer vermutlich seit langem größten Finanzkrise zu legitimieren. Auch in finanziellen Krisenzeiten wurden in Frankfurt am Main seit den 1970er Jahren 11 % des Städtischen Etats für die Kultur zur Verfügung gestellt, der höchste Betrag aller europäischen Städte: Eine Bringschuld der Politik an den kulturmündigen Steuerzahler.