Arbeit am Sinn. Anthropologie der Sinne und Kulturelle Bildung
Kulturelle Bildung als ‚Arbeit am Sinn‘
Die „Sinne als anthropologische Grundlage“ Kultureller Bildung zu begreifen, ist alles andere als selbstverständlich, sondern vielmehr selbst Ausdruck einer bestehenden Kultur, ihrer Wissenschaften und Praktiken: Denn lange Zeit galten im europäischen Denken die Sinne des Menschen als widerspenstiger Gegenpart, als das beunruhigende, ja gefährliche Andere von Kultur und Zivilisation. Von der griechischen Antike über Rationalismus und Aufklärung bis in die Spät-Moderne des 20. Jh.s wiesen die anthropologisch-philosophischen sowie die kunst- und kulturästhetischen Disziplinen die Sinne zumeist den niederen menschlichen Vermögen zu oder erblickten in ihnen gar Feinde der Vernunft, die es zu bekämpfen und zu unterdrücken galt.
Die Aufgabe von Kultur und Bildung sehen einflussreiche Autoren von Platon über René Descartes und Immanuel Kant bis hin zu Sigmund Freud eher in der Zähmung oder Disziplinierung der menschlichen Sinne, als dass sie Kultur auf ihnen aufruhen ließen.
Und noch die aufklärungs- und rationalismuskritischen Strömungen des 19. und 20. Jh.s werten zwar die Sinne auf und erklären sie zum Refugium humaner Authentizität oder zum Quell von Widerstand und Subversion gegen kulturelle Zurichtung; Sinne und Kultur des Menschen bleiben jedoch Gegenspieler. Das Verhältnis zwischen ihnen lässt sich auch hier nicht als „Grundlage“ begreifen, sondern als Antagonismus.
Erst mit dem Ende des 20. Jh.s und im Zuge des „cultural turn“, der Kultur selbst als beunruhigendes, nicht berechenbares und historisch höchst wandlungsfähiges Phänomen fasst, setzt sich ein neues Paradigma durch: Es setzt die Sinne in ein zwar noch immer komplexes, aber dennoch ‚grundlegendes‘ Verhältnis zur Kultur und fasst die enge Wechselwirkung zwischen ihnen nicht mehr in antagonistische Verhältnisse von Über- oder Unterordnung. Ein tieferer Blick in die Geschichte von Philosophie, Anthropologie, Kunst und Ästhetik zeigt allerdings, dass diese Position keine Erfindung des 20. Jh.s ist: Neben den oft dominanten Positionen der Sinnes-Abwehr oder Sinnes-Unterwerfung, ja oft auch innerhalb dieser Positionen selbst (etwa bei Kant), regen sich immer wieder andere Stimmen, die die Sinne in ihrer Eigenständigkeit und Eigenart würdigen, ihre kritischen und kulturschaffenden Potentiale wertschätzen und ihrer Reduktion auf bloße Diener oder gar Feinde des Geistes und der Vernunft entgegentreten. Étienne Bonnot de Condillac und Johann Gottfried von Herder gehören zu den wichtigsten Vertretern dieser Strömung.
Eine erste umfassende anthropologische Theorie der Unruhe und Offenheit menschlicher Sinnestätigkeit, die der Spezifizität ihrer körperlich-organischen Materialität sowie ihrer fundamental kulturellen Dimension gerecht zu werden versucht, hat Helmuth Plessner verfasst. Dabei zeigt sich in Plessners Werk selbst ein Positionswandel: In „Die Einheit der Sinne“, seiner 1923 erschienenen Suche nach den „Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes“ (so der Untertitel) hatte er die über die Sinne verlaufenden Empfindungs- und Ausdrucksphänomene noch eher als eine ahistorische und passive, über die Leibeshaltungen vermittelte Angleichung des Menschen an den „apriorischen Charakter der natürlichen Umwelt hinsichtlich ihrer materialen Modi“ (Plessner 1980 [1923]:19) verstanden.
Dagegen fasst er später das Verhältnis von Kultur, Körper und Sinnen – ebenso wie diese drei Instanzen selbst – als offen und historisch unabgeschlossen, dynamisch und gebrochen:
„Denn der Mensch beruhigt sich nicht bei dem puren Faktum seiner sinnlichen Organisation, er sieht etwas darin, einen Sinn – und wenn er ihn nicht findet, gibt er ihm einen und macht etwas daraus“ (Plessner 1980 [1970]:332 Hervorhebung im Original). Interessanterweise suggeriert Plessner im Kontext dieser 1970 geäußerten These, diese liege schon 1923 seiner „Einheit der Sinne“ zugrunde. Die Sinne werden so zu einer dem Menschen gesetzten Aufgabe und Möglichkeit, an der er sich mithilfe seiner Kultur abzuarbeiten hat. Ein zentrales Anliegen seiner verschiedenen anthropologischen Auseinandersetzungen mit den Sinnen bleibt jedoch auch hier erhalten: Die „Einheit der Sinne“ meint nicht eine ver- und berechenbare Einheit der einzelnen Sinne – im Sinne einer gegenseitigen semantischen Vertretbarkeit und organischen Komplementarität –, sondern die Einheit des Mannigfaltigen, in der die einzelnen Sinnesmodalitäten ihren historisch-kulturellen wie materiellen ‚Eigensinn‘ behaupten.
Für Plessner wie für andere von der Phänomenologie inspirierte philosophische und anthropologische Auseinandersetzungen (Jean-Paul Sartre, Maurice Merleau-Ponty, Erwin Straus) zeichnen Offenheit, Reflexivität, Verschränkung und Differenzierung die menschliche Sinnestätigkeit aus: Die sinnliche Reaktion auf die Welt vergegenwärtigt dem Menschen seine eigene Existenz und die des Anderen; sie vermittelt Körper und Subjekt mit der Welt und den Objekten und ermöglicht Erfahrungen von Wandlung und Kontinuität. Straus fasst all diese Dimensionen sinnlichen Erlebens – die Verweisung auf die Gegenwart des Anderen und die Selbst-Gegenwärtigkeit, aber auch die erinnernd-verschränkende und dadurch differenzierende Dimension sinnlicher Erfahrung – zusammen: „Das Gegenwärtigsein des sinnlichen Empfindens – und damit das sinnliche Empfinden überhaupt – ist das Erleben des Mit-seins, das sich zum Subjekt und zum Gegenstand hin entfaltet. [...] Aus einzelnen Empfindungen wäre die sinnliche Gewissheit der Außenwelt nicht abzuleiten; sie müsste uns fehlen, wären einzelne Empfindungen etwas anderes als eine Differenzierung und Begrenzung der ursprünglichen ‚Ich-Welt-Beziehung‘ des Empfindens“ (Straus 1956:372).
An diese Arbeiten kann eine heutige historisch-kulturelle Anthropologie der Sinne – nicht zuletzt dank Plessners dynamischem Kulturbegriff – anknüpfen.
Zwar hat das heute wirkmächtige Paradigma einer Performativität der Sinne und ihres Körpers die Hoffnung auf sinnliche Authentizität enttäuscht. Doch verlieren die Sinne damit nicht notwendigerweise ihren beunruhigenden Charakter – als Organe, die die Grenzen des menschlichen Körpers überschreiten und seine Offenheit zur Welt und zum Mitmenschen ermöglichen, zeigen sie zugleich auch die Grenzen des Humanen an und werden etwa dort zum Störfaktor, wo die Unterwerfung der Menschen und ihrer unterschiedlichen Körper unter die Formen kultureller, politischer und ökonomischer Zurichtung enorm und grotesk wird.
Als ‚anthropologische Grundlage von Kultur und Bildung‘ lassen sich die Sinne begreifen, weil sie in ihrer „sinnlichen Organisation“ selbst dynamisch und bildungsbedürftig sind. Sie treiben den Menschen zu einer – so ließe sich in Anlehnung an Plessner und Hans Blumenberg sagen – ‚Arbeit am Sinn‘.
Die historische, kulturelle und gesellschaftliche ‚Arbeit am Sinn‘
Um diese Arbeit am Sinn in ihrer kulturellen Komplexität und Differenziertheit zu rekonstruieren, bedarf es einer historischen, ethnologischen und soziologischen Perspektive. Seit der ersten Hälfte des 20. Jh.s haben Vertreter der französischen Annales-Schule (Lucien Febvre, Robert Mandrou) darauf aufmerksam gemacht, dass historische Konfigurationen mit sinnlichen Wahrnehmungs- und Deutungsmustern in einem Wechselverhältnis gegenseitiger Hervorbringung, Stabilisierung oder Destabilisierung stehen. An ihre Theorien und Methoden knüpfen zeitgenössische HistorikerInnen der Sinne (wie Alain Corbin und Mark M. Smith) an.
Die noch weitgehend ungeschriebene (und wohl in weiten Teilen auch in Zukunft nur fragmentarisch zu schreibende) Geschichte der Sinne hätte nicht allein die unterschiedlichen Deutungsmuster, Sinngebungssysteme und diskursiven Kontexte zu untersuchen, in denen die Sinne beschrieben, kommuniziert oder diszipliniert werden; sie sollte auch vor dem hoch gesteckten Ziel nicht zurückschrecken, Sinnes-Praktiken der Vergangenheit zu erforschen. So hält Corbin es für durchaus möglich, etwas über die „Aufmerksamkeitsweisen, die Wahrnehmungsschwellen, die Geräuschbedingungen und das aus Erträglichem und Unerträglichem geschaffene Beziehungsgefüge“ (Corbin 1998:124), also die „sinnliche Organisation“ anderer Zeiten, zu erfahren. Er warnt jedoch erstens davor, diese Zusammenhänge ahistorisch vorauszusetzen, verweist zweitens darauf, dass die Spuren des Sinnesgebrauchs äußerst flüchtig sind und HistorikerInnen drittens leicht „dazu verleitet [werden], die Wirklichkeit des Sinnesgebrauchs mit dem von den Zeitzeugen vorgeschriebenen Bild dieses Gebrauchs zu verwechseln“ (Corbin 1998:129). Wo allerdings „unterschiedliche Wahrnehmungs- und Affektsysteme hart aufeinanderprallen, zeichnen sich die widerstreitenden Beziehungsgefüge bisweilen mit einer aufschlussreichen Genauigkeit ab“ (Corbin 1998:128).
Schon seit einigen Jahren hat sich die Ethnologie den Sinnen gewidmet. David Howes spricht gar von einem „sensual turn“ (Howes 2003:29), der der lange Zeit übersehenen oder zumindest vernachlässigten Beobachtung Rechnung trägt, dass die „sinnliche Organisation“ des Menschen in unterschiedlichen Kulturen voneinander abweichende Formen der Wahrnehmung und Deutung sowie differente Verbindungen und Hierarchien hervorbringt. Wie Corbin betont auch Howes die grundlegende Bedeutung sinnlicher Erfahrung für Kulturelle Bildung, warnt jedoch zugleich vor der Illusion, sich in die „sinnliche Organisation“ anderer Kulturen vollständig einfühlen zu können. Und er erinnert an die rassistische Vergangenheit ethnologischer Beschäftigung mit den Sinnen. So hat etwa Lorenz Oken im 19. Jh. die klassische Hierarchie der fünf Sinne in eine Hierarchie der Rassen übersetzt.
Schließlich gehen die Formen der „sinnlichen Organisation“ des Menschen auch auf die Formen seiner ‚gesellschaftlichen Organisation’ zurück – und umgekehrt: Der Antagonismus zwischen Sinnen und ‚Kultur‘ artikuliert den gesellschaftlichen Antagonismus zwischen verschiedenen Klassen und Gruppen, ihren Kampf um die Anerkennung sinnlich verfasster sozialer Lebenswelten und um die Durchsetzung politischer und kultureller Macht. Pierre Bourdieu, der vielleicht einflussreichste Soziologe der Gegenwart, hat sein opus magnum „Die feinen Unterschiede“ explizit als eine Soziologie entworfen, die nicht nur den Sinnen einen großen Stellenwert für die (wissenschaftliche) Beobachtung und Darstellung sozialer Prozesse einräumt, sondern darüber hinaus auch gegen eine sozial und politisch motivierte Disqualifizierung bestimmter Sinnlichkeiten eintritt. Er zielt auf einen Begriff von Kultur, der die Degradierung des sinnlichen Vergnügens und die Reduktion von Kultur auf die ‚high culture’ durchbricht. Und nicht zufällig spielt ein ‚niederer Sinn‘ dabei die Hauptrolle: „Ein umfassendes Verständnis des kulturellen Konsums ist [...] erst dann gewährleistet, wenn ‚Kultur‘ im eingeschränkten und normativen Sinn von ‚Bildung‘ dem globaleren ethnologischen Begriff von ‚Kultur‘ eingefügt und noch der raffinierteste Geschmack für erlesenste Objekte wieder mit dem elementaren Schmecken von Zunge und Gaumen verknüpft wird“ (Bourdieu 1982:17).
Die Sinnesmodalitäten
Schmecken
Die soziale Distinktion ist also eine Geschmacksfrage: Denn erst die ‚Arbeit am gustatorischen Sinn‘, die Kulturelle Bildung und soziale Differenzierung des Schmeckens zum Geschmack, heben das Essen vom (tierischen) ‚Fressen‘ ab. Beim Schmecken liegt damit die historische, kulturelle und gesellschaftliche Bildbarkeit des Sinnes auf der Hand – oder genauer: auf der Zunge.
Eine ernsthafte kulturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Schmecken steht allerdings – trotz der ihr von Bourdieu zugeschriebenen Bedeutung – noch aus. Bourdieus Arbeiten zum Geschmack aufgreifend, hätte sie zunächst einmal die vermeintlichen Selbstverständlichkeiten und Klischees zu hinterfragen, die dem Schmecken seine kulturelle Vielfalt nehmen. Inspirieren lassen könnte sie sich dabei von den EthnologInnen Paul Stoller und Cheryl Olkes, die nicht zuletzt durch das olfaktorische und gustatorische Erlebnis einer „sauce [that] smelled and tasted like bird droppings“ (Stoller/Olkes 1989:19) auf die Fährte einer Ethnologie der Sinne gelangten. Als höchst wirkungsvoller Ausdruck eines sozialen Konfliktes lässt diese Sauce nicht nur den europäisch schmeckenden EthnologInnen ‚Hören und Sehen‘ vergehen.
Riechen
Das Riechen ist nicht allein aufgrund seiner Beteiligung am Schmecken, dessen Feinheiten zu großen Teilen über Geruchsnerven wahrgenommen werden (vgl. Barlösius 1999:78ff.), eng mit letzterem verbunden. Wie dieses geht es einher mit einem zwar subtilen, aber doch recht stofflich-materiellen Akt der Inkorporierung. Und doch verlaufen über den in der oberen Nasenhöhle angesiedelten Nahsinn des Geruchs oft Akte der Distanzierung: Sich ‚nicht riechen zu können‘ schließt ja keineswegs den Austausch olfaktorischer Reize aus.
Welch große historische und soziale Sprengkraft das Riechen freisetzen kann, hat Alain Corbin exemplarisch gezeigt. Sein Buch „Pesthauch und Blütenduft“ zeigt, wie die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen zwischen Adel und Bürgertum, aber auch die soziale Ausgrenzung der ‚Armen‘, als sinnliche Inszenierungen aufgeführt werden und einen historischen ‚Sinneswandel‘ der olfaktorischen Bildung in Gang setzen: Die Protagonisten seiner Geruchsgeschichte sind die schweren, tierischen Duftnoten Moschus, Amber und Zibet, die im 19. Jh. sich durchsetzenden leichten, fruchtigen Blüten-Parfums, der „köstliche Hauch der individuellen Atmosphäre“ und sein Gegenteil, der „Gestank des Armen“ (Corbin 1984:188f.), den im 19. Jh. nicht allein das Prädikat ästhetischer Belästigung umweht, sondern in dem wissenschaftliche Nasen eine Bedrohung der Gesundheit, ja zuweilen sogar den Hauch des Todes wittern.
Fühlen und Tasten
Mit der Haptik verlassen wir die Sphäre der niederen, oft als animalisch geltenden Sinne und tasten uns langsam in die Gefilde jener Sinne vor, die trotz der traditionellen Abwertung der Sinne im Allgemeinen und der ‚niederen’ Nahsinne im Besonderen als einer gewissen Nobilität fähig erscheinen. So wird das Tasten und Fühlen in der europäischen Ästhetik, Philosophie und Anthropologie wiederholt (etwa bei Étienne Bonnot de Condillac, Herder oder Michel Serres) zur ‚stärksten‘ und ‚gründlichsten‘ (Herder) bzw. zur elementaren und eigentlichen Sinnesmodalität erklärt, auf die alle anderen zurückgehen.
Die nicht nur metaphorische Assoziierung der Haptik mit rationalen Vorgängen des ‚Be-Greifens‘ und ‚Er-Fassens‘, ihre insbesondere im 19. Jh. betonte Nähe zur Sphäre des Emotionalen (die Herkunft der ‚Rührung‘ aus der Berührung, des ‚Gefühls‘ aus dem Fühlen), aber auch der Hinweis darauf, dass die „sinnliche Organisation“ des Menschen sich an der offenen Grenze seiner tastenden Haut vollzieht, ziehen sich durch die anthropologische, philosophische und psychologische Beschäftigung mit den Sinnen (etwa bei Jean Piaget, Plessner, Maurice Merleau-Ponty oder Serres).
Dieser Wertschätzung des Taktilen als rationales, emotionales oder weltoffenes Vermögen des Menschen steht jedoch die Neigung zum allzu Sinnlichen, sprich: zur Erregung sexueller Lüste und tierischer, irrationaler Triebe entgegen, die dem Tasten, Fühlen und Berühren ebenfalls zugeschrieben werden. Dieser Aspekt und zugleich die historische und kulturelle Bildbarkeit der „sinnlichen Organisation“ zeigen sich auch in der modernen Pädagogik. Die taktile Berührung von Kindern oder gar das Streicheln und Küssen gelten lange Zeit als gefährliche und schädliche Erziehungspraxis (vgl. Synnott 2005); die pädagogischen ‚Berührungsängste‘ lösen sich erst in der zweiten Hälfte des 20. Jh.s, reichen aber bis in die Gegenwart hinein.
Hören und Sehen
Das Hören (siehe Marion Glück-Levi „Hören und sprechen lernen“) und das Sehen eint nicht nur ihre exklusive Zugehörigkeit zu den sogenannten Fernsinnen, sondern auch zu den ‚höheren‘ Sinnen, denen eine besondere Bedeutung für die Erkenntnis- und Verstandestätigkeit des Menschen zugemessen wird. Gleichwohl wird – auch in der kulturwissenschaftlichen Forschung – das Hören oft gegenüber dem Sehen vernachlässigt; erst in letzter Zeit und lange nach dem Einsetzen des visual turn macht sich auch so etwas wie ein acoustic turn in den Kulturwissenschaften bemerkbar (vgl. Schulze/Wulf 2007), etwa in der Frage nach der „Kultur als Resonanzraum“ (Lichau/Tkaczyk/Wolf 2009:20).
Besondere Bedeutung innerhalb der einsetzenden Beschäftigung mit auditiven Kulturen kommt der akustischen Konstruktion von Räumen zu. Auch hier hat Corbin in einer vorbildhaften Studie dargelegt, wie der Klang von Glocken soziale Räume hervorbringt und begrenzt, gliedert und strukturiert (vgl. Corbin 1995, insbesondere 139ff.). Die synchrone und das Territorium einende Wahrnehmung des Glockenklangs stiftete kollektive Identitäten (oder Konflikte) und übte eine soziale Bindungskraft aus, wie sie heute modernen Massenmedien zugeschrieben wird. In ähnliche Richtung zielen auch aktuelle Versuche, vergangene und gegenwärtige ‚Klanglandschaften‘ zu rekonstruieren und aufzuzeichnen. Zum Vorbild für wissenschaftliche ebenso wie für klangkünstlerische Arbeiten wurde das von Murray R. Schafer und seinen MitarbeiterInnen entworfene Konzept des „soundscape“ und ihr „World Soundscape Project“ (vgl. Schafer 1994).
Es kann, bei aller Vorsicht, Kritik und Relativierung, jedoch kaum einen Zweifel daran geben, dass das Sehen in den modernen europäischen Kulturen seit langer Zeit der vorherrschende Sinn ist. Seine kulturelle Bedeutung oszilliert dabei zwischen den Funktionen von Macht und Kontrolle, Wunsch und Begehren sowie Anschaulichkeit und Aisthesis.
Seit Beginn der Neuzeit und insbesondere im Zuge von Rationalismus und Aufklärung unterwirft das Auge die sichtbare Welt den Kategorien einer sprachlich verfassten Vernunft. Diese Entwicklung führt eine schon in der Antike einsetzende Tendenz zur Literalität fort, die das Sehen dem Einfluss der Schrift unterwirft und durch die Erfindung von Buchdruck und optischen Instrumenten nochmals verstärkt wird (vgl. McLuhan 1968). In den Disziplinaranstalten von Schule, Klinik und Gefängnis richtet sich der kontrollierende Blick auch auf die soziale Welt.
Doch mit dem Zunehmen optischer Beherrschung wachsen auch die Skepsis gegenüber der Hyperästhetik und der Hypertrophie des Sehens. Schon lange vor der aktuellen Klage über eine ‚Bilderflut‘ hat Martin Heidegger kritisch auf die Ubiquität und Einförmigkeit des ‚Weltbildes‘ hingewiesen (vgl. Heidegger 1950). Jacques Lacans einflussreiche Auseinandersetzung mit dem Spiegelstadium hat die Begehrensstrukturen aufgedeckt, die den Anmaßungen des Blickes zugrundeliegen und von denen das Subjekt sich nur scheinbar mithilfe seiner optischen Dispositive befreien kann. Dabei stellen Lacans Texte über das Spiegelstadium bezeichnenderweise selbst ein Beispiel für ein seiner Sinne nicht gegenwärtiges Denken dar, das noch im Nachweis des optischen Trugs seine Ohren verschließt und den Klang der Stimme überhört (vgl. hierzu Deleuze 1993:239f.).
Als Versuche, die Verbindung von visuellen Macht- und Begehrensstrukturen wahrnehmbar zu machen und ihnen nicht völlig zu verfallen, lassen sich Formen eines anschaulichen oder aisthetischen Denkens begreifen (vgl. Wulf 2010, 2009a).
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass eine Anthropologie der Sinne heute nur noch als eine historisch-kulturelle Anthropologie verstanden werden kann. Als Weiterentwicklung der Plessner‘schen Auseinandersetzung mit den Sinnen betont sie die historische, kulturelle und gesellschaftliche ‚Arbeit am Sinn‘: Der kulturelle und körperliche Ausdruck von Sinnesphänomenen, aber auch deren Wahrnehmung, zeichnen sich durch Relativität, Offenheit und Plastizität aus; die Sinne sind auf Kulturelle Bildung angelegt. Das bedeutet für eine aktuelle kulturelle Bildungspraxis, dass sie die Sinne nicht einfach als körperlich-materielle Objekte oder Substrate vorfindet, sondern selbst hervorbringt. Es gilt daher die kulturellen Stereotypen und Hierarchien einzelner Sinnesmodalitäten ebenso zu hinterfragen wie den Begriff der ‚Kultur‘ selbst, insofern dieser eine Tendenz zur Disqualifikation von bestimmten Formen ‚sinnlichen Erlebens‘ und damit zur ‚ästhetischen‘ Reduktion von Kultur in sich trägt.