Einführung der HerausgeberInnen
Warum ein Handbuch Kulturelle Bildung?
Die wachsende Aktualität und erweiterte Bedeutung Kultureller Bildung generell im deutschen und im internationalen Diskurs insbesondere nach 2000 ist evident. Vielerlei allgemeine und fachliche Analysen, Beschreibungen wie politische Stellungnahmen, Positionspapiere, Forderungen und Fördermodelle auf allen möglichen Ebenen zeigen dies nachweislich. Einzelne Sparten, Formate sowie Einrichtungstypen und Institutionskontexte haben in den letzten Jahren ein differenziertes und reichhaltiges, aber auch nicht mehr so recht überschaubares Feld Kultureller Bildung ausgebildet. Dieses entfaltet sich entsprechend lokaler, kommunaler, föderaler, nationaler und internationaler Dimensionen und in unterschiedlichen Politikfeldern sowie gesellschaftlichen Kontexten (Staat, Markt, Zivilgesellschaft). Den Überblick über die phänomenologische nahezu labyrinthische Komplexität können daher auch ExpertInnen kaum mehr haben.
Gesetzliche Grundlagen für Kulturelle Bildung etwa in der Spannweite von früher Bildung und Erziehung, Schule, Ausbildung und Erwachsenenbildung bis zur Kultur-, Jugend- und Sozialarbeit mit den entsprechenden Zuständigkeiten unter föderaler Kultur- und Bildungshoheit sind systematisch schwer durchschau- und nachvollziehbar. Mit Kultureller Bildung befasste Ausbildungen und Wissenschaften scheinen eher zufällig situativ, partial oder anwendungs-pragmatisch lehrend und vor allem häufig spartenspezifisch erkenntnisleitend tätig zu sein.
Dennoch: Kulturelle Bildung hat Konjunktur. Die Akteure im Feld entwickeln zunehmend in Theorie und Praxis programmatisch produktive Strukturen mit kreativen Innovationen und Qualitätsentwicklungen – so lautet zumindest die allgemeine und plausible Feldeinschätzung im Horizont der letzten Jahrzehnte und insbesondere in den letzten Jahren. Insofern ist es eigentlich überraschend, dass bisher kein Versuch für eine Gesamtübersicht zur Kulturellen Bildung, etwa in der bewährten Form eines Handbuchs, vorliegt. Dem soll dieser Erstversuch abhelfen, der nun ehrgeizig und in erstaunlich kurzer Zeit realisiert werden konnte: 176 Artikel von 181 AutorInnen auf über 1000 Seiten innerhalb von zwei Jahren!
Was ist eigentlich „Kulturelle Bildung?“
Die Definitionsfrage „Was ist Kulturelle Bildung?“ umfassend und allgemeingültig sowie in einer dem Handbuch zugrundeliegenden Definition zu beantworten, war und ist nicht Ausgangspunkt und Anspruch hier versammelter Beiträge. Das vorliegende Handbuch Kulturelle Bildung versteht sich vielmehr als ein erster Versuch, das „Universum Kulturelle Bildung“ in einer kollektiven und theoriefundierenden wie auch praxisdifferenzierenden Bestandsaufnahme Kultureller Bildung abzubilden und damit auch einen Beitrag zur definitorischen Präzisierung der Begrifflichkeiten und Handlungsfelder zu liefern.
Im Sinne der Pluralität als Prinzip bildet das Handbuch in systematischer Gliederung diskursive und heuristische aktuelle „Baustellen“ des umfassenden Feldes Kultureller Bildung ab. Dieser Orientierungsversuch betrifft auch die teilweise ungeklärte Vielfalt unterschiedlicher historischer Feldbezeichnungen wie: Ästhetische Erziehung/Bildung, musische Erziehung, Kinder- und Jugendkulturarbeit, Kulturpädagogik, Kunst- und Kulturvermittlung, Ästhetisches Lernen, künstlerische Kinder- und Jugendbildung sowie Begrifflichkeiten unterschiedlicher Sparten, Adressaten und einrichtungsspezifischer Teilfelder.
„Kulturelle Bildung“ als eine maximale und rahmende Feldbezeichnung, etwa in Differenz zu den Naturwissenschaften, der Mathematik und Sprache (Kontext PISA) oder zu den MINT-Disziplinen (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik) liegt ein Pluralitätsverständnis zugrunde, das den ästhetischen Phänomenen von Künsten, Kulturen, Sinneswahrnehmungen, Symbolwelten und Medien mit historischen wie je sich wandelnden aktuellen Phänomenen und Erfahrungs- bzw. Wirkungsformen gerecht zu werden versucht. Man kann – im Handbuch daher durchweg großgeschrieben – „Kulturelle Bildung“ auch als „Containerbegriff“ bezeichnen. Gemeint ist damit das gesamte Feld in der Schnittmenge von Kultur und Bildung. In der Bezüglichkeit und Wechselwirkung von „Ich“ und „Welt“, also der subjektiven wie der objektiven Seite von Bildung, meint Kulturelle Bildung einerseits den subjektiven Bildungsprozess jedes einzelnen wie auch die Strukturen eines Bildungsfeldes mit seinen zahlreichen Angeboten. Kulturelle Bildung bezeichnet also immer ein Praxisfeld, aber eben auch einen biografisch individuellen Bildungsprozess in, mit den und durch die Künste, eine Haltung oder ein sogar ein spezifisches Verständnis von Pädagogik.
Unser Handbuch Kulturelle Bildung ist damit weder ein reines Praxishandbuch noch ein theoretisch, begriffliches Lexikon. Es orientiert sich an dem Anspruch einer geordneten Zusammenstellung eines Ausschnitts des menschlichen Wissens und soll als Nachschlagewerk dienen. Im Gegensatz zu einem Wörterbuch ist es in fortlaufender Prosa verfasst und erhebt den Anspruch, einen spezifischen Ausschnitt der Wirklichkeit nahezu umfassend zu beschreiben. Das Handbuch Kulturelle Bildung spiegelt den Vermessungsversuch des Feldes und der Bezüge Kultureller Bildung aus unterschiedlichen Sichtweisen, Handlungs- und Reflexionsperspektiven, absichtsvoll als Kartographierung angelegt, wider. Dies legt jedoch gleichzeitig den Verzicht und Anspruch auf prinzipielle Widerspruchsfreiheit nahe. So finden wir unterschiedliche, den Betrachtungen zugrundeliegende engere und weitere Kulturbegriffe und unterschiedliche Interpretationen des Ästhetischen sowie der Rolle der Künste auch im Verhältnis zu deren je ethischen, sozialen und politischen Dimensionen. Antworten auf die Frage „Was ist Kulturelle Bildung?“ muss sich der Leser anhand der Texte damit selbst erarbeiten.
Wie ist das Handbuch Kulturelle Bildung entstanden? Wie ist es zu lesen?
Dem Gegenstand, insbesondere dem künstlerischen und transformatorisch Ereignishaften durchaus angemessen, entsprang dieses Handbuchprojekt einem ausgesprochen „fruchtbaren Moment“, einer günstigen Gelegenheit („kairos“) am richtigen Ort („oikos“) und damit eher intuitiver und zufälliger Kommunikation: Es war Ende November 2009 in der Akademie der Bildenden Künste in München. Eine anvisierte Möglichkeit ist nun Wirklichkeit geworden, schwarz auf weiß und im Ergebnis mit doppeltem Umfang wie vor dem Produktionsprozess ursprünglich geplant!
Das vorhandene Wissen vieler ExpertInnen wurde zusammengetragen und soll Entwicklungen, Herausforderungen und Potentiale der Kulturellen Bildung Standard setzend und qualitätssichernd aufzeigen und herausarbeiten. Die Auswahl der AutorInnen wurde gemeinsam mit einem bundesweit exzellenten Beirat vorgenommen. Durch dieses Auswahlverfahren repräsentieren die AutorInnen unterschiedliche Theoriebezüge und Wissenschaftsdisziplinen wie auch kompetente Praxisfelder, einschlägiges Fach-, Sparten- und Institutionswissen sowie entsprechendes didaktisches Handeln. Die Beiträge fallen entsprechend ihrem Sprachstil sowie vom Aufbau und der Argumentationsweisen allerdings dadurch durchaus unterschiedlich aus. Die Beiräte des Handbuches Kulturelle Bildung arbeiteten zusammen mit den HerausgeberInnen des Weiteren an der Auswahl und Formulierung von Themen für die einzelnen Beiträge und übernahmen zum Teil die Verantwortung für einzelne Kapitel (siehe Einführungen). Die Auswahl der Stichworte und Themen insgesamt und die Suche nach repräsentativen AutorInnen dafür war insofern ein langwieriger Prozess, als einige angefragte AutorInnen absagen mussten und manche Texte nicht dem objektivierenden Format und Anspruch eines Handbuchs entsprachen. Im Verfahren selbst kamen zudem immer wieder neue Stichworte dazu, für die weitere AutorInnen angefragt wurden.
Einige eigentlich unverzichtbare Themen wie ein Artikel zur Geschichte der Kulturpädagogik oder ein Artikel zur Kulturellen Bildung aus philosophischer Dimension oder die Bedeutung der Kirchen in der Kulturellen Bildung fehlen aufgrund dieses teilweise schwierigen, umfangreichen und zeitlich begrenzten Prozesses bedauerlicherweise in diesem ersten Aufschlag.
Folgende Gliederungslogik liegt dem Handbuch Kulturelle Bildung nun zugrunde:
Der Teil I „Theoretische Grundlagen Kultureller Bildung“ beschäftigt sich mit zentralen Begriffen und theoretischen Fundierungen der Kulturellen Bildung in vier Kapiteln: „Mensch und Kultur“, „Mensch und Bildung“, „Mensch und Künste“ und „Mensch und Gesellschaft“.
Der Teil II „Praxisfelder Kultureller Bildung“ systematisiert das Praxisfeld anhand der Kapitel: „Rahmenbedingungen und Strukturen“, „Handlungsfelder“ (geordnet alphabethisch nach Kunstsparten und Einrichtungsformen bzw. interdisziplinärer Handlungsfelder und Querschnittsthemen) „Kontexte“, „Adressatengruppen“, „Ausbildung, Weiterbildung, Professionalisierung“ und „Evaluation und Forschung“. Abschließend enthält das Handbuch einen Anhang mit der Auflistung institutioneller Akteure im Feld, eine Liste mit zentralen Stichworten, die in mehreren Artikeln bedeutsam sind und eine Orientierung nach Themen ermöglichen, sowie ein Autorenverzeichnis. Teil I und Teil II verfügen jeweils über ein eigenes Gesamtliteraturverzeichnis (siehe Markierungen an den Seitenrändern). Dem jeweiligen Artikelende selbst sind meist einige allgemeine Literaturempfehlungen zum Weiterlesen angefügt. Wo es uns inhaltlich passend erschien, sind Verweise auf andere Texte mit anschlussfähigen und weiterführenden bzw. differenzierenden Themen und Bezügen eingebunden. Für die einzelnen Artikel gab es die Empfehlung einer Gliederungsstruktur für die Darstellung der Inhalte nach Thema und Begriff, historischer Dimension, aktueller Situation sowie nach Perspektiven und Herausforderungen, die auch von vielen AutorInnen aufgegriffen wurde und den Lesefluss sowie die Orientierung erleichtern soll.
Für wen ist das Handbuch Kulturelle Bildung?
Die Adressaten des Handbuchs sind zunächst alle, die sich in der Regel professionell mit Kultureller Bildung befassen: PraktikerInnen, PädagogInnen, VermittlerInnen und KünstlerInnen, WissenschaftlerInnen, Ausbildende und Studierende und anderen Personen in Fort- und Weiterbildung. Ihnen, als interner Szene Kultureller Bildung, dienen die Stichworte zugunsten des objektivierenden und vertiefenden Wissens über das eigene Handlungsfeld entsprechend der Option einer umfassender Kartographie der Landschaften und Territorien Kultureller Bildung. Aber auch LeserInnen, die – fachfremd – einen ersten Einblick in die Szene Kultureller Bildung gewinnen möchten, sind angesprochen. Das Handbuch wendet sich also, fachliche, gesellschaftliche und wissenschaftliche Kultur-, Sozial- und Bildungskontexte identifizierend und vermittelnd, auch an externe Diskurs- und Handlungsfelder, Fachlichkeiten und Symbolsysteme, politische Entscheidungsträger, Wissenschaften sowie Personen in Öffentlichkeitsarbeit und Pressestrukturen.
Wie geht es weiter?
Als erster Versuch und Premiere eines Handbuchs Kultureller Bildung ist die weitere qualifizierende und präzisierende Bearbeitung eine Selbstverständlichkeit. In welchem Rahmen und in welcher Form innerhalb eines engen Theorie-Praxisverbundes dies möglich sein wird, ist derzeit noch offen. Es besteht dazu allerdings bereits die Konzeption einer auf den Inhalten des Handbuches beruhenden dialogischen Online-Plattform, die von den HerausgeberInnen in der Anlage entworfen wurde. Auf dieser soll die weitere partizipative Karthographierung und (wissenschaftliche) Qualifizierung des Feldes Kultureller Bildung redaktionell begleitet, fortlaufend und stetig aktualisierend möglich werden. Zu erwähnen ist schließlich noch, dass dieses Handbuch im Rahmen der BKJ-Reihe „Kulturelle Bildung“ (Vol. 1-30) im kopaed-Verlag erscheint. Zu hoffen ist, dass damit auch Impulse für weitere Veröffentlichungen zur detaillierten Vermessung und Entwicklung des kulturpädagogischen und kulturvermittelnden Feldes gegeben werden.
Dank
Ein derartiges erstmaliges und einzigartiges Produkt gelingt nur in sehr konstruktiv-kollegialer Zusammenwirkung Vieler. Hier gilt es Dank zu sagen!
Als erstes und entsprechend der auslösenden Initiative ist der Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM), insbesondere Staatsminister Bernd Neumann und sein Mitarbeiter Dr. Sebastian Saad zu nennen. Ohne diese wohlwollende und sehr hilfreiche Unterstützung über den gesamten Produktionsprozess hätte dieses Werk nicht entstehen können.
Von Anfang an und über den Zeitraum 2010-2012 als aktive BegleiterInnen und qualifizierte AutorInnen tätig, ist dem Handbuchbeirat zu danken, der namentlich und in alphabetischer Reihenfolge wie folgt zusammengesetzt war: Dr. Karl Ermert (Wolfenbüttel), Prof. Dr. Max Fuchs (Remscheid), Christel Hartmann-Fritsch (Genshagen/Berlin), Prof. Dr. Burkhard Hill (München), Prof. Dr. Birgit Jank (Potsdam), Peter Kamp (Münster/Unna), Prof. Dr. Eckart Liebau (Erlangen), Prof. Dr. Birgit Mandel (Hildesheim), Prof. Dr. Wolfgang Sting (Hamburg) und Prof. Dr. Rainer Treptow (Tübingen). Der Produktionsprozess wurde tatkräftig von Franziska Isabelle Schönfeld unterstützt, die nicht müde wurde in der manchmal aufwendigen und langwierigen Korrespondenz mit den AutorInnen.
Die Buchproduktion selbst im kopaed-Verlag verlief Dank der solidarischen und effizienten Kooperation mit dem Verleger Ludwig Schlump reibungslos und aufmunternd: ein deutliches Dankeschön!
Und natürlich wäre alles nichts, wenn nicht die Vielzahl fachlich kompetenter und für das Handbuch engagierter AutorInnen die inhaltliche Substanz geliefert hätten – unentgeltlich und unter manchmal zeitlich schwierigen Bedingungen: Allen herzlichen Dank!
Bleibt zu wünschen, dass dieses Handbuch den Akteuren und Interessenten im pluralen Feld Kultureller Bildung, insbesondere aber auch der nachwachsenden professionellen kulturpädagogischen und kulturvermittelnden Generation nützt im gemeinsamen Interesse von Entwicklung, Qualifizierung und Fundierung Kultureller Bildung im Kontext von Kunst, Kultur, Ästhetik, Medien und Bildung, Vermittlung, Lernen und Lehren insgesamt.
Hildegard Bockhorst, Prof. Dr. Vanessa-Isabelle Reinwand, Prof. Dr. Wolfgang Zacharias
Remscheid/Hildesheim/München im September 2012
Anmerkung: Dieses Vorwort wurde erstmals im Handbuch Kulturelle Bildung (2012) abgedruckt und unverändert übernommen.