Zwischen Sozialistischem Realismus und künstlerischer Autonomie: Das Literaturinstitut „Johannes R. Becher”
Abstract
Der Artikel gibt Einblicke in die bisherige Forschung zum Literaturinstitut „Johannes R. Becher“ und setzt sich mit der Geschichte der Institution, ihrer kulturpolitischen Prägung und den dort entstandenen Texten auseinander. Da es zwischen 1955 und 1993 das einzige Literaturinstitut im deutschsprachigen Raum war, kommt ihm für die Vermittlung des literarischen Schreibens eine Vorreiterrolle zu: Das ist nicht zuletzt durch die zahlreichen Autor*innen dokumentiert, die dort studierten wie Werner Bräunig, Angela Krauß oder Katja Lange-Müller. Versucht man allerdings retrospektiv, das Konzept ‚Literaturinstitut‛ vom Becher-Institut aus zu denken, so gilt es, DDR-typische, streckenweise problematische kulturpolitische Rahmensetzungen zu berücksichtigen. Zur Rekonstruktion der repressiven wie der produktiven Einflüsse schildert der Artikel die kulturpolitischen Kontroversen um das Institut in den 1950er-Jahren. Er erläutert dessen erneuerndes Potenzial, aber auch seine Funktion für eine sozialistische, auf eine Deutsche Nationalliteratur zielende Agenda. Anhand von Textbeispielen von Autor*innen lässt sich nachzeichnen, welche Spielräume für die Studierenden am Institut trotz allem bestanden und wie sich die Setzungen früherer Jahre allmählich lockerten. Abschließend wird diskutiert, worin die produktiven Impulse am Becher-Institut für die Zukunft zu suchen sind.
Das Institut für Literatur „Johannes R. Becher” ‒ Ein Experimentierfeld
Von 1955 bis zu seiner Abwicklung 1993 war das Literaturinstitut „Johannes R. Becher” in Leipzig die singuläre Ausbildungsstätte für Autor*innen im deutschsprachigen Raum. Es brachte Autor*innen wie Erich Loest, Ulrich Plenzdorf, Ralf Giordano, Werner Bräunig, Angela Krauß, Katja Lange-Müller, Kurt Drawert oder Ronald M. Schernikau hervor sowie zahlreiche weitere, heute teils vergessene Autor*innen.
Obwohl die explizite Zielsetzung des Instituts darin bestand, die ideologische und künstlerische Ausbildung von Schriftsteller*innen im Sinn des Sozialismus zu fördern, kann es als geschichtlicher Vorläufer späterer Formen der Autor*innenausbildung im deutschsprachigen Raum gelten. Allerdings war das Konzept ‚Literaturinstitut’ schon in der DDR umstritten: Bereits sein Namensgeber, der Lyriker und erste Kulturminister der DDR Johannes R. Becher (1891-1958), bezweifelte, dass literarisches Können erlernbar sei. Das Becher-Institut stand von Anfang an unter einem enormen Erfolgs- und Legitimationsdruck. Hier musste der Beweis erbracht werden, dass man Autor*innen ausbilden konnte, die erfolgreich waren und zugleich sozialistischen Ansprüchen genügten.
Die Lehrpraxis am Institut weist insofern Parallelen zu Konzepten Kultureller Bildung auf, als dass nicht nur professionelle Schriftsteller*innen ausgebildet werden sollten. Durch das Wirken all seiner Absolvent*innen in verschiedenen kulturellen Institutionen und an der Schnittstelle unterschiedlicher Medien – Literatur, Hörfunk, Fernsehproduktion, Fotografie, Bildende Kunst – sollte im Nachraum der Bitterfelder Konferenzen ein ganzheitliches wie partizipatives Kulturverständnis an Strahlkraft entwickeln, das damals − und hier enden die Parallelen − allerdings politisch-zentralistisch gesteuert wurde.
Kennzeichnend für das Literaturinstitut war ein prägender Widerspruch: Einerseits wurde von den Autor*innen und Dozent*innen die Orientierung am Sozialistischen Realismus und an der Ideologie der SED erwartet – Volksnähe, Einfachheit und Klassenbewusstsein waren wichtige Schlagworte. Andererseits musste man den Beteiligten jenes gewisse Maß an künstlerischer Freiheit zugestehen, das für die Produktion von Literatur unerlässlich ist.
Während der knapp vierzigjährigen Institutsgeschichte wurden starre sozialistische Dogmen – die Ablehnung bürgerlicher Literatur und der als ‚dekadent’ geltenden Werke der Klassischen Moderne (vgl. Treichel 2016:530-548) – immer wieder unterlaufen, nur um dann erneut umso restriktiver gehandhabt zu werden. Dies geschah aus der Angst heraus, die politische Kontrolle über Literatur und Kulturschaffende zu verlieren. Und diese ‚Kontrolle’ muss durchaus wörtlich verstanden werden: Unter den Studierenden und Dozenten fanden sich informelle Mitarbeiter*innen der Staatssicherheit der DDR.
Die Grenzen zwischen Erlaubtem und Zensur waren am Institut für Literatur „Johannes R. Becher” fließend, gerade in den frühen Jahren. Was in einem Augenblick als sozialistisch und progressiv gelobt wurde, konnte schon kurze Zeit später einen Eklat verursachen – so im Fall des bis dahin als parteitreu geltenden Autors Werner Bräunig, dessen 1965 erschienenes Fragment aus dem Roman „Rummelplatz” plötzlich zersetzender Tendenzen bezichtigt wurde (vgl. Bretschneider 1998). Der Autor brach seine Arbeit am Roman daraufhin ab, verstummte beinahe und verfiel letztlich dem Alkohol.
Trotz der restriktiven Vorgaben spiegeln sich auch die Vielstimmigkeit und der Facettenreichtum der DDR-Literatur in der Geschichte des Instituts wider. Die dort produzierten Texte entsprechen in den 1950er-Jahren noch der schablonenhaften Ästhetik der Aufbauliteratur, später in den 1960er- und 1970er-Jahren wurden Tendenzen des Bitterfelder Weges, der Ankunftsliteratur und der Lyrikwelle aufgegriffen und in den 1980er-Jahren standen die Abschlussarbeiten ganz im Zeichen experimenteller und postmoderner Strömungen.
War das Becher-Institut für einige Autor*innen ein Hort der staatlichen Indoktrinierung – Autor*innen wie Adolf Endler, Helga M. Novak, Gert Neumann oder Andreas Reimann wurden als Abweichler*innen exmatrikuliert (vgl. Lehn/Macht/Stopka 2018:218) –, bot es für andere eine kostbare Möglichkeit, ihr eigenes Schreiben zu erproben. Hier konnten Texte mit denen der anderen Studierenden verglichen, neue Möglichkeiten des Schreibens ausgelotet und Kontakte geknüpft werden. Zum Lehrplan, der als Inspirationsquelle dienen sollte, gehörten Fächer wie Ästhetik, Stilistik, Deutsche Literatur, Russische Literatur und Weltliteratur. Spricht man von den Vorzügen der Ausbildung sollte nicht unterschlagen werden, dass diejenigen, die am Becher-Institut studieren durften, mit einer damals großzügigen Summe von bis zu sechshundert Mark im Monat unterstützt wurden – dieser Betrag entsprach dem Stipendium, das alle Studierenden bei entsprechender Leistung in der DDR erhielten –, denn auch Autor*innen, die bereits eine Familie zu ernähren hatten, sollten sich auf diese Weise gänzlich dem Schreiben widmen können.
Mit all seinen widersprüchlichen Tendenzen und Konflikten lässt sich das Literaturinstitut „Johannes R. Becher” am ehesten als ein ‚Experimentierfeld’ charakterisieren.
- Es stellte erstens ein ambitioniertes Experiment dar, um mit bürgerlichen und genieästhetischen Traditionen zu brechen.
- Zweitens eröffnete das Institut den Studierenden einen sich ständig wandelnden Spielraum, der sich aus dem Mit- und Gegeneinander von Eigensinn und Normierung, individuellem Ausdruckswillen und staatlicher Zensur ergab.
- Und drittens durften die Autor*innen vor allem der späteren Jahrgänge in ihrem Studium experimentieren, um ihre eigene literarische Stimme zu entwickeln.
Von diesen Freiheiten zeugen auch viele der literarischen und theoretisch-essayistischen Abschlussarbeiten der Absolvent*Innen, die seit 2021 in Form digitaler Faksimiles auf dem Portal „sachsen.digital” einsehbar sind und auszugsweise in der Anthologie „Experimentierfeld Schreibschule: Texte aus dem Literaturinstitut der DDR ‚Johannes R. Becher’ 1955-1993” veröffentlicht wurden (vgl. Sammlung 1/ Weirauch 2020).
Aus heutiger Sicht stellt sich die Frage, inwiefern dieses Experiment gelang oder scheiterte ‒ und welche Bedeutung dem Becher-Institut heute noch zukommt. Um dies zu klären, muss auf die Spezifität des Becher-Instituts als DDR-typische Einrichtung mit den damit verbundenen kulturpolitischen Weichenstellungen eingegangen werden; aber ebenso auf seine Parallelität zu heutigen literarischen Institutionen, an denen durchaus Kritik geübt wurde und wird. Diese Kritik werde ich nun anhand der Diskussionen um das Becher-Institut aufgreifen, bevor ich danach auf dessen DDR-spezifische Ausrichtung eingehe. Für diese Rekonstruktion beziehe ich mich auf die 2018 von Isabelle Lehn, Sascha Macht und Katja Stopka verfasste Monografie „Schreiben lernen im Sozialismus”, in der die Institutsgeschichte umfänglich rekonstruiert wurde.
Sozialismus, künstlerische Meisterschaft und Zweifel am Nutzen
Bereits der erste Direktor des Becher-Instituts, Alfred Kurella, betonte in seiner Eröffnungsrede „Von der Lehrbarkeit der literarischen Meisterschaft” am 30. September 1955 dessen Innovationscharakter. Zum „ersten Mal in der deutschen Kulturgeschichte”, so Kurella, nehme eine „Lehr- und Studienanstalt zur Fortbildung des schriftstellerischen Nachwuchses” ihren Betrieb auf (Lehn/Macht/Stopka 2018:31). Kurella sprach in seiner Rede sodann einen Einwand an, der auch in Diskussionen um gegenwärtige Schreibschulen auftaucht: Es sei selbstverständlich „daß Maler und Bildhauer Kunsthochschulen und Akademien absolvieren, daß Komponisten das Konservatorium besuchen und Architekten lange Jahre an Bauhochschulen studieren. Bei all diesen Künsten nehmen wir die Lehre nicht nur als selbstverständlich, sondern als notwendig hin. Nur beim Schriftsteller, beim Dichter machen wir eine Ausnahme.” (ebd.:31).
Kurella reagierte damit vorbeugend auf mögliche Kritik am Institut, das u.a. von seinem unfreiwilligen Namensgeber, dem Kulturminister Johannes R. Becher, ironisch als „Dichterschule” betitelt wurde (Lehn/Macht/Stopka 2018:31). Als erste Gründungspläne publik wurden, notierte Becher in seinem Tagebuch: „Ein tolles Stück. Der noch zu gründenden Akademie der Künste wird ein Entwurf zur Bildung eines Literatur-Erziehungs-Instituts (Internats) eingereicht, als Mittel, realistische Kunst zu erzielen. Im Kampf gegen den Formalismus hyperformalistische Retortenexperimente” (ebd.:32). Unsinnig erschien Becher die Fokussierung auf den Sozialistischen Realismus wie auch die regelpoetisch grundierte Verengung auf formalisierte Muster.
Bechers Polemik knüpfte einerseits an die Kulturpolitik der 1950er-Jahre und die Formalismusdebatte an, in der bestimmte literarische Strömungen der Moderne als lebensfern, artistisch, bürgerlich, dekadent, ja als faschistisch diskreditiert wurden. Andererseits entstammte seine Kritik einem kulturgeschichtlich weiteren Kontext, in den sich auch die Kritik an gegenwärtigen Schreibschulen einreiht. Die Opposition von Ingenium und Ars – Begabung und Handwerk – geht zurück bis auf Senecas Abwertung antiker Dichterschulen. Sie wurde später unter anderen Vorzeichen wieder aufgegriffen; in der Abgrenzung der Genieästhetik des Sturm und Drangs von den Regelpoetiken des Barock sowie später in der Romantik (vgl. Lehn/Macht/Stopka 2018:33).
Schon in der Anfangsphase des Becher-Instituts versuchte man, die beiden Spannungspole von gegebenem Talent und erlernbarem Handwerk zu versöhnen. Der spätere Minister für Kultur, Alexander Abusch, betonte in seiner Rede „Sinn und Zweck eines Instituts für Literatur”, es könne nicht darum gehen, Begabung „durch eine gute Ausbildung [zu] ersetzen” (Lehn/Macht/Stopka 2018:34). Auch Kurella unterstrich: „Begabung als solche [sei] nicht lehrbar” (ebd.:34). Alle großen Künstler*Innen seien vielmehr zu dem geworden, „als was wir sie kennen, indem sie einen großen Teil ihrer Energie und ihrer Fähigkeiten auf dieses mühsame Lernen, auf den unendlichen Prozeß der Auseinandersetzung des Eigenen, Persönlichen, Einmaligen mit den konventionellen Elementen der Kunst, mit dem Traditionellen verwendet” (ebd.:35) haben.
Diese kulturkämpferische Haltung kann aus heutiger Sicht leicht als Bruch mit elitären Vorstellungen bürgerlicher Kunst begriffen werden und besaß hinsichtlich kulturpolitischer Belange der DDR einen exemplarischen Charakter – man denke an die beiden Bitterfelder Konferenzen 1959 und 1964 und an die in den Slogans „Erstürmt die Höhen der Kultur!” oder „Greif zur Feder, Kumpel!” kristallisierte Forderung, einer Aneignung von Literatur und vor allem der Klassiker durch die werktätige Bevölkerung (vgl. Barck/Wahl 2007; siehe: Rüdiger Bernhardt „Schreibende Arbeiter und ihre Zirkel – Erwartungen, Praxis und Ergebnisse"). Kritisch bleibt allerdings einzuwenden, dass hiermit eine bürgerliche Agenda durch eine der sozialistisch-kulturpolitischen Kontrolle überformt wurde. Wenn Kurella vom „mühsame[n] Lernen”, von „Energie” und von „Fähigkeiten” im Zuge der literarischen Ausbildung spricht, dann sind dies keine zweckfreien Bildungsideale, sondern erinnern an die DDR-Staatsideologie der Aufbauphase mit ihrer Überstilisierung von Arbeit, Planbarkeit, Machbarkeit und Beherrschbarkeit (Lehn/Macht/Stopka 2018:35). Auch Kurellas Hervorhebung des Konventionellen und Traditionellen verwies auf die mehr konservativ grundierte Kulturpolitik der 1950er-Jahre, die trotz aller ideologischer Formeln keineswegs mit dem bürgerlich-klassischen Erbe brach, sondern dieses unter neuen Vorzeichen fortsetzte. Die Vorstellung einer sozialistischen Klassik ging einher mit einer ästhetischen Akzentsetzung nicht auf Aktualität, sondern auf Rückwärtigkeit, in der die Gegenwart als „verlängerte Vergangenheit” (Emmerich 2000:86) erschien. Es gab von offizieller Seite aus kaum ein Bewusstsein dafür, dass die humanistisch-klassischen Traditionen nach dem „Zivilisationsbruch” (Emmerich 2000:86) Auschwitz einen Teil ihrer Strahlkraft verloren hatten und auch kritischen Intellektuellen in Westdeutschland als diskreditiert galten – man denke an Adornos 1951 erstmals veröffentlichtes vermeintliches Verdikt, es sei barbarisch, nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben und dessen Zurückweisung u. a. durch Paul Celan (vgl. Kiedaisch 2001).
Mit dem Becher-Institut wollte die DDR-Kulturpolitik nicht nur den Kampf gegen den westlichen ‚Formalismus’ fortsetzen, sondern ebenso das kulturpolitische Projekt einer dezidiert deutschen Nationalkultur und -literatur, die, so Walter Ulbricht auf dem IV. Parteitag der SED von 1954, „neue volkstümliche Werke” hervorbringen sollte (Lehn/Macht/Stopka 2018:37). Literatur wurde als Medium zur Erziehung der sozialistischen Persönlichkeit zur „Bewusstseins- und Persönlichkeitsbildung” wie auch zur „Verwirklichung der sozialistischen Lebensweise” (ebd.:37) eingesetzt. In diesem Sinn hatten die Studierenden des Instituts ‚künstlerische Meisterschaft’ zu erlernen, um die internationale Strahlkraft der DDR und ihrer Literatur zu vergrößern. Mitte der 1950er-Jahre glaubte man noch an eine Wiedervereinigung Deutschlands unter sozialistischen Vorzeichen und dass die Literatur die Teilung überwinden könne, wenn es ihr gelinge, die „suchenden, fortschrittlichen, humanistischen Schriftsteller in Westdeutschland” (ebd.:38) anzusprechen. Es galt den Hegemonieanspruch einer „unteilbaren” (ebd.:38) deutschen Kultur zu verteidigen. Obwohl sich diese Hoffnungen spätestens mit dem Mauerbau 1961 zerschlugen, setzte man am Becher-Institut der „Barbarisierung, Verfälschung und Zerstörung” von Kunst und Kultur durch den Imperialismus ein „unerschütterliches Traditionsbewusstsein” (ebd.:38) entgegen.
Wie sich abzeichnet, bestand am Institut eine kulturpolitische Gemengelage, die auf Grund der politischen Vereinnahmung eine unmittelbare Übertragbarkeit der Lehrpraxis auf Formen der literarischen Ausbildung, wie sie heute stattfinden, allzu schwer erscheinen lässt.
Künstlerische Autonomie versus kulturpolitische Operationalisierung
In der Literaturforschung zur DDR wird angenommen, dass der Literatur in der frühen DDR ein vormoderner Systemstatus zukam. Die kulturpolitische Vergesellschaftung von Kunst sowie das Desiderat von „Planungsliteratur” (Emmerich 2000:48) führten in den ersten Jahren der DDR zu ihrer Reduktion auf einen didaktischen und kulturpolitischen Gebrauchswert, der noch nach 1989/90 als Argument gegen die DDR-Autor*innen verwendet wurde (vgl. Emmerich 2000:456; Bohrer 1990; Greiner 1991). Autor*innen sollten sich als Volkserzieher oder als Vertreter einer kulturpolitischen Avantgarde begreifen (vgl. Haase/UA 1976). In seiner „Kleinen Literaturgeschichte der DDR” beschreibt Wolfgang Emmerich die Entwicklung nach den 1950er-Jahren als „eine Emanzipationsbewegung [...], [die] sich aus [...] dem didaktischen Gestus [...] löst und [...] zu Haltungen des erkennenden Experimentierens, zum ästhetischen Text als Differenz zur Wirklichkeit, nicht als [...] Abbild findet” (Emmerich 2000:21). Dieser von Aporien, Widersprüchen und Rückschlägen geprägte Prozess eingeschränkter Modernisierung sei jedoch nicht stetig vonstatten gegangen. Er blieb vom Grundkonflikt zwischen Autonomisierungs- und kulturpolitischen Operationalisierungsbestrebungen gekennzeichnet (vgl. ebd.:40f.), materialisierte sich im Mit- und Gegeneinander von Autor*innen und Institutionen und markierte einen inneren Konflikt der ‚sozialistischen’ Autorschaft.
Ihren wesentlichen Ausdruck fand die Verklammerung von Politik, Kultur, Moral und Literatur während der DDR-Nachkriegszeit im Paradigma des Sozialistischen Realismus. Als Verdikt wirkte dieser noch lange nach, obgleich er definitorisch schwach umrissen war und „es [später] kaum noch ernstzunehmende Literatur gab, die sich daran orientierte” (Lehn/Macht/Stopka 2018:123). Einerseits wurden mit dem Begriff stilistisch-normative Setzungen wie Volkstümlichkeit, Einfachheit und Verständlichkeit eingefordert. Andererseits knüpfte die frühe DDR-Literatur keineswegs an sozialistisch-avantgardistische oder proletarische Traditionen an, sondern betrieb ein hochliterarisches Epigonentum (vgl. Emmerich 2000:391; Meyer-Sickendieck 2001). Wie bereits angemerkt, sollte eine sozialistische Klassik in Anlehnung an die humanistisch-bildungsbürgerlichen Traditionen des 18. und 19. Jahrhunderts – vor allem der Weimarer Klassik und der Literatur des Vormärz’ – entstehen (vgl. Emmerich 2000:84).
Die Wendung zum Erbe, zur „Meisterschaft” (Lehn/Macht/Stopka 2018:5) und zur Bewahrung ging mit einem oftmals verklärenden wie konfliktfreien Traditionsbezug einher. Das ‚Erbe’ verklammerte in der Nachkriegszeit kulturpolitische Desiderate mit identitäts- und erinnerungspolitischen Diskursen über den Erhalt der Errungenschaften eines sozialistischen Staates wie auch seines antifaschistischen Selbstverständnisses als „Sieger der Geschichte” (Emmerich 2000:131). Auch das Formalismusverdikt, das sich gegen Schreibweisen richtete, die als bürgerlich oder faschistisch diffamiert wurden, war eine Ausprägung dieses Bewahrertums. Es ermöglichte die Abgrenzung der DDR-Literatur zu der in der BRD beobachteten Entzauberung der kulturellen Sphäre (vgl. ebd.:41). Wenn auch die Verklammerung von kulturpolitischer Operationalisierung und ästhetischem Kulturkonservativismus in den sechziger, siebziger und achtziger Jahren allmählich gelockert wurde, so blieb sie doch – wie das Selbstverständnis der Autor*innen als Volkserzieher*innen – für die DDR-Literatur bis 1989/90 und darüber hinaus als positiver wie negativer Identitätsort bestehen – zum Begriff des Identitätsortes (vgl. François/Schulze 2001).
Dieser literaturgeschichtliche wie -soziologische Problemhorizont betrifft auch die Autor*innen des Instituts und die Frage, inwiefern dort eine gelingende Vermittlung literarischer bzw. kreativer Schreibkompetenz stattfand. Wo verliefen die Konfliktlinien von Gebrauchs-/Alltags- und Hochliteratur, Originalität bzw. Epigonalität und Epigonentum, Operationalisierung und Autonomisierung? Epigonalität – abgeleitet vom altgriechischen epígonos, d.h.: Nachgeborener – meint die kritische und produktive Auseinandersetzung mit traditionellen Vorbildern, während Epigonentum eine bloße Nachahmung im negativen Sinne beschreibt (vgl. Meyer-Sickendieck 2001). Die Eigendynamik künstlerischer Praxis am Becher-Institut wurde durch kulturpolitische Weichenstellungen beeinflusst; und teils negativ durch ein Übergewicht nicht-ästhetischer Systemlogiken – ausgehend von gelingender Modernisierung verstanden als funktionale Differenzierung und Ausprägung einer autonomen literarischen Wertsphäre (vgl. Habermas 1981:233).
Will man die Erfolge der literarischen Ausbildung am Institut bilanzieren, so muss man sich von den offiziellen Desideraten wie ‚Meisterschaft’ oder Sozialistischer Realismus lösen und nach solchen Impulsen suchen, die über bloßes Epigonentum, Konformität und die reine Abbildung von Wirklichkeit hinausgehen. Wie ich anhand einiger Beispiele demonstrieren werde, sind gerade jene Abschlussarbeiten hervorzuheben, die sich zwar mit den gesetzten Rahmenbedingungen auseinandersetzen, aber sich zugleich in kreativer wie eigensinniger Weise von ihnen zu emanzipieren versuchen. Welche Schlüsse daraus für die am Institut entwickelten Lehrmethoden und vorherrschenden Dynamiken für das Feld künstlerischer Bildung gezogen werden können, werde ich in einem abschließenden Fazit darlegen.
Die Abschlussarbeiten
Die angeführten Textbeispiele von Helmut Richter, Ulrich Berkes, Thomas Rosenlöcher und Gundula Sell beschränken sich trotz eines ungleich größeren Korpus’ von Abschlussarbeiten – so enthält der kürzlich digitalisierte Becher-Korpus knapp 474 literarische und theoretische Werke – auf die Gattung der Lyrik. Diese erlaubt aufgrund ihrer Kürze im Kontext dieses Artikels die Präsentation möglichst eindringlicher Beispiele. Überdies wird auch in der DDR-Forschung die Vorreiterrolle der Lyrik bei der Ausprägung ästhetischer und subjektiver Haltungen immer wieder betont, während auf Theaterstücken und Romanen in den fünfziger und sechziger Jahren ein viel größerer Formalisierungsdruck lastete, da den Gattungen durch ihren narrativeren Charakter ein streckenweise offiziöser gesellschaftspolitischer Repräsentationscharakter zukam (vgl. Emmerich 2000:226f.).
Wie ich darlegen werde, fand in den Texten der vier Autor*Innen eine affirmierende bis subversive Auseinandersetzung mit den normativen und ästhetischen Rahmensetzungen am Becher-Institut und in der DDR-Kulturpolitik statt. Die Ideale ‚künstlerischer Meisterschaft‛ und der Sozialistische Realismus wurden immer wieder aufgerufen, aber auch transformiert oder umgangen – ganz im Sinn eines produktiven Epigonalitätsdiskurses. Dass es sich um drei männliche und eine weibliche Autorin handelt, spiegelt nicht nur das gerade in den ersten Jahrzehnten ungleiche Geschlechterverhältnis wider. So sind im Korpus nur knapp 20 % Arbeiten von weiblichen Studierenden überliefert. Die Auswahl wurde bewusst getroffen, auch um die Öffnung und Akzentverschiebung der Schreibansätze in den Gedichten nachzuzeichnen.
Die literarische Abschlussarbeit Helmut Richters umfasst 25 Gedichte. Richter studierte von 1961 bis 1964 am Becher-Institut und war in der Nachwendephase, von 1990 bis 1992, dessen Direktor. Richter trat hauptsächlich als Lyriker in Erscheinung und als Liedtexter – er war Autor des Songtextes von „Über sieben Brücken musst du gehen” der Rockgruppe Karat, der durch Peter Maffay interpretiert auch in der BRD ein Hit wurde. In seiner Abschlussarbeit greift Richter ideologische und kulturpolitische Topoi auf. Sie werden romantisiert, bisweilen affirmiert, allerdings auch ironisiert. So etwa in dem Gedicht:
ERNSTGEMEINTER RATSCHLAG FÜR JUNGE DICHTER
Ihr solltet noch heute höchstselber
Euere rußgescheckten Gedankenkälber
Hinauf zu den fetten Klassikerweiden
Treiben.Dort ist jedes Gräslein exkursiert
Und jedes Käferlein ausgespürt ‒
Selbst was vom Stoffwechsel liegenblieb,
Wirkt dort antik.Da mögen den Kuhblick sie schweifen lassen
Über Gipfel und Wipfel und zwischendurch grasen,
Um später in Ruhe alles von neuem
PREISWÜRDIG WIEDERZUKÄUEN.
(Zitiert nach Weirauch 2020:77)
Das lyrische Ich wendet sich an eine junge, aufkommende Dichtergeneration: „Ihr solltet noch heute höchstselber / Euere rußgescheckten Gedankenkälber / Hinauf zu den fetten Klassikerweiden / Treiben.” Auf diesen Klassikerweiden, so heißt es, wirke selbst das, was vom Stoffwechsel liegen blieb, sprich: der Kuhmist, noch „antik”. In der letzten Strophe wird nicht mehr nur das Bild aufgerufen, die jungen Dichter seien Kuhhirten und Hüter der Klassiker, sie werden nun selbst zu jenen ‚Rindviechern’, die das bei den Klassikern Abgeschaute „PREISWÜRDIG WIEDERZUKÄUEN” haben.
Lesbar ist dies als selbstironischer wie auch als literaturkritischer Kommentar. Zum einen reiht sich Richter selbst in eine Traditionslinie ein und ‚käut’ diese, um in der Sprache des Gedichts zu bleiben, wieder – er selbst ahmt das Klassische ironisch in unreinen Reimen und mit mittelalterlich anmutenden Kadenzen nach. Zum anderen kritisiert er eine gegenwärtige Tendenz der sechziger Jahre. So herrschte in der DDR eine manchmal unkritische Verehrung für die Literaturgeschichte vor und für alles, was altmeisterlich und auch deutsch dünkte. Die Schattenseite einer solchen Verehrung des Klassischen ist das mechanische Wiederkäuen und die Verklärung des Alten. Richters Gedicht stellt den Versuch dar, jene übermächtigen Vorgaben ironisch aufzubrechen, ohne sich von ihnen jedoch gänzlich zu lösen – das Ergebnis ist ein kritischer wie unterhaltsamer Dialog, der sich mit dem Mittel der Ironie zwischen den Polen von Affirmation und Distanzierung, von Eigenständigkeit und Nachahmung bewegt.
Auch Ulrich Berkes, der von 1967 bis 1970 am Becher-Institut studierte, setzt sich kreativ mit dem monumentalen Anspruch sozialistischer Kulturpolitik und Ästhetik auseinander. Seine lyrische Poetik, die zwischen Einflüssen des Bitterfelder Weges und grotesk-surrealen Momenten schwankt, mündet aber nicht in eine konservierende Ironie. Sie spielt das Sakrale und Überhöhte des sozialistischen Klassizismus gegen das Profane und Alltägliche aus. So in dem Kurzgedicht „Anekdote”, in dem auf den Dozenten Georg Maurer eingegangen wird. Als Lyriker und Essayist, aber vor allem als Dozent hatte Maurer einen enormen Einfluss auf die Sächsische Dichterschule und u. a. auf Autor*innen wie Volker Braun sowie Sarah und Rainer Kirsch (vgl. Lehn/Macht/Stopka 2018:281-303). Maurer wird von vielen Absolvent*innen als wichtiger Mentor und herausragender Impulsgeber genannt, der sie dazu anregte, künstlerische Freiheiten zu nutzen und eine eigene, subjektive Stimme zu entwickeln.
Anekdote
Wenn Shakespeare käm und sagte: putz mir
die Schuhe, ich würde die Schuhe ihm
putzen, auch Brecht würd ich sie putzen,
obwohl, der ist nicht so groß wie Shake-
speare, aber ich würde, so sagte Georg
Maurer im Seminar Lyrik, ich sah seine
Schuhe, die braunen, die warn staubig(Zitiert nach Weirauch 2020:101)
Ähnlich wie in Richters Gedicht findet auch hier ein ironisierter Epigonalitätsdiskurs statt. Es soll sprichwörtlich in die Fußstapfen oder Schuhe eines anderen geschlüpft werden. Demgegenüber, so das kolportierte Maurer-Zitat, werde der sterbliche und gegenwärtige Dichter zu einem Schuhputzer. Dass Brechts Füße bzw. Schuhe nicht so groß gewesen seien wie jene Shakespeares – ob sich dies so verhält, lässt sich vom historischen Standpunkt vermutlich nicht mehr aufklären –, meint hier, dass Letzterer als Klassiker noch eine Gewichtsklasse höher steht. Demgegenüber erscheint dem lyrischen Ich und womöglich auch Ulrich Berkes, Georg Maurer als eine prosaischere Figur, die auf kein Podest gestellt werden muss und daher auch offenbar niemanden hat, der ihm die Schuhe polieren könnte – anders gelesen könnte die Zeile auch auf ein ‚Verstaubtsein’ Brechts deuten als Folge seiner Musealisierung durch die sozialistische Kulturpolitik. Zwar schweben die Klassiker als Fixsterne über der Gegenwart, doch trotz ihrer großen Ausstrahlung gibt es eine alltäglichere Wirklichkeit, auf die sich der Blick des gemeinen Dichters richtet. „Anekdote” verweist auf den bleiernen Kulturkonservativismus der DDR-Literatur, der keine Relativierung der Sphäre des Klassischen duldete; aber ebenso auf die Lebendigkeit einer neuen Subjektivität.
Auf ihre jeweils eigene Art versuchen beide Absolventen die Anregungen des Studiums und die kulturpolitischen Rahmenbedingungen (Sozialistischer Realismus, Klassizismus) produktiv aufzugreifen. Richters und Berkes Texte belegen, dass viele der heute noch hervorstechenden Texte ihre Eigenständigkeit dadurch behaupten, dass sie sich in kritischer oder reflektierender Weise zu literarischen Traditionen und kulturellen Rahmensetzungen verhalten. Dennoch dokumentieren sie damit auch deren Dominanz und Übergewicht. Wobei nicht unterschlagen werden soll, dass sich die Abschlussarbeiten durchaus nicht nur an Vorbildern abarbeiten – diese Fokussierung ist auch dem Erkenntnisinteresse dieses Aufsatzes geschuldet.
In den siebziger und achtziger Jahren brachen sich Schreibansätze und ästhetische Haltungen Bahn, die der Sphäre des Klassischen und dem Sozialistischen Realismus ironisch-eskapistische oder auch mythisch-experimentelle Schreibweisen hinzufügten. Thomas Rosenlöcher, der zwischen 1976 und 1979 am Becher-Institut studierte, und der bekannteste der hier behandelten Autor*innen ist, knüpft ironisch und satirisch an romantische und moderne Traditionen an. Frei nach Eichendorffs berühmtem Vers „Schläft ein Lied in allen Dingen” (Eichendorff 2018:371) und in großer Nähe zu Rilkes Ding-Gedichten arbeitet er sich in seiner Abschlussarbeit an Gegenständen und auch an verdinglichten Körperteilen ab. Mit Eichendorff, Rilke und Becher befasste sich Rosenlöcher auch in seiner theoretischen Abschlussarbeit „Kommentare zu Gedichten von Rainer Maria Rilke, Josef von Eichendorff und Johannes R. Becher.” (vgl. Rosenlöcher 1979). In den Gedichten „An die Seife”, „An die Klopapierrolle” oder „An meine Nase” führen die Dinge ihr Eigenleben. Die Gegensätze, die der Autor dabei immer wieder umspielt, sind die zwischen banaler Alltäglichkeit und dem hohen Ton antikophiler Tradition. Im hymnenhaften Hölderlin-Ton heißt es in:
An die Seife
Seife, dich an mich verschwendend schwindest du mählich, bekleckert
Hab ich mich diesen Dienstag von oben bis unten und rieche.
Neu wirst du mich nie gebären, Schäumende, aus deinem Schaume
Tritt nur der Alte und trällert, ja, ja, die Gedanken sind frei.(Zitiert nach Weirauch 2020:143)
In der Parallelisierung des eigenen Waschens oder Duschens mit dem ikonischen Bild der aus dem Schaum aufsteigenden Venus bzw. Aphrodite wird die Bedeutung und Dignität mythischer Überlieferung und klassizistischer Tradition aufgerufen. Wie in der Marxschen Theorie des Warenfetischs ist die Seife als Venuszeichen zugleich mit Begehren aufgeladen, kann aber keine mythische Wandlung leisten, keine Verjüngung – heraus tritt nur „der Alte”. Das Trällern des vor allem nach den Karlsbader Beschlüssen von 1819 populär gewordenen Protestliedes „Die Gedanken sind frei” kann subversiv gelesen werden. Es verweist auf ein Moment der Unfreiheit, ja der (Selbst-)Zensur. Ist es also ein Ausdruck von Eskapismus, wenn der Dichter sich hier in die Ästhetisierung und Wiederverzauberung des Alltäglichen flüchtet? Das „ja, ja” kann als bestätigend, aber auch als zynisch verstanden werden. Es gibt dem Ganzen eine verdächtige Beiläufigkeit. Das Ich des Gedichts verweist auf Momente des Zwangs und des Epigonalen, handhabt diese aber souverän und spielerisch.
Die Lyrikerin Gundula Sell studierte am Becher-Institut von 1985 bis 1988. In ihren Gedichten wird u. a. eine weibliche Perspektive auf montane Arbeitswelten oder auf Produktionsprozesse eingenommen:
Bei der Arbeit
Quadratische Strophen, vier Linien, schwarz.
Die Farbe gespachtelt, sie klebt und glänzt.
Schwarze Kunst am Vormittag. Laut Vertrag.
Die Halbtöne ahnt man noch nicht.Die Diagonalen, die Kurbelstangen,
dreh ich, die Walzen treiben das Blatt
um Blatt, das so weiß unters Eisen geht
und kehr als ein andres zurück.Wie mit Scanner, der Himmel ist ausgedruckt.
Wie du träumst von der Zukunft, der Technik des
Druckens als Gegendruck, aber schon ist
die Fläche im Fenster nicht mehr glatt, sieh
die wie ein Sieb gerasterten Wolken in Druck.Die Erlaubnis verfallen, die Druckfarbe hart.
Wie sie sind, bleiben die weißen Bögen Papier.
Also schreib mit der Hand auf den Himmel weiter.(Zitiert nach Weirauch 2020:174)
Zwar finden sich in diesem Gedicht noch die für den Sozialistischen Realismus und die DDR-Kulturpolitik typischen Sujets: Arbeit, Produktion, Planbarkeit. Diese allerdings werden zusehends als eine Projektionsfläche aufgerufen, auf der sich mythisch-experimentelle Bilder und dichterische Imagination frei bewegen. Programmatisch heißt es in dem oben zitierten Gedicht: „Quadratische Strophen, vier Linien, schwarz. / Die Farbe gespachtelt, sie klebt und glänzt. / Schwarze Kunst am Vormittag. Laut Vertrag.” Der poetisierenden, dennoch nüchternen Beschreibung der Arbeit wird mit dem Verweis auf schwarze „Kunst” etwas Magisches, ja Okkultes zugeschrieben. Auch wird in synästhetischer Weise der Malvorgang mit dem Akt des lyrischen Schreibens enggeführt. Es vermengen sich Geometrie, Musik und Lyrik: Von quadratischen „Strophen” ist die Rede, vier schwarzen „Linien”, wie die einer Gedichtstrophe, aber auch von „Halbtöne[n]”.
Wie in Richters Lyrik findet auch hier eine Auseinandersetzung mit dem regelpoetisch-epigonalen Diskurs sowie mit dem auftragshaften Schreiben ausgehend von einer Institution statt. Die „Kunst” ist wie durch einen „Vertrag” entzaubert, also regelhaft festgelegt. Dies entspricht der sozialistischen Vorstellung ökonomischer, kultureller und sozialer Planbarkeit. Das magisch-mythische Element markiert eine Gegenbewegung zu dieser hyperrationalistischen Durchdringung der Welt, des Lebens wie auch des Kunstschaffens. Auch in der zweiten Strophe kommt dies zur Geltung, wenn die Arbeit mit alchemistischen Prozessen und antiken Metamorphosen verglichen wird. „Die Diagonalen, die Kurbelstangen, / dreh ich, die Walzen treiben das Blatt / um Blatt, das so weiß unters Eisen geht / und kehr als ein andres zurück.” Nicht nur das Material erfährt eine Wandlung, es ist das lyrische Ich, das sich wie in Rilkes „Archaïscher Torso Apollos” durch die Konfrontation mit der Kunst verwandeln soll (vgl. Rilke 2006:483).
In Sells Lyrik kommt es aber nicht nur zu einem synästhetischen Wechsel, sondern ebenso zu einem des technischen Equipments. Beschreibt die erste Strophe ein händisches Malen und die zweite einen maschinellen Walzvorgang, so behandeln die dritte und vierte Strophe Varianten des Siebdrucks, die bereits an digitale Verfahren erinnern: „Wie mit Scanner, der Himmel ist ausgedruckt. / Wie du träumst von der Zukunft, der Technik des / Druckens als Gegendruck”. Die Möglichkeit, den Himmel auszudrucken, und die damit verbundene visuell-ästhetische Erfahrung beflügeln eine imaginative Utopie. Es kommt zu einer magisch anmutenden Vermischung von Farbe und Himmel: „Die Erlaubnis verfallen, die Druckfarbe hart. / Wie sie sind, bleiben die weißen Bögen Papier. / Also schreib mit der Hand auf den Himmel weiter”. Wie in der Bildform des Trompe-l’œil wird die trennende Rahmung von Bildkunst und Wirklichkeit aufgehoben. Das Gedicht setzt eine Grenzverwischung hin zur Utopie um. Mit „Die Erlaubnis verfallen” wird jedoch auch ein unerfüllbares Moment der Wirklichkeit markiert, möglicherweise gar eine Form der Zensur. Wie für die Abschlussarbeiten der achtziger Jahre charakteristisch, kommt im Gedicht eine Erfahrung der Entwirklichung zum Ausdruck. Es wird versucht, die utopischen Vorstellungen des Sozialismus, die damals an der Realität bereits gescheitert waren, in neue (ästhetische) Entwürfe zu überführen.
Das Institut für Literatur „Johannes R. Becher” – Historische Randnotiz oder Vorläufermodell für die Zukunft?
Die Frage nach dem Gelingen und Scheitern der kulturpolitischen Zielsetzungen des Becher-Instituts lässt sich nicht leicht beantworten. Mit Sicherheit belegen zahlreiche bekannte Absolvent*innen, aber auch interessante Texte heute vergessener Autor*innen, dass aus dem Institut relevante Werke und Talente hervorgegangen sind.
Es bleibt aber zu fragen, ob diese kreativen Impulse am Institut nun trotz oder wegen der anfänglichen kulturpolitischen Zielsetzungen freigesetzt wurden. Haben institutionelle Desiderate wie ‚Meisterschaft’, Traditionalismus und Sozialistischer Realismus für sich schon zu künstlerischen und literarischen Höhenflügen geführt? Oder waren es im Gegenteil die subversiven, ja rebellischen Autor*innen, die über die manchmal dröge wirkenden Vorgaben triumphierten?
Auch dies ist nicht immer einfach zu beantworten: Literarisches Talent ist auch in den Texten zu finden, die aus heutiger Sicht in problematischer Weise systemkonform erscheinen – so etwa in Helmut Baierls epischem Lehrstück „Die Feststellung” (1958), in dem das Thema der ‚Republikflucht’ inmitten der Aufbauphase allzu dialektisch-versöhnlich aus der Welt geschafft wird (vgl. Weirauch 2020:38-45). Auch Ronald M. Schernikaus experimenteller Montageroman „Legende” (1988) – der Autor siedelte noch in den späten 1980er-Jahren von West- nach Ostdeutschland über – zeugt von der sozialistischen Leidenschaft seines Verfassers; der Text ist aber durch seine polyphone, märchenhaft-groteske Form über jeden Zweifel des ideologischen Reduktionismus’ erhaben (vgl. Weirauch 2020:208-221).
Auffällig aber ist, dass ein paar der herausragenden Autor*innen wie Adolf Endler, Gert Neumann oder Helga M. Novak exmatrikuliert wurden und einige andere, mit denen sich das Institut schmückte, schon vorher erfolgreich waren und eher zur Selbstlegitimation berufen wurden – so wie Erich Loest oder Ulrich Plenzdorff (vgl. Lehn/Macht/Stopka 2018:65,130,140).
Trotzdem lassen sich zahlreiche Autor*innen anführen, die, auch wenn sie zuvor bereits geschrieben hatten, ihre Karriere am Institut bzw. im Anschluss an das Studium begannen: Werner Bräunig, Angela Krauß, Thomas Rosenlöcher, Kurt Drawert, Barbara Köhler, Katja Lange-Müller u. v. a. Haben diese Autor*innen also tatsächlich die gewünschte literarische ‚Meisterschaft’ erreicht oder meisterten sie es nicht vielmehr, sich mit den zunächst repressiven, später dann freieren Vorgaben auseinanderzusetzen und ihren eigenen Zugang zum Schreiben zu entwickeln – gewiss auch in konfliktreicher Auseinandersetzung mit Studierenden, Lehrangeboten, literarischen Traditionen und sozialistischen Realismuskonzeptionen.
Wie nun kulturpolitische Vorgaben, institutionelle Rahmensetzungen, alltägliche Praktiken und individuelles Können ineinandergriffen, das ist im Detail noch zu durchdringen und wohl für verschiedene Disziplinen von Belang. Etwa für die Erforschung gelingender Kultureller Bildung, für die Literaturwissenschaft bzw. -soziologie und für die Schreibforschung (vgl. Brinkschulte/Dengscherz/Doleschal u.a. 2020; Reckwitz 2016; Ruf 2016). Auch fehlt bisher ein institutioneller Abgleich zwischen heutigen Schreibinstitutionen und dem DDR-Institut, um näher bestimmen zu können, worin dessen Spezifik bestand und inwiefern Ausbildungsprozesse verschiedener historischer Kontexte verglichen werden können.
Eine solche Untersuchung müsste nicht nur die literarischen sowie theoretischen Texte des Becher-Korpus bezüglich ihrer philologisch-ästhetischen und poetologischen Geltung evaluieren, sondern ebenso die sozialen, kulturellen und didaktischen Praktiken am Literaturinstitut untersuchen sowie die Erfahrungen der Autor*innen als Zeitzeug*innen berücksichtigen.