Zur responsiven Leiblichkeit in Kunst und Bildung. Perspektiven für eine phänomenologisch orientierte Kulturelle Bildungsforschung
Abstract
Angesichts postdigitaler Kunstpraktiken stellt sich die Frage nach der Bedeutung des Körpers resp. Leibes als Bedingung für Wahrnehmungs- und Erfahrungsprozesse in der Kulturellen Bildung. Auf spezifische Art und Weise involvieren uns die Künste und thematisieren so Fragen des Ästhetischen im Kontext medialer, postdigitaler Wirk- und Machtmechanismen. Für die Forschung sind dies wichtige Impulse, weil sie verdeutlichen, dass kulturelle Bildungsprozesse nicht nur als kognitive und evaluative, sondern auch als körperliche und soziale Vollzüge zu verstehen sind. Der Beitrag erläutert, welchen Stellenwert dem Körper insbesondere in Situationen des Künstlerischen zukommt und zeigt Konsequenzen für eine aktuelle, phänomenologisch orientierte Kulturelle Bildungsforschung auf.
Kulturelle Bildung findet nicht nur in künstlerischen Situationen statt, die Künste stellen jedoch einen wesentlichen Bezugsrahmen für Kulturelle Bildungsprozesse dar. Dem vom Rat für Kulturelle Bildung definierten Verständnis folgend, das Kulturelle Bildung als Allgemeinbildung in den Künsten und durch die Künste versteht (vgl. Rat für Kulturelle Bildung 2014:12), diskutiert der Beitrag phänomenologische Perspektiven von Leiblichkeit in ihrer spezifischen Anbindung an die Künste, die nicht nur ein besonderes ästhetisch-künstlerisches Erfahrungsfeld eröffnen, sondern auch Konsequenzen für die Kulturelle Bildungsforschung bedeuten.
Wenn von Kultureller Bildung in und durch die Künste die Rede ist, dann verbindet sich damit ein Bildungsverständnis, dass u.a. in der Begegnung und Auseinandersetzung mit den Künsten spezifische Möglichkeiten ästhetischer Erfahrungs- und Denkweisen ausmacht, die anders nicht möglich sind und in denen wir insbesondere unser sinnlich-leibliches, nicht-propositionales Wissen entfalten können. Dabei erzeugen die Künste nach Jörg Zirfas Aufmerksamkeiten und Wahrnehmungsperspektiven für die Möglichkeit des Spiels zwischen eintauchendem Gewahrsein, symbolischer Interpretation, reflexiver Distanznahme und entwerfender Imagination (Zirfas 2012/2013). Angesichts zeitgenössischer, technisch-medialer Kunstpraktiken stellt sich die Frage, welchen Einfluss diese auf ästhetische Bildungsprozesse nehmen und welche Bedeutung hierbei dem Körper respektive Leib als Bedingung für Wahrnehmungs- und Erkenntnisprozesse zukommt.
In der bildenden Kunst hat die Bedeutung und Einbeziehung des Körpers eine lange Tradition, die von performativen bis hin zu aktuellen (post)digitalisierten Praktiken reicht. Anhand einer medial vermittelten, interaktiven Performancearbeit von Christian Falsnaes wird im Folgenden die Frage diskutiert, ob und wie in den Künsten die Verschränkung von körperlicher Involviertheit und medialer Distanzierung, von leiblicher Teilhabe und kognitiver Reflexion zum Ausgangspunkt von Bildungsprozessen werden kann. Über das konkrete Kunstbeispiel hinaus soll der These nachgegangen werden, dass auch postdigitale Kunstpraktiken ohne humane leibliche Referenz und Responsivität nicht denkbar sind, was wiederum die abschließende Frage aufwirft, welche Konsequenzen die Einbeziehung der phänomenologischen Dimensionen Körper/Leib für die Kulturelle Bildungsforschung hat (vgl. Waldenfels 2002; vgl. Westphal 2014; vgl. Westphal/Zirfas 2014).
Was wirklich wirkt. Anmerkungen zum Forschungsstand
Um nachzuvollziehen, welche Rolle der Körper als Bezugsdimension in aktuellen Forschungszusammenhängen zur Kulturellen Bildung einnimmt, lohnt zunächst ein kurzer, allgemeiner Überblick. Bei einer Sichtung der Forschung zur Kulturellen Bildung wird schnell deutlich, dass die Bedeutung Kultureller Bildung und deren Erforschung in den letzten Jahren eine enorme Förderung erfahren hat, die zweifelsohne ganz wichtig für ihre Akzeptanz und Professionalisierung ist. Es geht dabei allerdings nicht nur darum Kulturelle Bildung als eine grundlegende, anthropologische Dimension menschlicher Weltaneignung oder als ein Menschrecht anzuerkennen und zu fördern, sondern primär um einen intentionalen Anspruch, der vehement fragt, wie die Künste, wie Kulturelle Bildung wirkt (vgl. BMBF 2020; vgl. Rat für Kulturelle Bildung 2014). In der empirischen Forschung wird daher nichts unversucht gelassen, um den Künsten Effekte in Form einer Transferwirkung zuzuschreiben. So unterschiedlich die Studien zur evidenzbasierten Forschung auch sein mögen, erforscht wird vorzugsweise, ob sich Kulturelle Bildung positiv auf akademische Leistungen in anderen Fächern, individuelle Dispositionen oder gesellschaftliche Entwicklungsprozesse auswirken (vgl. Cohrdes/Grolig/Schroeder 2018; vgl. Rammstedt 2019). Der Gedanke der Wirkungsforschung hat allerdings zu einem folgenreichen Paradigmenwechsel in Forschung und Praxis Kultureller Bildung geführt. Max Fuchs hat in diesem Zusammenhang darauf aufmerksam gemacht, dass die Suche nach der „Wirkung“ von Kunst und Kultureller Bildung eine Verbindung zwischen der pädagogischen Praxis, den finanziellen Rahmenbedingungen, der politischen Steuerung und der wissenschaftlichen Ausrichtung herstellt (vgl. Fuchs 2016).
Wenn gefragt wird, was die Künste tun und wie Bildung in den Künsten für andere Bereiche wirkt, dann kommen wir aus künstlerischer wie bildungstheoretischer Perspektive in eine paradoxe Situation. Passen sich die Künste ihrer Bildungsaufgabe an und nehmen diese ernst, dann laufen sie Gefahr, ihre Autonomie zu verlieren, die es ihnen freistellt, quer zu anderen Denkweisen, also quer zu gesellschaftlich, politisch oder ökonomisch institutionalisierten Normen zu denken und alternative Welten zu entwerfen (vgl. Laner 2018:30). Iris Laner verdeutlich dezidiert, dass in der Folge die Künste sehr wahrscheinlich gemäß diesen Normen anfangen zu erziehen, und dadurch aufhören „Auslöser von Bildungsprozessen“ zu sein (Laner 2018:30). Die Unterwerfung der Künste unter die Ansprüche und Normen des Bildungssystems hat demnach nicht nur fragwürdige Folgen für die Eigenlogik der Künste an sich, sondern auch für die Qualität Kultureller Bildungsprozesse im Kontext der Künste.
Dabei kommt im evidenzbasierten Forschungsdiskurs zur Kulturellen Bildung die Dimension des Ästhetischen, die immer unseren Körper resp. unsere Leiblichkeit betrifft, viel zu kurz und die Frage, wie die Künste kulturell bilden. Die Einengung auf die Wirkungsdimension der Künste für andere und anderes (vgl. oben), vergisst dabei, künstlerische Bildungsprozesse als Voraussetzung für Erfahrungen und Praktiken zur Sprache zu bringen. Denn um nachzuweisen, dass die Künste etwas tun, wird es notwendig, einen konkreten Output zu erheben und zudem für einen konkreten Input zu sorgen, der auch noch vergleichbar und von anderen Variablen isoliert werden kann (vgl. Fuchs 2016; vgl. Laner 2018). Kunst wird dadurch grob vereinfacht. Übersehen wird, dass Kunst eine Praxis ist, die sich in situativen und interaktiven Kontexten als Prozess kultureller Reflexion und Produktion ereignet. Viele Kulturelle Bildungsprojekte machen es sich zur Aufgabe Zugänge zu den Künsten zu ermöglichen, nutzen künstlerische Praktiken oder nehmen selbst kunsthafte Züge an. Die Begegnung und Auseinandersetzung mit den Künsten bilden dabei spezifische Möglichkeiten für ästhetische Erfahrungs- und Denkweisen (vgl. oben), die anders nicht möglich sind und eröffnen auf diese Weise in und durch die Künste Zugänge zu gesellschaftlicher Teilhabe.
Zugleich werden durch ästhetisch-künstlerische Praktiken immer auch die Bedeutung und der Stellenwert des Körpers als Fundament unseres Wahrnehmens wie Erfahrens thematisch. Insbesondere zeitgenössische Kunstpraktiken stellen den Körper als Bedingung für Wahrnehmungs- und Erfahrungsprozesse ins Zentrum ihrer Arbeiten. Denn schon längst operieren die Künste nicht mehr im Modus einer werkimmanenten Distanz, sondern involvieren auf unterschiedliche Art und Weise, zunehmend unter Einbindung digitaler Medien das Publikum. Das hat Auswirkungen auf die Art und Weise nicht nur unserer Wahrnehmung von Kunst, sondern auch für unser Handeln in künstlerischen Praktiken und Feldern.
Die Analyse einer zeitgenössischen, intermedialen Performance erläutert im Folgenden exemplarisch, wie der Körper in künstlerischen Praxen adressiert und involviert werden kann. Dabei geht es zum einen darum, nachzuvollziehen, wie in diesem Beispiel Möglichkeiten und Wirkungen des performativ-präsentischen Körpers durch die künstlerische Inszenierung erfahren werden. Zum anderen spielen zusätzlich digitale Medien mit in die Situation hinein und beeinflussen dadurch das Geschehen wie Agieren der Körper im analogen, physischen Raum. Die Arbeit thematisiert daher eine Möglichkeit, wie in zeitgenössischen Kunstpraktiken Körperlichkeit in Verschränkung zu anderen, zum Ort, zu digitalen Medien und zur Situation involviert und bearbeitet werden kann.
Adressierung des Körpers in künstlerischen Praxen. Ein Beispiel.
In der interaktiven Arbeit „Moving Images“ (2015) des Performance-Künstlers Christian Falsnaes wird der Ausstellungsraum zum Handlungs- und Erfahrungsraum besonderer Art. Durch einen dunklen Vorhang gelangen die Besucher*innen von den weitläufigen Ausstellungsräumen des Museums in einen separaten, klassischen White Cube, in dem zwei Videos an gegenüberliegenden Wänden projiziert werden. Die Zwei-Kanal-Videoinstallation spielt zuvor gefilmte performative Inszenierungen mit verschiedenen Personen ab. Die Aufnahmen wurden in ebendemselben Ausstellungsraum gefilmt, in dem jetzt die Besucher*innen stehen und sich die Videos anschauen. In den Videofilmen agieren die Darsteller*innen mal alleine, mal zu zweit oder in Kleingruppen. Sie sprechen die Anwesenden mit ihren Blicken scheinbar direkt an. Manchmal schauen sie aber auch einfach über sie hinweg oder sind in Interaktion mit den anderen Darsteller*innen. Erweitert werden diese inszenierten Szenen durch scheinbar wahllos herausgegriffene Medienbilder sowie Party- und Tanzsituationen des Night-Live. Die eindringliche Stimme eines Sprechers aus dem Off, die über Lautsprecher eingespielt wird, ist zu hören. Er spricht die Besucher*innen im Ausstellungsraum direkt an, fordert sie auf, sich in Beziehung zu den Videoprojektionen zu setzen. Immer wieder gibt es Handlungsanweisungen von dieser Stimme, die so Einfluss auf ihre Zuhörer*innen nimmt und sie zu performativen Handlungen animiert. Man wird aufgefordert still zu stehen, zu tanzen, sich hinzuknien oder umherzugehen. Nach kurzer Zeit ist der Raum gefüllt mit Besucher*innen, die angelockt von der Stimme mitmachen und sich agierend im Raum verteilen (vgl. Hallmann 2018:162).
Im Verlauf performen sowohl die Besucher*innen im Ausstellungsraum als auch die Darsteller*innen in den Videos, mal gleichzeitig, mal abwechselnd, mal beobachten die Besucher*innen die agierenden Darsteller*innen aus den Videos, mal scheint es umgekehrt. Wiederholt gibt es unerwartete Cuts, wird die Videoprojektion unterbrochen und der Raum in einfarbiges Licht versetzt. Trotz Videounterbrechung bleibt die Stimme im Raum präsent und spricht zu den Besucher*innen, die mittlerweile zu Akteur*innen einer Performance transformiert sind. Sie werden aufgefordert, ihre soeben gemachten Erfahrungen mit bzw. in der Arbeit zu analysieren, die eigenen Reaktionen zu reflektieren und sich zu zweit oder in Gruppendiskussionen darüber auszutauschen. Dann läuft unvermittelt das Video weiter und schon sind die Besucher*innen wieder involviert, werden zu Akteur*innen und führen die Handlungsanweisungen aus, bis die nächste Reflexionsrunde instruiert wird (vgl. Hallmann 2018:163): Was geht hier vor sich? Was wird wahrnehmbar, was performativ erfahren? Was passiert, wenn man als Besucher*in einer künstlerischen Installation mit anderen selbst performativ agiert und was ändert es, jemanden beim Performen auf einer Videoprojektion zuzuschauen? Was wird sichtbar im Zusammenspiel der medialen Repräsentation von Körpern und der körperlichen Präsenz der Anwesenden im Raum?
Ein kurzer Exkurs in die Kunst der Performance erweist sich bei der Diskussion dieser Fragen als aufschlussreich und kann durch historische Bezüge dem Verständnis zeitgenössischer Kunstpraktiken im Schnittfeld ästhetischer Erfahrungsräume und digitaler Medialität beitragen. Der Titel „The Artist is Present“ (2010), einer Performance von Marina Abramovic scheint paradigmatisch für die klassische Performance zu sein, die den Körper als Medium entdeckte und sich in den 1960er Jahren als Kunstform etablierte. Statt wie in der Bildenden Kunst lange Zeit üblich, Artefakte her- und auszustellen, treten in der Performance an die Stelle materialer Gegenstände die handelnden und körperlich anwesenden Künstler*innen. Im Sinne eines Antagonismus zwischen „Leben und Tod“, den Derrida mit dem von „Präsenz und Repräsentation“ gleichsetzte (Derrida 2004), bestehen gerade die frühen Performer*innen auf Präsenz – bis hin zur eigenleiblichen Gefährdung (Schütz 2019: 50). Die klassische Performance definiert sich ganz entschieden über den Körper bzw. die körperliche Präsenz der Künstler*in. Auf diese Weise involviert sie die Besucher*innen in ihrer leiblichen Ko-Präsenz in den situativen und ethischen Moment der Performance. Wer anwesend ist, nimmt teil und trägt so nach Erika Fischer-Lichte (2012) prinzipiell Mitverantwortung für das, was sich währenddessen ereignet (ebd.:57).
In aktuellen Formen zeitgenössischer Performance beobachten wir hingegen ein Phänomen, dass sich durch eine Tendenz zum Verschwinden der körperlichen Präsenz der Künstler*in auszeichnet. Immer weniger agieren Künstler*innen selbst und statt ihrer, verwandeln sie andere, mal professionelle Tänzer, mal soziale Randgruppen, mal das Museumspersonal oder Publikum selbst in Akteure. Claire Bishop (2016) bezeichnet dies als „delegierte Performance“ und spricht polemisch von einem „Outsourcing an Laien“ (ebd.). Auch Christian Falsnaes delegiert in „Moving Images“ die Performance an die Besucher*innen, die dadurch erst die eigentliche künstlerische Arbeit realisieren. Aber „Outsourcing“ fasst die Sachen dann doch nicht vollends. Als entscheidend für das Verständnis der sich hierbei eröffnenden Wahrnehmungs- und Handlungsmöglichkeiten erweist sich in unserem Beispiel die Doppelung von Betrachter- und Performer*innenrolle, die sich in einer Person vereinen. So erhalten die Besucher*innen die Aufforderung immer wieder zwischen Wahrnehmung der körperlichen Repräsentation im Video und der eigenen körperlichen Präsentation der Aufführung im Ausstellungsraum hin- und herzuspringen (vgl. Gebbers 2015). Anders als in seinen frühen, eher traditionellen Performances agiert hier nicht mehr der Künstler Falsnaes vor oder mit dem Publikum, sondern ist abwesend, dirigiert aber durch die mediale Repräsentation seiner Stimme scheinbar mühelos die Besucher*innen im Raum. Und auch das Video mit den darin agierenden Körpern, die alltäglich gekleidet sind und teilweise die gleichen Handlungen durchführen zu denen die Besucher*innen angeleitet werden, affiziert und wirkt auffordernd (vgl. Hallmann 2018:164).
Falsnaes inszeniert dadurch eine immersive Situation, in der den Besucher*innen ihr eigener Körper als Teil eines sozialen Kontextes innerhalb einer künstlerischen Situation vorführt wird. Die Wirkungsmacht der visuell wie akustisch eingesetzten digitalen Medialität bestimmt dabei zentral das Geschehen und beeinflusst das situative Handeln der Besucher*innen. Zugleich legt ihnen Falsnaes immer wieder nahe, sich reflexiv mit ihren Handlungserfahrungen auseinanderzusetzen, während er sie im nächsten Moment wieder als Akteur*innen auffordert seine Performance zu realisieren. So bewegt sich die Arbeit in einem scheinbar endlosen Oszillieren zwischen Produktions- und Rezeptionsästhetik, zwischen Repräsentation und Präsenz, zwischen Aneignung und Befremden, zwischen Verstehen und Erfahren. Dabei ist zu bedenken, dass im Bewegen bzw. Performen in den genannten Spielarten die Besonderheit darin liegt, dass der Leib-Körper als Handlungsträger, Ausdrucks- und Wahrnehmungsmedium selbst daran beteiligt ist, was er hervorbringt.
Exemplarisch zeigt „Moving Images“ von Christian Falsnaes auf, wie in zeitgenössischen künstlerischen Praktiken in der Verschränkung zwischen leiblicher Präsenz und digitaler Medialität ästhetische Erfahrungs- und Bildungsräume eröffnet werden, die auch Momente von Reflexivität einschließen können. Der Körper resp. Leib spielt dabei eine entscheidende Rolle zum Verständnis ästhetisch-künstlerischer Wissensfelder in der gegenwärtigen, postdigitalen Kultur. Über das konkrete Kunstbeispiel hinaus stellt sich die Frage, worin Perspektiven der Einbeziehung und Analyse der Dimension Körper resp. Leib in den Künsten für die Forschung zur Kulturellen Bildung liegen.
Leib-phänomenologische Forschungsperspektiven
Bereits 2014 sprach der Rat für Kulturelle Bildung die Empfehlung aus, Qualitätsmerkmale für die Kulturelle Bildung aus den Künsten heraus zu gewinnen (vgl. Rat für Kulturelle Bildung 2014:93):
„Es sind die Künste, die in einzigartiger Weise, Erfahrungen mit Kontingenz, Ganzheitlichkeit, Leiblichkeit, Prozesshaftigkeit oder Mehrdimensionalität eröffnen. Daraus können Qualitätsmerkmale hervorgehen, die über ein rein instrumentelles Qualitätsverständnis hinausreichen.“ (ebd.)
Durch die Erfahrungen in der Auseinandersetzung und im Umgang mit den Künsten bilden sich Menschen ästhetisch und kulturell auf ganz spezifische Weise qualitativ weiter. Die Erforschung derartiger Bildungsprozesse muss ihre je einzigartigen Merkmale betonen und durch die Anwendung sowie Entwicklung entsprechender Forschungsmethoden herausarbeiten. Die seit einigen Jahren sehr dominant vertretene Frage nach dem Wirkungstransfer Kultureller Bildung für außerkünstlerische Qualifikationen, sollte daher wieder verstärkt um andere, kunstimmanente Dimensionen erweitert werden.
Hierbei erweist sich eine phänomenologische Forschungsperspektive als so hilfreich, weil es durch sie möglich wird, ästhetische Erfahrungen auch unter der Perspektive postdigitaler Phänomene und Medien zu bearbeiten. Jenseits symbolischer Vergegenwärtigung geht es der phänomenologischen Analyse darum, den Leib als Ort von Wahrnehmung und Bewusstseinsbildung zu berücksichtigen. So weist Bernhard Waldenfels darauf hin, dass unser Leib nicht blind auf Mechanismen reagiert, sondern auf einen Anspruch einer Situation antwortet. Als leibliche Wesen sind wir immer schon in die Welt verwickelt, bevor wir sie reflektieren können (vgl. Waldenfels 2002). In seiner Theorie der responsiven Leiblichkeit, legt er einen Erfahrungsbegriff zugrunde, der die Erfahrung als affektiv und leiblich grundiert verankert:
„Die Beachtung der Leiblichkeit unserer Erfahrungen relativiert die Bedeutung reflektierender Initiativen, in dem sie den Ansprüchen einer sinnlichen Welt ihr Recht zugesteht und die Doppeldeutigkeit unserer aktiven und passiven Existenz unhintergehbar ausweist.“ (Waldenfels 1994:216 f.)
Bezogen auf die kulturelle und in engerem Sinne ästhetische Bildung bedeutet dies so Kristin Westphal, diese nicht nur in erster Linie als eine Aktion, sondern auch als ein Widerfahrnis bzw. als ein Antwortgeschehen zu verstehen (vgl. Westphal 2014). In diesem Sinne erlaubt eine phänomenologische Analyse einen Anschluss auf die Frage, wie Erfahrungen als ein offener Prozess in künstlerischen Ereignissen und Inszenierungen organisiert und strukturiert werden kann. Gerade für die Erforschung Kultureller Bildungsprozesse ist diese Perspektive so relevant, weil es auch hier um eine Auseinandersetzung mit Wahrnehmungs- und Erfahrungsformen, also um das sinnlichen Wie geht (vgl. ebd.). Denn nicht durch die Frage, was eine künstlerische Arbeit oder kulturelle Praktik repräsentiert, sondern vielmehr in ihrem Wie kommt der Körper, seine responsive Leib- und Sinnlichkeit mit seinen vielfältigen Handlungs- und Erkenntnisformen ins Spiel – und diese Perspektive ist gerade heute überraschend relevant.
Zur Leiblichkeit in postdigitaler Kultur
Entgegen einer sehr verbreiteten Medienkritik, die uns ein Verschwinden des Körpers, eine Entsinnlichung bzw. sinnliche Abstumpfung hinter Bildschirmen prognostizierte (vgl. Duncker 1999:17), erweist sich der Körper nach wie vor als entscheidende Schnittstelle und Interface zwischen der Mensch-Computer-Interaktion (vgl. Gruß 2017:293). In diesem Zusammenhang hat Benjamin Jörissen einen aktuell sehr zentralen Aspekt von Körperlichkeit angesprochen, der verdeutlicht, dass die Digitalisierung nicht wie vermutet eine Entfremdung oder Entfernung von Körpern, Sinnen und Subjekten bedeute. Vielmehr definieren die Bedingungen postdigitaler Kulturen Körper, Sinnlichkeit und Subjektivität in einer bisher ungeahnten Weise ganz neu (vgl. Jörissen 2019). Oft scheine es, so konstatierte bereits Westphal (2002) in ihren Studien zur medialen Erfahrungen von Stimmen, als ob diese neuen Medien auf eine andere, neue, teils verwirrende Weise das Zusammenspiel der sinnlich-leiblichen Wahrnehmungsregister in ihren ästhetisch-künstlerischen Gestalten und Formen wie Schrift, Bild, Ton, Bewegung usw. organisieren (vgl. ebd.). Von daher sind und bleiben auch mediale, postdigitale Kultur- und Kunstpraktiken nur in ihrer humanen, leiblichen Referenz und Responsivität denkbar.
Die Frage nach dem Körper, seinen leiblichen Wahrnehmungs- und Erfahrungsbedingungen erweist sich gerade im 21. Jahrhundert von zentraler kulturhistorischer wie bildungstheoretischer Bedeutung. Dabei geht es aus Perspektive Kultureller Bildung darum, die Bedingungen von Wahrnehmung im Modus von Aisthesis – also von sinnlicher Wahrnehmung und leiblicher Erfahrung – wieder stärker in den Fokus von Forschung zu holen – zumal sie auch in den Künsten unter der Perspektive des Performativen seit einigen Jahren wieder sehr intensiv verhandelt werden. Hierbei können Fragen des Ästhetischen im Kontext medialer, postdigitaler Wirk- und Machtmechanismen thematisch werden. Durch eine ästhetisch-künstlerische Thematisierung des leiblichen In-der-Welt-Seins wird es möglich, Kulturelle Bildungsprozesse anzubahnen und auf die Sedierungen und Somatisierungen unser alltäglichen, digitalisierten Lebenswelt reflexiv aufmerksam zu werden (vgl. Hallmann 2016:170).
Ob Künstler*innen – wie in unserem Beispiel Christian Falsnaes – Merkmale unserer Zeit lediglich verstärken, symptomatisch zum Ausdruck bringen oder ob sie versuchen, sie auf einer Metaebene zu kommentieren und Alternativen aufzuzeigen, bleibt offen (vgl. Bishop 2016). Aber Fragen bzw. künstlerische Befragungen, die den Körper und seine unhintergehbare Materialität und Präsenz einbeziehen, werden dadurch zur Möglichkeit einer produktiven Unterbrechung. Und sie tut dies, wie Sybille Krämer (2001) konstatiert, „indem Kunst den Körper als entsemiotisiertes Material situativ und performativ in neue symbolische Konfigurationen einbettet“ (ebd.:477).Auch in postdigitalen Ordnungen bleibt der historisch-kulturell geprägte Körper nach wie vor unsere Bedingung dafür, wie wir unser leibliches „In-der-Welt-Sein“ realisieren und wie die äußeren Dinge und medialen Substrate eine Bedeutung für uns annehmen – eine Erkenntnis, die leider viel zu stark in die Phänomenologie abgewandert ist, die aber wieder wesentlich stärker von den Künsten aus in der Kulturellen Bildung erforscht werden sollte. Von daher ist in der Kulturellen Bildungsforschung zu unterscheiden zwischen Wirkungszuschreibungen oder der Erforschung von Wirkweisen des Ästhetischen selbst.