Zum Verhältnis von Kultureller Bildung und Digitalisierung

Artikel-Metadaten

von Christoph Deeg

Erscheinungsjahr: 2023

Peer Reviewed

Abstract

Digitalisierung hat einen umfassenden Einfluss auf unsere Gesellschaft. Dabei geht es weniger um die verschiedenen Technologien, deren Innovationszyklen immer kürzer werden. Es geht vielmehr um die damit verbundenen Funktionen und Kontexte. Das „Mehr“ an Technologie hat nur dann eine Relevanz, wenn dadurch ein „Mehr“ an Erfahrungen, an Perspektiven, an Kontexten, an Verbindungen und Selbstwirksamkeit erfolgt.

Durch die Digitalisierung ergeben sich immer neue Möglichkeiten: Wir können Kunst und Kultur neu/anders erfahrbar, erlebbar machen. Wir können Kunst und Kultur vernetzen und verbinden. Wir können Kunst und Kultur neu/anders erschaffen. Dieser riesige Optionsraum ist aber nichts, was man eben nebenbei mit Leben füllen kann.

Digitalisierung ist kein Werkzeug Kultureller Bildung, es ist eine Querschnittsfunktion Kultureller Bildung. Daher müssen wir uns Gedanken darüber machen, wie Kunst und Kultur die Digitalisierung, die digitale Transformation unserer Gesellschaft gestalten, entwickeln und verändern kann bzw. soll. Es geht um einen kontinuierlichen und komplexen Kreislauf des Gestaltens und Erlebens digital-analoger Lebensrealitäten.

Wer gestaltet was?

In diesem Beitrag möchte ich darüber nachdenken, wo Kulturelle Bildung das Thema Digitalisierung und wo Digitalisierung Kulturelle Bildung beeinflussen oder sogar gestalten kann. Was sind die Potentiale Kultureller Bildung für neue, erweiterte postdigitale Praktiken? Wie kann Kulturelle Bildung durch und mit Digitalisierung Transformation ermöglichen? Und wo kann Digitalisierung die Kulturelle Bildung herausfordern, einbinden und ebenfalls transformieren? Dieser Beitrag ist kein How-To-Beitrag. Sie finden nicht die zehn wichtigsten Schritte zur Kulturellen Bildung 4.0. Ausgehend von meiner Profession als Gestalter analog-digitaler Lebensräume an den Schnittstellen von Kultur und Bildung möchte ich vielmehr versuchen, die wichtigen Fragestellungen zu formulieren, die uns helfen können, das komplexe Thema besser zu verstehen. Ich werde Fragen aufwerfen sowie Modelle und Muster beschreiben. Denn: Auch wenn wir seit vielen Dekaden in verschiedenen Formen digital aktiv sind, haben wir noch immer das Bedürfnisse zu verstehen und zu klären, was Digitalisierung im Kontext Kultureller Bildung bedeutet bzw. bedeuten kann. Diese Suche wird nicht enden, denn der „digitale Raum“ ist selbstständigen Veränderungen unterworfen.

Definitionen

Am Anfang steht die Überlegung, was mit „Kultureller Bildung“ und „Digitalisierung“ gemeint ist, um anschließend die Gemeinsamkeiten und mögliche Risiken zu erkennen.

Der Begriff Kulturelle Bildung scheint auf den ersten Blick einfach definiert zu sein: „Kulturelle Bildung befähigt zum schöpferischen Arbeiten und ebenso zur aktiven Rezeption von Kunst und Kultur. Sie ist sowohl Teil der Persönlichkeitsbildung wie auch der beruflichen Aus- und Weiterbildung. Sie verbindet neben kognitiven auch emotionale und gestalterische Handlungsprozesse.“ (BMBF) Es fällt aber auf, dass hier viele Elemente eher vage beschrieben wurden. Was meint „Befähigung“ und „schöpferisches Arbeiten“? Wie kann aktive Rezeption von Kunst und Kultur aussehen bzw. wer definiert, wie sie aussehen sollte? Und welcher Kunst- und Kulturbegriff ist gemeint? In dieser Definition geht es um die Befähigung zu aktivem Handeln und um einen umfassenden Blick auf den Menschen, der seine Umwelt auf verschiedenen Ebenen wahrnimmt und gestaltet sowie sich daraus resultierend weiterentwickelt. Weder wird vorgegeben, um welche Kunst und Kultur es sich zu handeln hat, noch wird definiert, wie die Entwicklung auszusehen habe. Man könnte sagen: Es geht um einen individuellen, sich stetig verändernden Entwicklungsprozess. Und Kulturelle Bildung soll diesen Prozess anstoßen, ermöglichen, unterstützen, begleiten.

Ein weiterer wichtiger Punkt ist: Diese Definition schließt den digitalen Raum nicht aus – oder anders ausgedrückt, diese Definition gilt sowohl für den digitalen als auch für den analogen Raum. Dies mag trivial erscheinen, ist aber aus zwei Gründen von großer Bedeutung:

  • Zum einen ergibt sich daraus, dass Kulturelle Bildung eine Aufgabe auch für den digitalen Raum ist. So wie sie unser Leben im analogen Raum mitgestaltet, muss dies ebenso im digitalen Raum geschehen. Dabei ist das Digitale kein optionales Add on. Vielmehr sind beide Bereiche gleichwertig und gleich relevant. Dies steht im direkten Zusammenhang zum Modell der digital-analogen Lebensrealitäten, auf das ich folgend eingehe. Man könnte davon ableiten, dass Kulturelle Bildung dem digitalen Raum die gleiche Aufmerksamkeit wie dem analogen Raum widmen sollte.
  • Zum anderen wäre zu überlegen, inwieweit im digitalen Raum Muster im Sinne von Denk- und Handlungsweisen, aber auch Funktionen existieren bzw. entstanden, die anders sind als die, die wir im analogen Raum finden. Und/oder ob diese Muster die Art der Kulturellen Bildung verändern könnten? Anders ausgedrückt: Wir sollten oder können überlegen, inwieweit neue Formen des „schöpferischen Arbeitens“ und der „aktiven Rezeption“ von Kunst und kulturellen Inhalten im digitalen Raum zu finden sind und wo die Gründe dafür liegen? Sind es die Technologien, die einen neuen funktionalen und/oder kulturellen Rahmen schaffen? Oder sind die anderen Denk- und Handlungsweisen der Menschen, die sich anders im digitalen Raum bewegen, dort anders agieren?

Blicken wir auf die Definition dessen, was mit Digitalisierung gemeint ist bzw. gemeint sein kann, findet man eine Vielzahl an Definitionen oder Perspektiven. Meine Perspektive auf digital-analoge Lebensrealitäten ist: Jeder Mensch entscheidet individuell und situativ über den Anteil des digitalen und des analogen in seinem*ihrem Leben ebenso über die damit verbundenen Funktionen. Dieser Ansatz hat den Vorteil, dass wir nicht mehr trennen zwischen digital und analog. Es geht immer um den Menschen mit seinen*ihren individuellen Bedürfnissen, wobei sich die Bedürfnisse sowohl auf der Ebene der Ziele als auch auf der Ebene der Formate/Funktionen/Medien ändern können.

Wenn wir über Digitalisierung sprechen, müssen wir auch über das Thema Digitalität bzw. eine Kultur der Digitalität sprechen. Felix Stalder beschreibt die Idee einer „Kultur der Digitalität“, die im gleichnamigen Buch zu finden ist. Er beschreibt drei Formen der Kultur der Digitalität: Referentialität, Gemeinschaftlichkeit und Algorithmizität (vgl. Stalder 2016).

  • Referentialität meint die Übernahme/Weiterentwicklung/Veränderung von Inhalten, sodass neue Kontexte entstehen. Ein Beispiel ist die Remix-Kultur, die Inhalte immer neu kombiniert und damit neue Kontexte, neue Werke, aber neue Formen des kreativen Erschaffens ermöglicht (vgl. Stalder 2016:95-96).
  • Gemeinschaftlichkeit fokussiert die Tatsache, dass Inhalte gemeinsam erstellt, wahrgenommen und vermittelt werden (vgl. ebd.).
  • Algorithmizität beschreibt die Tatsache, dass immer mehr Prozesse in der Datenverarbeitung durch Maschinen erstellt werden. Wobei Maschinen den Menschen und seine Wahrnehmung nicht verdrängen, sondern die Option schaffen, riesige Datenmengen zu verarbeiten, um beispielsweise in sozialen Medien die vermeintlich passenden Inhalte angezeigt zu bekommen oder um aus riesigen Datenmenge Rückschlüsse ziehen zu können (vgl. ebd.).

Alle drei Formen können in Verbindung zur Kulturellen Bildung betrachtet werden.

Die Frage ist dabei, warum diese Formen existieren. Stellen sie – wie eingangs formuliert – die Bedürfnisse der Menschen dar? Oder anders ausgedrückt: Steht das Digitale nicht nur für einen neuen Optionsraum, sondern ebenso für einen neuen Freiraum? Und was bedeutet das für die Kulturelle Bildung? Was kann Kulturelle Bildung in diesem Kontext beitragen? Und bedeutet Algorithmizität nicht ein neues Modell für die Wahrnehmung von Kunst und Kultur, und der Algorithmus eine neue Form der „aktiven Rezeption“? Oder weitergedacht: Bedeutet Algorithmizität aus Sicht der Kulturellen Bildung, dass man das Arbeiten an und mit der Maschine als Teil eines (neuen) schöpferischen Prozesses sehen kann? Ist die soziale Funktion der von Stalder beschriebenen Gemeinschaftlichkeit etwas, was Kulturelle Bildung erst noch erkennen muss? Schließlich können im Digitalen Menschen unabhängig von ihrem Standort miteinander kommunizieren, Kreativität ausleben und neue Inhalte und Kontexte erstellen. Welche Rolle spielt in diesem Kontext Kulturelle Bildung?

Digitalisierung und Digitalität

Was unterscheidet „Digitalisierung“ und „Digitalität“? Digitalisierung beschreibt Prozesse und Technologien, während Digitalität bzw. die Kultur der Digitalität die damit verbundenen Denk- und Handlungsweisen definiert. Diese Trennung ist sinnvoll und hat eine große Relevanz der Verbindung zwischen Kultureller Bildung und Digitalisierung. Sie spielt auch eine wesentliche Rolle bei der Frage nach einem postdigitalen Ansatz für Kulturelle Bildung, denn die durch Digitalisierung ermöglichten und entstandenen Denk- und Handlungsweisen werden bestehen bleiben bzw. sich zunehmend von der Technologie abkoppeln.

Digitalisierung beschreibt eine Umsetzung von Kultureller Bildung auf digitalen Plattformen: Hier geht es um digitales Handwerk, um ein Verstehen von Nutzer*innengruppen und ihren Kommunikationsformen. Verbunden ist damit digitales Basis-Know How zum Verstehen digitaler Hard- und Software. Es geht aber auch um die Frage, wie (digitale) Innovationen in der Kulturellen Bildung identifiziert, analysiert und in die Arbeit übertragen werden, um interne Prozesse und Strukturen sowie um Professionalisierung zu ermöglichen.

Digitalität beschreibt ein Mindset, neue Formen des Denkens und Handelns, wobei diese neuen Formen nicht die alten Ansätze ersetzen, sondern diese erweitern und hinterfragen sollen. Denn der Erfolg des Digitalen basiert nicht auf den Technologien, sondern den damit verbundenen Funktionen sowie den daraus resultierenden Denk- und Handlungsweisen. Digitale Technologien ermöglichen diese Funktionen und Mindsets, der Bedarf danach war aber schon davor gegeben. Das Digitale ist kein von außen aufgezwungenem System. Es ist kein Zeichen von Fremdbestimmung, wenn man digital aktiv ist. Sondern, der Erfolg der Digitalisierung basiert darauf, dass sie Menschen erweiterte Handlungsperspektiven ermöglicht. Das Digitale ist von Menschen gemacht und wird von ihnen gestaltet. Die Digitalisierung ist somit ein Spiegelbild unserer Gesellschaft.

Wo passen die Ansätze Digitalisierung auf der einen, Kulturelle Bildung auf der anderen Seite zusammen? Was verbindet und was trennt sie? Wenn wir uns die beschriebenen Perspektiven ansehen, können wir Gemeinsamkeiten entdecken. In beiden Ansätzen geht es um:

  • individuelle, sich stetig verändernde und zudem zielgerichtete Entwicklung,
  • eine Fokussierung auf Menschen mit ihren individuellen Bedürfnissen,
  • einen­­­­ Bezug zu individuellen Lebensrealitäten und
  • das Erschaffen und/oder gestalten von Optionsräumen.

Kunst und Kultur erschaffen somit einen riesigen, sich stetig verändernden digitalen Optionsraum, der nicht nur analoge Ansätze in ein digitales Format überträgt, sondern völlig neue Formen der Erschließung, Wahrnehmung und Vermittlung von Kunst und Kultur ermöglicht. Gleichwohl bedeutet dies auch eine Verantwortung, diese neuen Formen zu verstehen, zu nutzen und weiterzuentwickeln.

Gibt es eine digitale Kulturelle Bildung?

Gibt es eine digitale Kulturelle Bildung bzw. brauchen wir ein solches Modell, eine solche Vision? Betrachtet man die aktuelle Situation, erscheint eine zumindest temporäre Fokussierung auf einen digitalen Ansatz durchaus sinnvoll. Es gibt zwar immer mehr digitale Projekte im Kontext Kultureller Bildung, deren Qualität sich verbessert, jedoch von einem umfassenden Verständnis und einer breiten Nutzung des digitalen Optionsraumes sind wir weit entfernt. Hierbei geht es mir nicht darum, die vorhandenen Projekte, Institutionen und Plattformen zu kritisieren. Ich möchte vielmehr aufrufen, neugierig zu sein, neu zu entdecken, den digitalen Raum in seiner Breite und Fülle zu verstehen, zu nutzen und zu gestalten. Hier liegt eine Kernfunktion, eine weitere gedankliche Schnittstelle vor: Kunst und Kultur wollen ebenso wie der digitale Raum entdeckt, erlebt, verändert, gestaltet werden. Aber das bedeutet ein aktives Handeln, ein Wollen. Was könnte der Grund für dieses Wollen sein? Antworten könnten sein: Versteht man den digitalen Raum als weiteren „Kanal“ zur Lebensrealität der Menschen, wäre der Grund vor allem, genau diesen Kanal zu öffnen. Versteht man den digitalen Raum als neuen Kulturort, wäre der Grund diesen neuen Ort zu verstehen. Gibt es dort andere Kunst-Formen? Gibt es andere Formen der Darstellung? Gibt es andere Funktionen wie beispielsweise neue Wege der Interaktion?

Letztlich darf es nicht darum gehen, die in der Kulturellen Bildung aktiven Personen zu verpflichten, digital aktiv zu sein. Auch wenn es das Ziel ist, den digitalen Optionsraum möglichst umfassend zu verstehen, zu füllen und zu gestalten, ist es wichtig, dass dies ein nachhaltiger Prozess ist. Deshalb stehe ich temporären Förderprogrammen sehr skeptisch gegenüber. Es ist von essentieller Bedeutung, dass es zu einer strukturellen Förderung kommt. Die im Kultursektor immer noch um sich greifende „Projektitis“ hilft Kultureller Bildung im Kontext der Digitalisierung nicht, weil sie immer nur punktuell wirkt und viel zu selten weitergehende, ganzheitliche/umfassende Strukturen schafft.

Wenn wir die Perspektive der digital-analogen Lebensrealitäten einnehmen, dann erkennen wir schnell, wo die Chancen, aber auch die Herausforderungen liegen: Die Geschichte der Digitalisierung ist eine des Erfolges – auch eines ökonomischen Erfolges. Die Digitalisierung kann vieles verbessern. Sie kann demokratischere Strukturen schaffen, sie kann Sichtbarkeit und Teilhabe aller Gesellschaftsgruppen sowie neue Formen der Vermittlung ermöglichen. Sie kann dazu beitragen, dass sich Kunst und Kultur auf der inhaltlichen, wie auf der strukturellen Ebenen weiterentwickeln kann, dies ist aber kein Automatismus.

Kulturelle Bildung gestaltet Digitalisierung

Die Ausgangsfrage lautete: Wo kann Kulturelle Bildung die Digitalisierung und wo kann Digitalisierung die Kulturelle Bildung beeinflussen oder sogar gestalten?

Kulturelle Bildung kann Digitalisierung neu erfahrbar machen. Abseits von Ansätzen aus der Medienkompetenz (Prävention) und Informationskompetenz (Strukturierung) stellt Kulturelle Bildung die kreativen Potentiale und Grenzen der Digitalisierung in den Fokus. Beleuchtet man die verschiedenen Ebenen und Perspektiven auf das Kreativpotential der Digitalisierung, ist die Ästhetik des Digitalen zu nennen: In den letzten Dekaden entstanden immer neue Formen der Visualisierung und der Vermittlung von Inhalten. Die Möglichkeiten wurden vor allem durch die technologischen Rahmenbedingungen beschränkt. Ein Beispiel hierfür ist die 8-Bit-Ästhetik der Darstellung von Inhalten basierend auf der Pixelhaftigkeit. Diese Formen der Darstellung haben sich bis heute erhalten. Sie stellen einen Kommunikations-Code dar. Anders ausgedrückt: die „alte“ digitale Ästhetik ist immer noch relevant, wenn sie auch mit einem Retro-Charme gesehen wird. Mit den fortschreitenden Möglichkeiten der Technologien kam es zu Verbesserungen der grafischen Möglichkeiten und damit verbunden zu einer Erweiterung der möglichen Funktionen. Das Ziel war stets, noch näher an der „Wirklichkeit“ zu sein. Allerdings war damit nicht gemeint, die Realität ins Digitale zu übertragen: Es geht vielmehr darum, sowohl eine Darstellung des vermeintlich Realen als auch eine neue Form der Fiktionalen entstehen lassen zu können. Mit der Technologie lassen sich kontinuierlich Sprünge in der Ästhetik/des Ästhetischen umsetzen. Es ist kein Stillstand und damit wird das Digitale zum Experiment.

Durch die kontinuierliche Weiterentwicklung digitaler Angebote, Plattformen und Ressourcen ergeben sich nur immer neue Formen der Ästhetik, die auch Klang, Musik etc. beinhalten. Hierdurch werden immer einfachere Zugänge zu Inhalten und Funktionen möglich, die für die Gestaltung des Digitalen durch Kulturelle Bildung von großer Bedeutung sind: Digitalisierung bedeutet dabei das Schaffen von neuen Zugängen zu Inhalten, ihrer Wahrnehmung und Diskussion. Der kreative Schaffensprozess kann durch Digitalisierung weiter vereinfacht und verbessert werden, wobei eine Vielzahl digitaler Funktionen bereits erlernt wurde.

Die Fähigkeit, sich mittels digitaler Medien die Umwelt zu erschließen, sich in ihr zu finden, sie zu entwickeln und sich mit anderen zu vernetzen, ist vielen Menschen präsent. Wir nehmen diese Fähigkeit nur teilweise nicht wahr, da wir zu sehr auf den damit verbundenen Output bzw. die jeweiligen Inhalte schauen. Man kann auch sagen: Von Katzenvideos und Instagram-Influencer*innen lernen, heißt siegen lernen.

Kulturelle Bildung kann die Wahrnehmung der Digitalisierung an sich und den damit verbundenen Output beeinflussen und gestalten, indem sie selbst Teil des Digitalen wird, selbst Inhalte entwickelt und Diskurs ermöglicht. Sie kann somit einen individuellen Optionsraum erschaffen, der weit über das hinausgeht, was wir uns vorstellen bzw. umsetzen können. Kulturelle Bildung kann durch die Beschäftigung mit Kunst und Kultur einen erweiterten Optionsraum für die Anwendung von Digitalisierung schaffen. Menschen können so erleben, was Digitalisierung abseits der bekannten Wege sein kann, wo sie helfen kann Kunst und Kultur, aber auch sich selbst neu zu erfahren. Analog kann Kulturelle Bildung dabei von den Menschen lernen und die vielen unterschiedlichen digital-analogen Lebensrealitäten miteinander verbinden und übersetzen. Zwar sind viele Menschen im digitalen Raum aktiv, jedoch entstehen hier vor allem digitale Filterblasen, die – vergleichbar mit „Gated Communitys“ im physischen Raum – keine Diversität erzeugen. Kulturelle Bildung kann die Menschen animieren, ihren eigenen Optionsraum sowohl in der Kunst und Kultur als auch in der Digitalisierung kontinuierlich zu erweitern. Im besten Fall ergäbe sich so ein Wechselspiel zwischen beiden Bereichen.

Digitalisierung gestaltet Kulturelle Bildung

An welcher Schnittstelle kann Digitalisierung die Kulturelle Bildung beeinflussen? Auf einer passiven Ebene findet dies bereits statt. Wir nutzen digitale Medien kontinuierlich. Die Wissensplattform Kulturelle Bildung Online ist hierfür ein Beispiel. Was wir aber erleben können ist, dass der Optionsraum, der sich aus dem Digitalen ergibt, in der Breite nicht genutzt wird. Wir haben das Digitale aufgenommen, akzeptiert, aber wir lassen nur selten zu, dass es uns verändert. Die Aufgabe wäre also im ersten Schritt, das Digitale wirken zu lassen, neugierig zu sein, sich selbst darin auszuprobieren. Dies würde bedeuten, dass man die Rollen tauscht, weg von einer Kulturellen Bildung, die vermittelt und unterstützt, hin zu einer Kulturellen Bildung, die sich selbst bildet. Es geht darum eine Wirkung zuzulassen. Hier liegt die Verbindung zur vorher diskutierten Fragestellung: So wie Kulturelle Bildung Menschen helfen kann, sich einen digitalen Kulturraum zu erschließen und diesen zu gestalten, kann Digitalisierung dies auch mit Kultureller Bildung. Es geht darum, den digitalen bzw. digital-analogen Optionsraum zu verstehen und zu füllen. Die Fragestellungen sind vielfältig und ich möchte dies anhand der drei Ebenen Technologie, Funktion und Kultur skizzieren:

  • Auf der Ebene der Technologie geht es um die Frage, was neue Technologien ermöglichen. So sind hochwertige Smartphones u.a. mit sehr guten Kamerasystemen und einer mannigfaltigen Sensorik ausgestattet. Alle diese Sensoren können genutzt werden, um die eigene Umgebung, den eigenen Lebens- und Kulturraum neu oder anders wahrzunehmen, aber auch, um sich selbst zu spiegeln.
  • Auf der Ebene der Funktionen geht es um die Anwendungen, die sich durch Digitalisierung umsetzen lassen. Die Kamera eines Smartphones kann sowohl mit einer Fotobearbeitungs-App wie Lightroom als auch mit einer App wie Instagram genutzt werden. Erstere könnte genutzt werden, um sich künstlerisch mit Bildern zu beschäftigen. Letztere würde den Fokus auf die Präsentation, Vernetzung und Kommunikation mit anderen legen.
  • Die dritte Ebene Kultur steht für zwei miteinander verbundene Bereiche: Zum einen geht es um die Frage, welche Denk- und Handlungsweisen durch die Nutzung digitaler Angebote entstehen. Zum anderen geht es um die kulturellen bzw. systemischen Rahmenbedingungen, die auf Seiten Kultureller Bildung vorhanden sein müssen, damit Digitalisierung im Rahmen der kulturellen Arbeit Wirkung erzeugen kann.

Potentiale Kultureller Bildung für neue, erweiterte postdigitale Praktiken und Transformationen

Die Digitalisierung ist nur ein Teil eines weitergehenden Transformationsprozesses. Der technologische Prozess wird weitergehen, er wird aber nicht mehr so im Fokus der Wahrnehmung unserer Gesellschaft stehen. Relevanter werden die damit ermöglichten Funktionen und die schon beschriebenen Denk- und Handlungsweisen. Gleichwohl wird die Digitalisierung nicht stehen bleiben. Algorithmen, Künstliche Intelligenzen stehen stellvertretend für Zukunftsthemen, die schon jetzt in der Breite Wirkung erzeugen, aber noch nicht ihren Zenit überschritten haben. Betrachtet man den Gartner Hype Cycle von 2022, stehen Themen wie der digitale Zwilling oder das Web 3 in den Startlöchern. Hier stellt sich die Frage, welche Antworten Kulturelle Bildung auf diese Herausforderungen finden wird bzw. ob und wie sie in der Lage ist, diese Technologien zu nutzen. Wenn wir vom postdigitalen Zeitalter sprechen, dann bedeutet dies nicht, dass Digitalisierung verschwindet, sondern dass sich die mit der Digitalisierung einhergehenden Denk- und Handlungsweisen zunehmend von der Technologie abkoppeln und eigene Muster erzeugen. Die Digitalisierung ermöglicht es, Menschen global miteinander zu vernetzen. Dies kann dazu führen, dass wir neu über Identitäten, Nationalstaaten und Grenzen nachdenken können und müssen. Um unseren Lebensraum zu schützen, werden neue Ansätze für die Entwicklung von Gesellschaften benötigt. Ein gutes Beispiel ist „Leapfrogging“, ein Konzept, bei dem nicht-nachhaltige Entwicklungsprozesse beispielsweise in der Energieerzeugung, Landwirtschaft oder Wirtschaft übersprungen werden. Ein Schlüssel stellt die Digitalisierung dar. Hier kann Kulturelle Bildung helfen, digitale, funktionale und kulturelle Optionsräume zu verstehen oder zu entwickeln. In diesem Fall würde Kulturelle Bildung Funktionen des Digitalen wie Interaktion, Vernetzung etc. in ein „non-digitales“ Umfeld übertragen, indem sie im Kontext von Kunst und Kreativität neue Lebensrealitäten erzeugt.

Interaktion, Teilen und Vernetzung spielen im digitalen Raum eine wesentliche Rolle. Das bedeutet einerseits, dass diese Funktionen menschliche Bedürfnisse befriedigen. Andererseits werden die Formen von Interaktion, Teilen und Vernetzung durch Digitalisierung stetig weiterentwickelt. Es wird sichtbar, welche Bedürfnisse vorhanden sind und welche Formen der Umsetzung existieren.

Kulturelle Bildung kann helfen, diese Funktionen besser zu verstehen und mit neuen Formen zu experimentieren. Der Optionsraum einer postdigitalen Gesellschaft wird somit durch Kulturelle Bildung erweitert. Aber dafür ist es notwendig, den digitalen Raum nicht nur zu betrachten, sondern ihn zu betreten. Wenn die Idee einer postdigitalen Gesellschaft auf der Logik, dem Prozess der Digitalisierung basiert, muss eine postdigitale Kulturelle Bildung ebenfalls auf den Funktionen und Denk- und Handlungsweisen des Digitalen basieren: Denn Postdigitalität wird nicht losgelöst von Digitalität. Möchte man diesen Prozess gedanklich vereinfachen, könnte man auf die eingangs zitierte Definition Kultureller Bildung zurückkommen: „Kulturelle Bildung befähigt zum schöpferischen Arbeiten und ebenso zur aktiven Rezeption von Kunst und Kultur. Sie ist sowohl Teil der Persönlichkeitsbildung wie auch der beruflichen Aus- und Weiterbildung. Sie verbindet neben kognitiven auch emotionale und gestalterische Handlungsprozesse.“ (BMBF) Diese Definition sollte an sich erweitert werden. Es sollte auf die Transformation der Gesellschaft und damit verbunden auf die Transformation des Individuums und dessen Lebensweisen und somit der Gesellschaft verwiesen werden. Digitalisierung ermöglicht und erfordert einen umfassenden Transformationsprozess. Kulturelle Bildung kann dabei unterstützend wirken, wird dadurch ebenfalls verändert bzw. weiterentwickelt – oder genauer: muss aktiv zulassen, dass sie durch diesen Prozess verändert bzw. weiterentwickelt wird.

Was sind die Risiken?

Digitalisierung ermöglicht neue Zugänge zu Kultureller Bildung, zu Ästhetik, zur eigenen (Persönlichkeits-)Entwicklung, zu Gestalten und Erleben, dies ist kein Automatismus. Denn dieser Prozess geht einher mit einer neuen Form der Ausgrenzung und Diskriminierung. Digital Literacy und der Besitz digitaler Werkzeuge sind wesentliche Kriterien für diesen Zugang. Und jeder Innovationssprung bedeutet auch eine neue Ebene, ein neues Level an Werkzeugen. Somit besteht das Risiko, dass die digitale Frage zu einer sozialen bzw. intergenerativen Frage wird. Wir können zunehmend beobachten, wie eine digitale Hochkultur, ein neues digitales Bildungsbürger*innentum entsteht, dem all die neuen Technologien sowie Zeit und Know-How bei der Entwicklung einer Digital Literacy zur Verfügung stehen, um sich eine eigene Version bzw. Vision des digitalen Lebensraumes zu entwickeln. Hier ist Kulturelle Bildung gefordert, indem sie sich auf die Funktionen der Digitalisierung und nicht auf deren Technologien konzentriert. Ein weiteres Risiko ist eine „Selbstüberschätzung“ der Kulturellen Bildung. Das Thema Digitalisierung ist komplex und steht für einen kontinuierlichen Transformationsprozess. Kulturelle Bildung muss herausfinden, an welcher Stelle sie ansetzt, um zu verhindern, dass man sich „überhebt“ oder aber die entstehenden Angebote beliebig oder trivial werden. Es braucht Zeit und Ressourcen, um dieses Thema verstehen und eigene Formate entwickeln zu können.

Fazit

Für Kulturelle Bildung bedeutet die Digitalisierung Chancen und Herausforderungen zugleich. Ein wichtiger Schritt hierbei wäre das Verstehen des sich aus der Digitalisierung ergebenden Optionsraumes. Es geht dabei nicht um einen unkritischen Umgang mit dem Thema Digitalisierung, denn der Optionsraum ist nicht gleichbedeutend mit einer Umsetzung. Daher müssen Wege gefunden werden, dass die beiden Prozesse „Gestaltung der Digitalisierung durch Kulturelle Bildung“ und „Gestaltung der Kulturellen Bildung durch Digitalisierung“ miteinander vernetzt stattfinden und sich gegenseitig beeinflussen können. Es kann das eine nicht ohne das andere geben. Dieser Prozess muss aktiv umgesetzt werden, die Wechselwirkungen und Rückkopplungseffekte entstehen nicht automatisch. Hierfür werden neue Strukturen und Prozesse benötigt, die der Kulturellen Bildung Möglichkeiten geben, sich stetig weiterzuentwickeln. Notwendig sind dazu neben einer anderen Förderpolitik und dem zur Verfügung stellen von weitreichenden Ressourcen auch eine neue Form der Evaluation bzw. eine Begleitung der digitalen Transformation Kultureller Bildung durch umfangreiche Forschungsprojekte. Wichtig ist hierbei, keine Abkürzungen zu suchen: Es reicht nicht aus, vorhandene Projekte als „Best-Practice“ zu definieren und diese dann zu kopieren, nur um auch im Bereich Digitalisierung aktiv zu sein. Denn die Wechselwirkungen von Kultureller Bildung und Digitalisierung funktionieren erst, wenn in der Fläche ein breites Portfolio an Aktivitäten und Modellen vorhanden ist und in der Breite ein digitaler Optionsraum erschlossen wurde. Dies eröffnet Wege in eine digital-analoge Kulturelle Bildung, die nachhaltig und umfassend wirken will und kann.

Verwendete Literatur

Bundesministerium für Bildung und Forschung: Kulturelle Bildung. https://www.bmbf.de/bmbf/de/bildung/kulturelle-bildung/kulturelle-bildung_node.html (letzter Zugriff am 11.11.2022).

Stalder, Felix (2016): Kultur der Digitalität. Berlin: Suhrkamp.

Christensen, Clayton M. (2016): The Innovator’s Dilemma. Boston: Harvard Business Review Press.

Rheingold, Howard (2002): Smart Mobs – The next social Revolution. Cambridge: Basic Books.

Levine, Rick/ Locke, Christopher/ Searls, Doc/ Weinberger, David (2009): The Cluetrain Manifesto. Cambridge: Basic Books.

Nassehi, Armin (2019): Muster – Theorie der digitalen Gesellschaft. München: C.H. Beck.

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Gerne dürfen Sie aus diesem Artikel zitieren. Folgende Angaben sind zusammenhängend mit dem Zitat zu nennen:

Christoph Deeg (2023): Zum Verhältnis von Kultureller Bildung und Digitalisierung. In: KULTURELLE BILDUNG ONLINE: https://www.kubi-online.de/index.php/artikel/zum-verhaeltnis-kultureller-bildung-digitalisierung (letzter Zugriff am 16.07.2024).

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