Zum produktiven Verhältnis zwischen ästhetischem Potential in der Kinder- und Jugendliteratur und künstlerischer Praxis in analogen und digitalen Veranstaltungen
Abstract
In welchem Verhältnis stehen ästhetisches Potential von Bilder-, Kinder- und Jugendbüchern und künstlerische Praxis der Literaturvermittlung? LesArt, das Berliner Zentrum für Kinder- und Jugendliteratur, setzt sich seit mehr als 30 Jahren mit dieser Frage auseinander. Als Praxispartner des Zertifikatskurses Künstlerische Interventionen in der Kulturellen Bildung der Universität Hildesheim stellte LesArt unter anderem Beispiele und Erfahrungen aus dem Modellprojekt Kunstlabor Literatur vor und zur Diskussion. Im Mittelpunkt standen fünf inklusive Vermittlungsprojekte für Willkommensklassen, Grundschulklassen und Oberschulklassen. Diese regten auf sinnliche und künstlerisch vielfältige Weise die lustvoll-kreative Auseinandersetzung aller Beteiligten mit Büchern an. Literarische Grundlage waren unter anderem ein textloses Bilderbuch, ein illustriertes erzählendes Kinderbuch, eine Lyrikanthologie und ein Adoleszenzroman. Detailliert stellt dieser Beitrag den gesamten Prozess von Literaturauswahl bis Veranstaltungsauswertung vor. Lehrkräfte unterschiedlicher Schulformen in Bremen, Dresden und Berlin adaptierten die Veranstaltungsmodelle und integrierten diese in ihren Unterricht. Gemeinsam erarbeiteten sie, welche Faktoren eine gelungene ästhetische Bildung im Bereich Literatur beeinflussen.
1. LesArt als Praxispartner des Zertifikatskurses „Künstlerische Interventionen in der Kulturellen Bildung“
Mit diesem Beitrag für den Zertifikatskurs Künstlerische Interventionen in der Kulturellen Bildung wollen die Autorinnen herausarbeiten, welche Bedingungen und Faktoren über das konkrete Modellprojekt Kunstlabor Literatur (www.kunstlabore.de) hinaus für eine gelungene ästhetische Bildung im Bereich Literatur bedacht werden sollten. Dafür beziehen sie Erfahrungen aus der fast dreißigjährigen Veranstaltungspraxis von LesArt in diese Überlegungen ein.
LesArt ist ein europaweit einzigartiges Literaturhaus für Kinder und Jugendliche und gehört zu den fünf öffentlich geförderten Literaturhäusern in Berlin. Ein Team aus Künstler*innen und Wissenschaftlerinnen erarbeitet kreative, interaktive Veranstaltungsmodelle zur literarisch-ästhetischen Bildung. Diese Modelle zeichnen sich durch ihren inklusiven
Im Namen LesArt stecken Literatur und die Fähigkeit, sie sich zu erschließen: das Lesen. Und in ihm steckt der Begriff Kunst. In der Verknüpfung spielt LesArt auf die vielfältigen Möglichkeiten an, mit Texten und Bildern umzugehen. Als Wortspiel verweigert sich der Name einem schlichten Verständnis, fordert zum Nach-Denken auf: über die Eigenarten eines literarischen Textes oder einer Illustration, über die jeweils eigene Art zu lesen und über die Botschaften eines Textes, die verschiedene Lesarten ermöglichen. (Vgl. LesArt 2003:5)
LesArt will (nicht nur) bei Kindern und Jugendlichen Denken und Fühlen anregen, ausgelöst durch Künste und Medien. Das Buch oder die Geschichte ist Ausgangs- und/oder Zielpunkt jeder Auseinandersetzung – sowohl der Vorbereitenden und Moderierenden als auch der Teilnehmenden. Mit Blick auf die Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen können Neugier und Erwartungen geweckt werden, womit Wahrnehmung, Denk- und Empfindungsvermögen angesprochen und entwickelt werden. Erkenntnisse und Auffassungen, unter anderem aus Sprach- und Literaturwissenschaft, Entwicklungspsychologie und Pädagogik, Didaktik, Kunst- und Medienpädagogik, beeinflussten und beeinflussen die Programmatik von LesArt. Die LesArt-Arbeit war und ist geprägt durch den Prozess der Entwicklung und Erprobung von Ideen und Methoden zur Umsetzung eines Buchs oder einer Geschichte im Rahmen literarischer Veranstaltungen. Dieser Prozess beinhaltet auch die Wahrnehmung der Wirkung, das Beobachten der Reaktionen sowie das (selbst)kritische Hinterfragen, Auswerten sowie Überdenken und etwaige Umgestalten.
Dem ästhetischen Potenzial von Bildern und Bild-Text-Beziehungen trug LesArt in den letzten Jahren insbesondere dadurch Rechnung, dass kontinuierlich in öffentlichen Ausstellungen Originale in- und ausländischer Illustrator*innen präsentiert wurden. Diese Ausstellungen waren immer begleitet von interaktiven künstlerischen Workshops für Schulklassen und Familien. Jeder Ausstellung liegt ein Konzept zugrunde, welches eng mit Führungen und Veranstaltungen verbunden ist. Neben den Originalen gewähren zugehörige Texte, Skizzen, Tagebücher, Briefe oder persönliche Objekte Einblick in die jeweiligen individuellen künstlerischen Prozesse.
„Die Ausstellungsbesucher werden unmittelbar mit Betreten des LesArt-Hauses zu Betrachtenden und begeben sich auf Erkenntnissuche. Auftretende Irritationen und neugierige Fragen sind beabsichtigt. Im Verlauf des Ausstellungsrundgangs erschließen sich mehr und mehr Zusammenhänge, können Irritationen aufgelöst und Fragen beantwortet werden. Und zu wieder neuen Irritationen und Fragen führen, je nachdem, in welchem Umfang und mit welcher Intensität sich die Besucher auf den Prozess des Betrachtens und Deutens während ihres Rundgangs einlassen.“ (Buchmann 2016:21)
Immer war die Tätigkeit von LesArt durch veränderte gesellschaftliche Bedingungen herausgefordert. Hier einige Beispiele:
- Bildungspolitische Entscheidungen über differenzierte Schulformen und damit verbundene moderne pädagogische Unterrichtskonzepte oder Ergebnisse von Studien zur Lesekompetenz bei Kindern und Jugendlichen führten dazu, dass LesArt sein Programm um Fortbildungen für Lehrkräfte, Erzieher*innen, Bibliothekar*innen, Buchhändler*innen und Lesepat*innen erweiterte, immer zugeschnitten auf die Bedürfnisse der Teilnehmer*innen.
- Die rasant angestiegene Zahl an Bilder-, Kinder- und Jugendbüchern seit den 1990er-Jahren verlangte nach struktureller, ästhetischer und literaturpolitischer Positionierung, sodass schließlich die Nominierungsliste des Deutschen Jugendliteraturpreises in den Mittelpunkt der Buchauswahl bei LesArt rückte, ergänzt um Klassiker sowie Titel beispielsweise aus der Empfehlungsliste Der Rote Elefant – Bücher für Kinder und Jugendliche (www.der-rote-elefant.org).
- Auf die zunehmende Erfahrung von Kindern und Jugendlichen in der Nutzung von Medien reagierte LesArt mit einer neuen Veranstaltungsreihe unter dem Titel Am Anfang war das Buch – Literatur in anderen Medien. Bücher und deren mediale Adaptionen stehen gleichberechtigt nebeneinander. Kinder und Jugendliche werden im Umgang mit Buch, Film, Hörspiel, Musik oder App sowohl zu Rezipient*innen als auch Produzent*innen. Über das Erfahren von ästhetischen Eigenarten werden für sie Möglichkeiten und Grenzen jedes Mediums sinnfällig.
Auch die Folgen der Covid-19-Pandemie beeinfluss(t)en die Programmgestaltung bei LesArt: Wie in vielen Kultureinrichtungen erforderte der harte Lockdown eine radikale Umplanung im Programm. Das im März 2020 entwickelte digitale Programm AUSERLESENES verknüpft Literatur mit verschiedenen Künsten und kulturellen Kontexten und mündete in eine digitale Galerie, die sowohl die Bildkunst als auch die Ergebnisse der kreativen Auseinandersetzung damit präsentiert und fortdauernd zu analoger und/oder digitaler Beschäftigung einlädt. Die zunächst ausschließlich digital präsentierten Erzählbilder stellte LesArt im Herbst 2020 im Original aus. Als (Open-Air-)Wanderausstellung kann sie inzwischen beispielsweise von Bibliotheken oder Schulen geliehen und öffentlich zugänglich gemacht werden.
Zu diesem Programm gehören weiterhin Mitmachfilme, in denen Ideen aus LesArt-Veranstaltungskonzepten in digitaler Form adaptiert werden. Verschiedene literarische Themen bilden die Grundlage für die drei- bis fünfminütigen Filme, die alle Interessierten zum Mitmachen und zur kreativen Weiterarbeit einladen sowie auf inhaltlich-thematisch passende Bücher und Medien aufmerksam machen. Die Mitmachfilme verzichten bewusst auf die Darbietung von „Lösungen“. Vielmehr regen sie vielschichtige Denkprozesse, Sprach- und Sprechfreude sowie die Fantasie an. Sie eignen sich für den Einsatz in Schule, Kita, Bibliothek, Erwachsenenbildung (Bereich Literatur/Kulturelle Bildung) – für Einzelarbeit, Arbeit in Kleingruppen und in größeren Gruppen. Stets laden die Filme zum kreativen Arbeiten ein, zum Erproben unterschiedlicher künstlerischer Ausdrucksformen – immer in Bezug zur literarischen Grundlage.
Bedeutsam für jede LesArt-Veranstaltung ist das komplexe Arbeiten, das künstlerisches Denken und Handeln erfordert, ergänzt um aktuelle wissenschaftliche Kenntnisse und Einblicke in den Buch- und Medienmarkt für Kinder und Jugendliche. Der Vermittlungsweg ist davon bestimmt, Kindern und Jugendlichen das ästhetische Angebot eines Buches, Bildes oder Werks nahezubringen. Das Wesentliche einer Veranstaltung ist die praktische Auseinandersetzung mit ästhetisch-praktischen Verfahren, etwa aus Spiel- und Theaterpädagogik, Kunstpädagogik, dem kreativen Schreiben, aus Musik, Bewegungs- und Tanzpädagogik. Auf diese Weise werden allen Beteiligten Eigenheiten eines literarischen Texts bewusst. Die Qualität jeder LesArt-Veranstaltung hängt von der Professionalität der mitarbeitenden freien Künstler*innen ab.
Bedeutsam für jede LesArt-Veranstaltung und das LesArt-Veranstaltungsprogramm ist die Buchauswahl. Grundlage ist der Buchmarkt für Kinder und Jugendliche. Um hier eine Orientierung über herausragende literarische Werke zu erhalten, hat sich die Nominierungsliste des Deutschen Jugendliteraturpreises bewährt, ebenso wie die Empfehlungsliste Der Rote Elefant – Bücher für Kinder und Jugendliche (www.der-rote-elefant.org).
Bedeutsam für jede LesArt-Veranstaltung ist der Grundsatz, dass LesArt mit seiner Arbeit dem Kunstwerk verpflichtet ist. Jedes für eine Veranstaltung ausgewählte Buch ist ein solches Kunstwerk. Dessen Thema, Botschaft und Ästhetik stellt die Grundlage für die Konzipierung seiner Vermittlung dar. Damit bekommt jede Veranstaltung selbst einen künstlerischen Charakter, weshalb es keine Schemata, keine Methodenkoffer voller übertragbarer Veranstaltungskonzepte geben kann.
Jedes Buch verlangt für seine Vermittlung nach (s)einem eigenen Zugang. Diese Herausforderung hat zur Folge, dass im LesArt-Team intensive Gespräche und Diskussionen stattfinden, die nach dem genauen Lesen und der Analyse von Text und Bild oder deren Beziehung zueinander die Grundidee der Veranstaltung umkreisen. Erst wenn diese gefunden und formuliert wurde, beginnt die konkrete Vorbereitung. Damit gestaltet sich jede Veranstaltung bei LesArt – von der Vorbereitung bis zur Durchführung und Nachbereitung – als kreativer Akt. Durch diesen gründlichen Prozess unterscheidet sich die LesArt-Tätigkeit von anderen Formen der Leseförderung.
Bedeutsam für jede LesArt-Veranstaltung ist der sinnliche Zugang zu Literatur: Neben Seh- und Hörreizen gibt es Requisiten zum Ertasten, kleine Speisen zum Schmecken und besondere Gerüche. So wird angeregt, ein inneres Bild beispielsweise von einem literarischen Ort entwickeln zu können. Dabei Irritationen auszuhalten, sie nicht vorschnell aufzulösen und Fragen unbeantwortet zu lassen, ist ein Prinzip der LesArt-Arbeit.
Bedeutsam für jede LesArt-Veranstaltung sind künstlerische Verfahren, etwa der Theaterpädagogik, der Sprechwissenschaft oder der bildenden Kunst, um Kinder und Jugendliche aktiv in kreative Workshops einzubeziehen, die den Prozess des literarischen Verstehens unterstützen. So kann im Rollenspiel eine Talkshow imaginiert werden, um den Konflikt zwischen literarischen Figuren auszuloten. Durch Sprechausdrucksübungen können Haltungen und Sprechweisen literarischer Figuren erarbeitet, Figuren charakterisiert werden. Die Wirkung des mehrperspektivischen Erzählens kann durch Bildercollagen verdeutlicht werden. Diese Art der Literaturvermittlung fordert Kreativität und Fantasie aller Beteiligten ein. Sie zielt darauf, „Kunst und Literatur als Foren des Spiels, der kritischen Selbstbespiegelung und des Unernstes“ (Odendahl 2018:179) zu begreifen und regt jene inneren Bilder und Vorstellungen an, die einen imaginären Raum füllen. Das ist der unsichtbare Ort, an dem sich eigenwilliges Denken und empathisches Handeln entwickeln können, ohne dem Maßstab von Effizienz unterworfen zu sein.
Bedeutsam für jede LesArt-Veranstaltung ist die Qualität des Veranstaltungsmaterials. Dieses greift die Ästhetik der Buchgestaltung auf, sei es etwa hinsichtlich einer Farbe oder Farbstimmung, der Schriftart und -größe, einer Papierart oder des Buchformats. Aus den Biografien einzelner Schriftsteller*innen oder Illustrator*innen können Fakten aufgegriffen werden, indem vermeintliche Arbeitsgegenstände im Raum stehen oder Gedanken als Hörcollage präsentiert werden. Auf literarische Orte kann durch Geräusche, Gegenstände, Musik, Fotos oder besondere Raum- und Lichtgestaltung verwiesen werden. In der Phase des Ankommens werden so unaufdringlich Impulse für weiterführende Gedanken bei Kindern oder Jugendlichen gesetzt. Entscheidend ist, dass alle Teammitglieder ihre Aufmerksamkeit beim Lesen und Betrachten, bei der Analyse des Kunstwerks und bei der Konzipierung der Veranstaltung auf solche ästhetischen Zusammenhänge zwischen Buch und Veranstaltung richten.
Bedeutsam für jede LesArt-Veranstaltung ist die frühe Einbeziehung der Besucher*innen und Teilnehmer*innen – aller Gäste. Jeder Begrüßung folgt das Angebot, sich für einen kleinen Gegenstand, einen farbigen Klebepunkt, eine köstliche Leckerei oder ein klangvolles Wort zu entscheiden, ohne vorher zu wissen, wohin das führen wird. Jede*r Einzelne soll sich willkommen fühlen. Zugleich werden Neugier und Assoziationslust geweckt. Spätere Gruppenbildungen werden akzeptiert, weil der Zufall im Spiel ist. Für gruppendynamisch komplizierte Situationen ist das nicht selten von Bedeutung, ebenso für Atmosphäre und Erfolg nachfolgender Arbeitsgruppen und Gesprächsrunden.
Dieses über viele Jahre entstandene Ritual ist fester Bestandteil jedes Veranstaltungskonzeptes bei LesArt. Auch dadurch bahnen sich von Beginn an – noch ungeahnt – Beziehungen zwischen ästhetischen Signalen des Buches und sinnlichen Wahrnehmungen der Teilnehmer*innen an.
Bedeutsam ist zudem, dass ein nachhaltiger Eindruck von einer Veranstaltung bleibt. Weil es aufregend und anregend war zu erleben, welche Fragen in Geschichten und Bildern eines Buches stecken, die einen selbst angehen. Weil man sich als Persönlichkeit gemeint fühlt und sich mit anderen offen austauschen konnte. Weil sich etwas eingeprägt hat, das im Gedächtnis bewahrt werden soll. Oder weil es unvergessen bleibt, wie köstlich die Lieblingsspeise der Hauptfigur geschmeckt hat. Weil vielleicht genau dieses Buch noch heute aus der Bibliothek ausgeliehen werden muss.
2. LesArt als Kunstlabor Literatur – Erfahrungen und Erkenntnisse aus der Mitarbeit in einem Modellprojekt
2.1 Allgemeines
Im Modellprojekt Kunstlabore (Programm der MUTIK gGmbH, gefördert von der Stiftung Mercator) arbeiteten Fachleute aus fünf Kunstsparten drei Jahre lang unter dem Motto „Aus der Praxis für die Praxis“ eng mit Schulen zusammen. Gemeinsam entwickelten, testeten und dokumentierten sie Formate, Methoden und Herangehensweisen in den Bereichen Bildende Kunst, Literatur, Musik, Tanz und Theater. Ziel war die Herausarbeitung wichtiger Faktoren und Bedingungen für die Qualität künstlerischen Arbeitens an Schulen.
Insofern wurde das Kunstlabor Literatur folgerichtig als Experimentierfeld für Neues und Prüfstand für Bewährtes betrachtet, um Modelle zu entwickeln, welche die Unterrichtspraxis nachhaltig bereichern. Zugleich steht es beispielhaft für die Tätigkeit von LesArt. Interessierte Lehrkräfte und Künstler*innen finden Ergebnisse auf der Internetseite www.kunstlabore.de. Videos, Audios sowie Fotoreihen, Bildergalerien und Zitate aus Kunstwerken wurden zu fünf crossmedialen Erzählungen zusammengefügt und um Materialien und Befragungen von Künstler*innen, Schüler*innen, Lehrkräften und Schulleiter*innen ergänzt.
Kunstlabor Literatur macht sichtbar, dass es den einen Weg, die eine Methode nicht gibt. Vielmehr fließen in der Vorbereitung einer Veranstaltung Wissen, Können und Begabungen der Künstler*innen ineinander, um im Buch, Bild oder Medium den poetischen Kern herauszuschälen. In allen crossmedialen Erzählungen deutet sich an, dass den Veranstaltungen Kenntnisse unter anderem der Theorie zur Kinder- und Jugendliteratur, der Sprachwissenschaft, der Entwicklungspsychologie, der Medienpädagogik oder der Kommunikationstheorie zugrunde liegen.
Zusammenfassend dargestellt sind hier Überlegungen, die vor einer Veranstaltung zu durchdenken, dann im Team und zwischen den beiden Durchführenden zu diskutieren und umzusetzen waren (und sind):
- Buchauswahl unter Kenntnis des Markts (2020 erschienen in Deutschland 77 272 Erstauflagen; davon 18,4 Prozent, also 14 218 Kinder- und Jugendbücher; vgl. Börsenverein des Deutschen Buchhandels 2021a und b) und fachlich bedeutsamer Empfehlungslisten, wie etwa die Nominierungsliste des Deutschen Jugendliteraturpreises
- Für welche Zielgruppe wird die Veranstaltung vorbereitet? (Altersgruppe, Schulklasse, Schulart, Schulkonzept, Familien, Kollegium, Studierende etc.)
- In welcher Situation befindet sich die Zielgruppe? (Wandertag, Unterricht, fakultativer Kurs, Freizeitgestaltung etc.)
- Welche Themen und Strömungen beschäftigen unsere Gesellschaft und insbesondere diese Gruppe gerade?
- Intensiver Lese- und Rechercheprozess sowie literaturwissenschaftliche Analyse der ästhetischen Qualität
- Mit welchen Themen und welchen Ansichten wenden sich die Autor*innen und Illustrator*innen an ihr Publikum?
- Wie zeigt sich die Art und Weise des Erzählens in literarischen und bildkünstlerischen Mitteln? (Erzählperspektiven, Verortung, Erzählzeiten, Erzählton, Figurencharakteristik, Bildsprache, bildkünstlerische Technik, Farbwahl, Bild-Text-Beziehungen etc.)
- Welche Aspekte weisen besondere rezeptionspsychologische Bedeutsamkeit auf?
- Entwicklung von Vermittlungsideen
- Welche ästhetischen Signale des Buchs könnten die Zielgruppe inspirieren?
- Welche künstlerischen, kunstpädagogischen oder kommunikativen Verfahren sind in Bezug auf das ausgewählte literarische Werk geeignet, das Wahrnehmungs-, Vorstellungs- und Darstellungsvermögen von Kindern und Jugendlichen anzusprechen?
- Welche Fragen aus der Gruppe könnten sich über das Buch hinaus entwickeln? (historischer Kontext, biografischer Hintergrund der Autor*innen, gesellschaftliche Aktualität etc.)
- Entwurf einer Dramaturgie, die sowohl die äußere Form als auch die innere Struktur der geplanten Veranstaltung in einer Konzeption erfasst und entsprechend einer Vorlage Inhalt, Vorgehen und Material beschreibt
- Wie muss die zeitliche Abfolge gestaltet sein? (Begrüßung, Kennenlern-Runde, Kreativwerkstatt, Präsentation, Pausen, Reflexion etc.)
- Welche Arbeitsformen bieten sich an und wie sind diese in der konkreten Situation umzusetzen? (Plenum, Arbeitsgruppen, Werkstätten, Einzelarbeit, Inszenierung etc.)
- Welche Moderations- und Kommunikationstechniken werden eingesetzt? (Fragetechniken, Monologe, Dialoge, (Streit-)Gespräche, Arbeitsaufträge und Anleitungen für Übungseinheiten, Vorleseeinheiten etc.)
- Welche Räume werden genutzt? Wie sind diese im Sinne der Ästhetik des Buches eingerichtet? Mit welchen Materialien, Requisiten, Medien und/oder welcher Technik? Wie werden Ton und Licht der Dramaturgie entsprechend wirksam? Ist eine Außenaktion geplant?
- Wie gelingt der Übergang von einem zum nächsten Raum?
- Sind außer den beiden Moderator*innen Dritte zur Unterstützung notwendig?
- Welche Rolle haben Begleitpersonen? Muss es ein Vorgespräch geben?
- Umsetzung der Dramaturgie bei der Veranstaltung
- Überprüfen aller Räume, Materialien und der Technik vor Beginn der Veranstaltung
- Schrittweise Durchführung aller im Ablauf festgehaltenen Teile, gegebenenfalls mit situationsabhängigen Veränderungen (veränderte Teilnehmer*innenzahl, veränderter Zeitbedarf aufgrund intensiver Diskussion, Impulse aus der Gruppe, ungute Gruppendynamik aufgrund eines Vorfalls auf dem Weg etc.)
- Unterstützung in den Arbeitsgruppen und künstlerischen Werkstätten
- Gemeinsame Reflexion der gesamten Veranstaltung
- (Selbst-)kritische Reflexion der Veranstaltung und Überarbeitung der Konzeption
- Was ist besonders gut gelungen? Was nicht?
- Gab es Unsicherheiten hinsichtlich der eigenen Rolle und warum?
- Welche erwarteten oder unerwarteten Reaktionen der Kinder und Jugendlichen wurden beobachtet?
- Wie flexibel konnte auf Unterbrechungen oder Störungen reagiert werden?
Nicht nur in der didaktischen Fachwelt diskutieren Wissenschaftler*innen kritisch, inwieweit im Bereich literarisches Lesen und Lernen erworbene Kompetenzen gemessen werden können. Ausgangspunkt dafür ist die Entwicklung von Modellen, die anstelle von Rahmenlehrplänen Ziele des Unterrichts formulieren. „Es existiert kein konsensfähiges, in der Forschungsgemeinschaft allgemein anerkanntes Modell ‚zum Aufbau bzw. zur Vertiefung literarischer Rezeptionskompetenzen‘ und wenn mittlerweile dennoch ‚Standards für die spezifisch literarischen Bereiche‘ benannt wurden, so passten sich diese eher in bildungspolitische Anforderungen ein als in einen breit akzeptierten Theorierahmen.“ (Odendahl 2018:10)
Das Ringen um Standards ist aus der Sicht von Kunst nicht sinnvoll. Kunst und Ästhetik werden individuell wahrgenommen, aufgrund vorhandener Kenntnisse und Erfahrungen empfunden oder erkannt. Vieles bleibt unbewusst – vielleicht bis zu einem späteren Moment des Sich-Bewusstwerdens. Die Hoffnung darauf wohnt dem ästhetischen Arbeiten und der Motivation von Künstler*innen inne.
Im Folgenden werden die crossmedialen Erzählungen aus dem Kunstlabor Literatur vorgestellt, die zudem auf der Website (www.kunstlabore.de) nachvollzogen werden können.
Neugier auf Bücher wecken – Die literarische Stationenreise
In einer Stationenreise lernen Schüler*innen 20 sorgfältig ausgewählte Bücher durch ein bewusst langsames Vorgehen kennen. Von Station zu Station erhalten die Schüler*innen immer neue Informationen zu den Büchern, um darauf neugierig zu werden. Materialien, Moderation und die strenge Regel „Niemand berührt ein Buch!“ fördern zudem Denken, Argumentieren und Diskutieren. Die digitale Erzählung zeigt die Begeisterung und Freude aller Beteiligten. Die Stationenreise eignet sich auch als Fortbildung für Lehrer*innen und Literaturvermittler*innen.
Literatur mit allen Sinnen erleben – Der Träumer
Pam Muñoz Ryan und Peter Sís erzählen im Roman Der Träumer von Neftali. Der sensible Junge sammelt Wörter und Naturobjekte, ergründet deren Widersprüche und Geheimnisse. Dabei entdeckt er die Schönheit der Sprache und die Kraft der Poesie. In Beispielen aus der Veranstaltung und in der Reflexion des Erlebten offenbart sich, welche Wirkung Raum, Zeit sowie künstlerische Materialien auf Schüler*innen haben. Wie diese sich im Rahmen einer Veranstaltung zu empathischen Ratgeber*innen des literarischen Helden entwickeln, ist in der digitalen Erzählung zu erfahren.
Sprache mit Bildern entwickeln – Die ganze Welt
Das Buch von Katy Couprie und Antonin Louchard kommt ganz ohne Worte aus und eröffnet Schüler*innen damit eine Welt aus Bildern. Dieser Schatz regt Sehen, Denken sowie Sprechen an und hilft, eigene Gedanken und Gefühle auszudrücken. In der digitalen Erzählung wird sichtbar und hörbar, mit welchen Ideen und welcher kreativen Kraft alle Beteiligten lustvoll Bilder lesen und ihre Sprache entwickeln. Dieses Buch eignet sich insbesondere für Schüler*innen aus Deutsch-als-Zweitsprache-Klassen, weil es ihren Wortschatz bereichert.
Genussvoll Gedichte entdecken – Ununterbrochen schwimmt im Meer der Hinundhering hin und her
Durch die von Uwe-Michael Gutzschhahn herausgegebene Anthologie entdecken Schüler*innen Nonsensgedichte aus mehreren Jahrhunderten und das Vergnügen daran. Dazu tragen die humorvollen Illustrationen von Sabine Wilharm bei. Die digitale Erzählung präsentiert das Vorgehen in den Workshops am Beispiel der Themen „Kochen“ und „Liebe“, das Entstehen neuer Reime und die große Freude, mit der Schüler*innen Nonsens-Gedichte auf die Bühne bringen.
Literarischen Helden auf Augenhöhe begegnen – Tschick
Wolfgang Herrndorf erzählt in Tschick kunstvoll und temporeich von Hindernissen und Glücksfällen einer Reise, die seine literarischen Helden ins Brandenburgische führt. Das Beispiel zeigt, wie Schüler*innen im Rahmen einer Veranstaltung vor ähnliche Herausforderungen gestellt werden wie die Protagonisten im Roman: Maik und Tschick. Von Aufgabe zu Aufgabe lernen die Schüler*innen beide Romanhelden kennen – und entdecken, wie sehr sich die literarische und die eigene Lebenswelt ähneln oder voneinander unterscheiden.
2.2 Veranstaltungen – Bücher – Erlebnisse und Einsichten
2.2.1 Von Freiräumen, Beziehungen und Lesezeiten:
„Der Freiraum, der all dem eingeräumt wurde, tat den Kindern wie auch uns Lehrerinnen sehr gut. Genau hinzusehen, gut zuzuhören, in Ruhe nachzudenken, die Bücher zu genießen, Luft holen zu können […] das war besonders und anders als in dem eher getakteten und oft getriebenen Schulalltag.“ Fränze Bieber, Lehrerin (Dresden)
„Seit unserer Stationenreise nahm ich die Bücher schon fünf oder sechs Mal wieder mit in die Klasse. Die Kinder freuten sich jedes Mal, die Bücher wiederzusehen und sie in der freien Lesezeit weiterzulesen. Es ist schön zu erleben, dass sich bei ihnen inzwischen eine Beziehung zu diesen Büchern aufgebaut hat.“ Ingrid Brücker-Götz, Schulleiterin (Bremen)
„Die eingeplante Lesezeit von zwanzig Minuten war den Kindern zu kurz. Sie wollten die Bücher wirklich kennenlernen und schauten sich viele Details an. Uns fiel dabei auf, dass jedes Kind auf sich und sein Buch konzentriert war und nicht – wie so oft – auf die Freundin und deren Buch. Am Ende haben wir 60 Minuten Lesezeit gegeben. Diese Verlängerung war möglich, weil die Kinder zugunsten des Lesens auf das geliebte Fach Sport verzichteten.“ Fränze Bieber, Lehrerin (Dresden)
Welche Überraschung, Freude und Zufriedenheit entspringen den zitierten Aussagen! Wovon schwärmen diese Lehrerinnen? Aus welchen Gründen verzichten Kinder zugunsten von zusätzlicher Lesezeit auf ein geliebtes Unterrichtsfach? Die Aussagen beziehen sich, wie alle den jeweiligen Abschnitten vorangestellten Zitate auch, auf literarische Veranstaltungen, die diese Lehrerinnen und Schüler*innen als Unterrichtsmodelle im Projekt Kunstlabore in ihren Schulen selbst erprobten.
Das Format der literarischen Stationenreise wurde bei LesArt von außen – durch Anfragen aus Schulen, Schulbehörde, Kitas oder Bibliotheken nach Fortbildungen – angeregt. Aufgrund des zunehmend unübersichtlich werdenden Buchmarkts entwickelte sich bei zukünftigen und erfahrenen Lehrkräften, Erzieher*innen, Bibliothekar*innen, Buchhändler*innen und Lesepat*innen der Wunsch nach Übersicht über herausragende und ausgezeichnete Bücher. Darüber hinaus erreichte LesArt die Bitte, zu einem speziellen Thema (z.B. Adoleszenzliteratur, Nationalsozialismus oder erste Liebe) besonders geeignete Bücher vorzustellen. Dieser Herausforderung trug LesArt unter anderem mit dieser neuen Form der Fortbildung Rechnung.
Im Mittelpunkt stehen 20 aktuelle, ausgezeichnete Bilder-, Kinder- oder Jugendbücher. Die Idee, das Motiv der Reise zu nutzen, lag nahe. Anstelle einer statischen, vortragsähnlichen Buchpräsentation entdecken die „reisenden“ Teilnehmer*innen, miteinander interagierend, die Bücher selbst – von Station zu Station.
Basierend auf Erfahrungen aus zahlreichen Fortbildungen entwickelte das LesArt-Team im Rahmen von Kunstlabor Literatur dieses Format weiter, um auch Kindern und Jugendlichen die Möglichkeit zu geben, aus einem Angebot von 20 Büchern jenes Buch oder jene Bücher zu entdecken, das oder die sie gern lesen oder anschauen möchten. Diese Favoriten wanderten in die Bücherkiste der Schulklasse und wurden Teil des Unterrichts. Um die Interessierten bei der Buchauswahl zu unterstützen, gibt es innerhalb der crossmedialen Erzählung einen Link, der zur Datenbank Der Rote Elefant – Bücher für Kinder und Jugendliche (www.der-rote-elefant.org) führt. Dort können Bücher nach verschiedenen Kriterien und Schlagworten ausgewählt werden.
Im Prozess der Erarbeitung wurden folgende Fragen diskutiert, welche die crossmediale Erzählung strukturierten:
- Wie werden Schüler*innen auf 20 empfehlenswerte Kinder- und Jugendbücher neugierig?
- Auf welchen Ideen beruht die literarische Stationenreise?
- Wie ist die literarische Stationenreise aufgebaut?
- Welche Bücher kommen in die Auswahl und wie sind diese zu präparieren?
- Was bewirken Materialien, die mehrdeutig sind und zu Irritationen führen?
- Welche Mittel sichern eine langsame Annäherung an die Bücher?
- Wie werden Gedanken und Gespräche über Bücher angeregt?
- Welche Kompetenzen werden durch die literarische Stationenreise gefördert?
Die literarische Stationenreise startet mit der Begrüßung der Gruppe und ihrem Aktivwerden: Alle ziehen aus einem Koffer eine „Eintrittskarte“ und schon geht es los. Ganz ohne Aufforderung beginnen das gegenseitige Zeigen und das Gespräch über Abgebildetes. Was könnte es darstellen, was über den weiteren Verlauf der Reise verraten? Antworten auf ihre Fragen suchen und finden die Kinder selbst, weil die Moderation immer wieder nochmaliges Hinschauen empfiehlt. So reihen sich fantasievolle Ideen aneinander und münden manchmal in eine Geschichte zu den sehr verschiedenen „Eintrittskarten“. Nach einem Raumwechsel offenbart sich ihre Bedeutung: Aus der Eintrittskarte wird eine Fahrkarte, besser noch eine Platzkarte, deren Abbildung sich als Illustrations-Detail eines Buchumschlags entpuppt. Auf vier Tischen liegen jeweils fünf Bücher mit besonderen Schutzumschlägen. Jede Platzkarte führt zu einem Buch. Auf diese Weise formieren sich vier „Reisegruppen“, die sich an einem der vier Tische (Stationen) platzieren und dort „ihre“ fünf Bücher entdecken. Wobei auf den präparierten, von jeglichem Text befreiten Buchumschlägen das Coverbild zu sehen ist.
Haben alle vier Gruppen ihre ersten Eindrücke gesammelt und diskutiert, regt die Moderation mit Fragen zu weiterem Nachdenken an. Was ist das Gemeinsame aller fünf Buchcover auf jedem Tisch? Nach der „eigenen“ Station beginnt die Reise, um auch das Gemeinsame auf den Buchcovern der anderen Stationen zu entdecken. Und bei all dem gilt die Regel: „Hände weg vom Buch!“
Die von Station zu Station gesammelten Eindrücke und gemachten Entdeckungen äußern die Klein-Gruppen im gemeinsamen Gespräch, ergänzen oder widersprechen einander. Nach und nach erhalten die Kinder oder Jugendlichen ergänzendes Material: Buchtitel, erster Satz, Inhaltsangabe. Sie entscheiden über deren Zuordnung, indem sie Verbindungen zwischen allen Abbildungen und Texten herstellen. Auf diese Weise steigert sich die Neugier, wird bereits mit dem einen oder anderen Buch sympathisiert. Wenn endlich die Buchumschläge entfernt werden dürfen, beginnen das Anschauen, Lesen, Einander-Zeigen und das Vergleichen mit den eigenen Vorstellungen vom Buch. Zunächst an der eigenen Station, später an den anderen.
Doch welche Bücher sind die jeweiligen Favoriten? Bei solch bewusst langsamem Vorgehen entwickeln sich genaues (Hin-)Sehen, Vergleichen, Denken, Argumentieren und Entscheiden, letztlich die eigene sprachliche Ausdrucksfähigkeit. Die Erfahrung, dass die Kategorien „richtig“ und „falsch“ ohne Bedeutung sind, lässt auch Zögerliche und Schüchterne Mut fassen. Schnelle und
(Vor)Laute lernen, mehrmals hinzuschauen und Schlussfolgerungen zu überprüfen. Vielleicht fällt jemandem ein, dass schon der Koffer am Eingang ein Symbol fürs Reisen darstellt; vielleicht auch nicht oder viel später irgendwann einmal. Für den Erfolg der Veranstaltung ist das nicht wichtig. Für deren konzeptionelle Vorbereitung ist der Koffer unabdingbares Requisit, weil er solch eine Erkenntnis ermöglicht und somit auf Verbindungen hingewiesen wird, die nicht immer augenfällig sind.
Für die Buchauswahl sollten mehrere Kriterien berücksichtigt werden, so die Lesemotivation und Lesefähigkeit der Kinder und Jugendlichen, die ästhetische Qualität jedes Buches, die Bereitstellung eines breiten Spektrums an Büchern – von Bilderbuch, Comic, Graphic Novel bis zu Erzählungen, Lyrikbänden, Märchen oder Romanen. Das erzählende Sachbuch sollte ebenso dabei sein, wie ein textloses Bilderbuch. Letzteres führt zu anregenden Irritationen, wenn der erste Satz zugeordnet werden soll.
2.2.2 Von Bildern, Begriffen und Betrachtungen: Die ganze Welt
„Wenn über 100 Bildkarten in einem Raum hängen, sieht das nicht nur sehr schön aus. Es regt auch unmittelbar zur Betrachtung, zur Diskussion und zum Gespräch an. Schon vor Beginn der Stunde gingen die Kinder von sich aus durch den Raum, schauten sich die Bilder an und tauschten erste Assoziationen aus.“ Daniel Jacobj, Lehrer (Bremen)
„In der Schule begegnen den Schülerinnen und Schülern immer wieder Wörter, die sich mit einfachen Worten nur schwer erklären lassen. Einige dieser Wörter konnten wir gemeinsam mit Bildern aus dem Buch Die ganze Welt erschließen. Das Wort ‚Kultur‘, welches in einer Aufgabenstellung im Unterricht vorkam, konnte ich nur an Beispielen vermitteln. Alles, was wir bei LesArt gemacht haben, ist Kultur, erklärte ich. Die Kinder zählten daraufhin auf: schreiben, zeichnen, lesen, reimen, singen, ins Museum gehen … Auf diese Weise bekamen sie eine Vorstellung von dem Begriff ‚Kultur‘. Weil sie diese erfahren und gelebt haben.“ Zdena Thomassen, Lehrerin (Berlin)
„Es wird deutlich, dass die Kinder zunehmend besser mit literarischen Texten umgehen können. Es fällt ihnen inzwischen leichter, sich in Figuren hineinzuversetzen und sich dadurch zusammenhängender zu äußern.“ Zdena Thomassen, Lehrerin (Berlin)
Seit im Jahr 2001 das Bilderbuch Die ganze Welt erschien, hat es seinen festen Platz im Veranstaltungsprogramm von LesArt und wird auf vielfältige Weise eingesetzt: als Eintrittskarte in eine Arbeitsgruppe, als Impuls für ein Gespräch, als Tipp in einem Sprachspiel, als Anregung und Einführung in ein Thema. „Die ganze Welt in einem Bilderbuch. In über zweihundert Bildern findet man den Kosmos aufgefächert. Figuren aus Pappmaché begegnen Malereien, Fotos treten mit Kinderzeichnungen in einen Dialog. Strukturen, Figuren, Motive bilden Ordnungssysteme. Blicke werden gelenkt, Assoziationen entzündet. Die ganze Welt als lustvolle Schule des Sehens. Nahaufnahmen wechseln mit Panoramabildern, künstliche Figuren werden Lebendigem gegenübergestellt, Plastik-Gestalten in Natur eingefügt. Katy Couprie und Antonin Louchard legen in ihrer Welt-Collage Gedankenwege. Sinnzusammenhänge entstehen in den betrachtenden Köpfen lose und scheinbar zufällig, nach den Gesetzen des Traumes verknüpft. Die Welt als Ganzes? Jeder nimmt sie anders wahr – je genauer jeder sie betrachtet, desto vielseitiger und reicher stellt sie sich dar.“ (Eder 2002:64)
Aufgrund der künstlerischen und thematischen Vielfalt lag es nahe, innerhalb der Veranstaltungen im Kunstlabor Literatur das ästhetische Potenzial dieses Buchs tiefer auszuloten. Aus den Buchseiten werden laminierte Bildkarten erstellt, die einzeln betrachtet, neu kombiniert und nach verschiedenen Vorgaben sortiert beziehungsweise thematisch, motivisch oder formal verbunden werden können. Durch das Entdecken von Bildbeziehungen, zum Beispiel zwischen Vorder- und Rückseite einer Bildkarte oder zwischen mehreren (selbst) ausgewählten Bildkarten werden neben dem Wortschatz auch Denk- und Sprachvermögen der Kinder offenbar, erweitert und aufs Neue angeregt.
So eröffneten sich viele Möglichkeiten, um die Bildkarten aneinanderzureihen, unter anderem nach dem Alphabet geordnet (Apfel, Baum, Computer etc.) oder einem Thema entsprechend (Natur, Obst, Menschen, Wetter etc.) oder Formen folgend (etwas Rundes, Eckiges, Amorphes etc.).
Wie wäre es, sich selbst mittels Bildkarten vorzustellen, auf denen Lieblingsfarbe, Lieblingsessen, Hobby oder Lieblingstier abgebildet sind?
Dass sich diese Bildersammlung für das Erlernen der deutschen Sprache hervorragend eignet, erwies sich bei Kindern einer Berliner Grundschule, die in einer Willkommensklasse gemeinsam Deutsch lernten. Ihre Muttersprachen waren Arabisch, Bulgarisch, Farsi, Paschtu, Polnisch, Rumänisch, Russisch, Türkisch. Aufgrund der Bildsprache dieses Buches lernten sie unter anderem neue deutsche Wörter, konnten eigene Gedanken und Gefühle ausdrücken, später sogar Reime, Liedtexte und Gedichte verstehen und diese frei sprechen. Hier trafen Wortbedeutung auf Abbildung, Bildverständnis auf Erkenntnis und schließlich Mutter- und Zweitsprache auf Körpersprache.
Aufschlussreich war für das Team von Kunstlabor Literatur, wovon ein Lehrer berichtete. Er hatte vergessen, im Unterrichtsraum die Bildkarten von der Wäscheleine zu nehmen. Tags darauf wurde der Raum für das Fach Englisch genutzt. Die Karten an der Leine störten? Im Gegenteil. Sie waren unvorhergesehener Anlass für Vokabelübungen und bildgestütztes Erzählen auf Englisch. Im Unterrichtsfach Biologie dienten die Bilder später der Zusammenschau von allem, was wächst.
Eine Berliner Grundschullehrerin nutzte die Bildkarten für ein dreitägiges Projekt, um mit ihren Schüler*innen Gedichte zu schreiben, neue Bilder zu gestalten und am Ende ein Memory-Spiel zu kreieren.
2.2.3 Von Objekten, Fragen und Räumen – Der Träumer
„Für die Kinder war es sehr spannend, die Naturobjekte zu erkunden. Etwas anzufassen oder daran zu riechen löste eine ganz andere Intensität der Wahrnehmung und Beschäftigung mit dem Gegenstand aus. Das ließ sich eindrücklich an den Notizen ablesen, die die Kinder zu den Gegenständen geschrieben haben.“ Rebecca Leiße, Lehrerin (Bremen)
„Von sich aus begannen die Kinder, ihre notierten Wörter und Sätze zu illustrieren und visuell-poetisch zu gestalten. Die Inspiration dafür ging von den im Raum aushängenden Illustrationen und der Gestaltung des gesamten Klassenzimmers aus. Diese Wirkung hat uns überrascht und erfreut!“ Fränze Bieber und Denise Plunert, Lehrerinnen (Dresden)
„Nachdem das gesamte Buch im Unterricht besprochen wurde, studierte ich mit der Klasse noch ein Theaterstück zu Der Träumer ein. Dabei erschlossen sich im Nachhinein nochmals Dinge, zum Beispiel der Bezug zu Verdis La Traviata. Bei der Einführung war die Musik für die Kinder noch ungewohnt und reizte sie sogar zum Lachen. Durch das Theaterstück entstand aber ein anderes Verständnis für die Musik und ihre Bedeutung für Neftalis Bruder.“ Rebecca Leiße, Lehrerin (Bremen)
Rauminstallationen sind bedeutsam. In der Veranstaltung zum Kinderbuch Der Träumer stand im Raum ein Regal mit Naturobjekten wie Muscheln, Tannenzapfen, Vogelfedern. An einer Leine hingen Kopien der Illustrationen und Textzitate. Ergänzt wurde die Installation um einen Koffer, darin unter anderem eine Schallplatte mit der Verdi-Oper La Traviata und um einen Plattenspieler. Die gesamte Raumeinrichtung ist an den literarischen Text angelehnt und eröffnet einen Erlebnisraum, der zugleich Wirk-, Denk- und Spielraum ist und letztlich den individuellen Aneignungsprozess des Buchs unterstützt. Ohne es zu diesem Zeitpunkt zu ahnen, nähern sich die Kinder der Hauptfigur an: Sie umschreiben, wie sie die Naturobjekte wahrnehmen. Sie nutzen alle fünf Sinne und werden zusätzlich durch die Installation aus Illustrationen und Textzitaten eingestimmt. Ihre Wortsammlung wird zum sprachlichen Material eigener poetischer Sätze und Fragen. „Was macht ein Tagträumer nachts?“, fragte ein Berliner Schüler und lag genau auf der Denk-, Gefühls- und Sprachebene von Neftali, dem Protagonisten.
Die Autorin des Kinderbuchs Der Träumer, Pam Muñoz Ryan, äußerte sich zu den Illustrationen von Peter Sís, die dieser ihrem Text zur Seite stellte, folgendermaßen: „Seine Kunst ermöglicht eine eigene Interpretation. Seine Kunst entzückt und inspiriert mich. Die Geschichte bekommt durch sie eine andere Dimension.“ (Ryan o. J. zit. nach Krauß und Mähne o. J.: o. S.)
Sís wählte sehr bewusst einen zwischen Blau und Grün changierenden Ton, um auf die natürliche Umgebung seiner Hauptfigur zu verweisen und Nerudas Angewohnheit, mit grüner Tinte zu schreiben, aufzugreifen. Ein Detail bei der Gestaltung des Veranstaltungsmaterials speist sich aus dieser künstlerischen Entscheidung: Alle Texte – Zitate, Beschriftungen, Aufgabenstellungen oder Hinweise – wurden im Sís´schen Farbton gedruckt. Dies ist ein Beispiel dafür, wie sich die ästhetische Entscheidung des Künstlers auf die Ausgestaltung von Raum und Material auswirkt.
Teil der Veranstaltung ist die Inszenierung eines kleinen Fests, das durch die Ankunft des strengen und jähzornigen Vaters (in diese Rolle schlüpft eine Teamerin) gestört wird. Diese Spielszene verdeutlicht Neftalis Konflikt mit dem Vater und lässt die Kinder nachempfinden, wie sehr Neftali diesen fürchtet. Vorgelesene Textstellen führen das schwierige Vater-Sohn-Verhältnis weiter aus. Dieses Erleben auf emotionaler und rationaler Ebene bereitet die Kinder darauf vor, später Neftalis empathische Ratgeber zu werden. Sie lernen Strategien des inneren Widerstehens und Aufbegehrens kennen und formulieren ermutigende Ratschläge für die Hauptfigur: Zeig Deinem Vater, was du kannst. Sei selbstbewusst! Eine Aufmunterung und möglicherweise ein wichtiger Moment für die Entwicklung des eigenen Selbstbewusstseins.
Da Der Träumer von der Kindheit des chilenischen Dichters Pablo Neruda erzählt, liegt es nahe, dessen Texte einzubeziehen. Nerudas Buch der Fragen inspirierte die chilenische Lehrerin Marty Brito dazu, mit Kindern ein Fragekarten-Spiel zu entwickeln (vgl. Brito 1997). Einige Fragen daraus standen zum Abschluss der Veranstaltung im Mittelpunkt, als sich die Kinder diese einander vortrugen. Ihrem Sprechausdruck und ihren Stimmen war die Bedeutsamkeit der Fragen zu entnehmen. Mögliche Antworten behielt jeder für sich.
2.2.4 Von Kugeln, Kochtöpfen und Nonsens: Ununterbrochen schwimmt im Meer der Hinundhering hin und her
„Wie die rote Kugel eingesetzt wurde, war immer neu und spannend. Mal waren Aufgaben darin, mal haben wir damit eine Botschaft an eine andere Klasse geschickt. Bei der Theaterszene, die uns vorgespielt wurde, war sie dann das Herz der Verliebten. Und die Clownsnasen, die uns bei der Aufführung geholfen haben, eine Figur zu finden, sind ja auch kleine rote Kugeln.“ Draghana, Schülerin
„Ich fand es toll, dass bei der Aufführung niemandem peinlich war, was er gemacht hat. Sicher auch, weil die Reaktionen der anderen Klassen so gut waren. Und weil sich alle untereinander zugehört haben.“ Jakob, Schüler und Marieke, Schülerin
„Wie die Kinder der Willkommensklasse die Tiernamen zunächst in ihrer Muttersprache aufsagten, das war sehr spannend.“ Mert, Schüler
Nonsens – das Spiel mit Wörtern und Reimen, mit Sonderbarem und Widersprüchlichem, mit Sinnvollem und scheinbar Sinnlosem – regt das Denken jenseits von Reglementierung und Norm an, fördert und erfordert Fantasie und Humor. Das passte gut zum Kunstlabor Literatur, das unter anderem auch Grenzen des Gewohnten ausloten wollte.
Die rote Kugel (ein Illustrationsdetail) wurde zum Requisit, das – mit stetig wechselnder Funktion – eine Verbindung zwischen Schüler*innen verschiedener Altersgruppen und Klassen unterschiedlicher Berliner Schulen schuf. Die fünf Schulklassen trafen sich erst- und einmalig zur Abschlussveranstaltung in der Berliner Akademie der Künste. Mehrere Workshops lagen hinter ihnen, in denen beispielsweise mit sprachspielerischen, pantomimischen oder musikalischen Mitteln ausprobiert werden konnte, welche Art der Präsentation zu den mit den Kindern ausgewählten Gedichten passt. Jede Klasse brachte ihr interaktives Lyrik-Programm auf die Bühne und wurde Teil im jährlich stattfindenden berlinweiten Poesiefestival.
Literarische Grundlage war die Anthologie Ununterbrochen schwimmt im Meer der Hinundhering hin und her, herausgegeben von Uwe-Michael Gutzschhahn, illustriert von Sabine Wilharm. Für die Arbeit mit dem Buch in kreativen Sprach- und Schreibwerkstätten wurden Gedichte aus zwei Themenbereichen ausgewählt: das Kochen und die Liebe. Im Rahmen eines Kochstudiobesuchs und durch das Agieren als Köch*innen erlebten die Kinder Nonsens spielerisch. Absonderliche Küchengeräte wie ein Lineal, das zum Rührstab wurde oder der Lehrertisch, der zum Herd mutierte, verstärkten die vergnüglich-absurde Atmosphäre. Die Kinder kreierten Gedichte-Gerichte aus Zutaten-Wörtern. Diese mussten folgenden Vorgaben entsprechen: ein Gegenstand, eine Tätigkeit und ein Lebensmittel in Verbindung zur Küche/zum Kochen. Die vierte Zutat jedoch musste etwas Absonderliches bezeichnen, das nichts mit dem Kochen zu tun hatte. Alle Zutaten-Wörter kamen in einen Kochtopf, wurden verrührt und mit einer Schöpfkelle ausgegeben.
Die Kinder der Willkommensklasse beschäftigten sich über den Zeitraum von mehreren Wochen mit einem Gedicht von Paul Maar aus dem oben genannten Buch:
Regenpferd und Seewurm,
Regenschwein und Warzenwurm,
Haipferd, Nasfisch, Nilbär, Eishorn,
Buchlaus, Seefink, Walhund, Blattross,
Brillenauge, Pfauenschlange,
Gürtelfrosch und Wettertier –
Irgendetwas stimmt nicht hier!
Dass Namen von Tieren durcheinandergeraten waren, erkannten die Kinder schnell und begaben sich spielerisch auf die Suche nach den im Text „versteckten“ Tieren, wobei Tierfotos und Wortkärtchen beim Richtigstellen halfen. Durch Recherchen in Büchern und im Internet beschäftigten sich die Kinder ausführlich mit den einzelnen Tierarten, ihrer Lebensweise und ihren Eigenarten. Doch eine Abbildung sorgte schließlich für große Irritation, zeigte sie doch das, in keinem zoologischen Nachschlagewerk enthaltene Regenschwein. Was, wenn die Tiernamen gar nicht durcheinandergekommen waren? Doch wie könnten ein Gürtelfrosch oder ein Blattross aussehen und wie sich bewegen? Eigene Vorstellungskraft war gefragt, als die Kinder Bilder der Fantasietiere schufen und Fortbewegungsarten erprobten. Hier stieß Fakt auf Fantasie, Wissenschaft auf Kunst, wurde vermeintlicher Unsinn lustvoll zum Sinn. Bis sich Vergnügen am Gedicht und seiner Präsentation einstellte, war intensives Üben vonnöten. Wie überzeugend diese Kinder ihr Gedicht interaktiv auf die Bühne in der Akademie der Künste zu Berlin brachten, ist im entsprechenden Film zu sehen.
2.2.5 Von Reise, Rollenspiel und Reflexion: Tschick
„Mich hat am meisten begeistert, wie genau die Kinder über die Figuren und ihre Gründe, so zu handeln, nachdachten und diskutierten. Wie gut fast die ganze Klasse mündlich mitarbeitete – auch Schüler*innen, die sich sonst nicht für Literatur begeistern. Das war anders als bei Büchern, die nicht auf diese Art eingeführt wurden.“ Rebecca Leiße, Lehrerin (Bremen)
„Es war beeindruckend, wie ernsthaft die Schüler und Schülerinnen in ihre Rollen eingestiegen sind. Alle waren verkleidet; mit Isolierband wurden – wie im Buch – Bärte geklebt und eine Gruppe verwendete es sogar, um Zahlen und Buchstaben auf dem Nummernschild des imaginierten Autos zu verändern.“ Inga Mecking, Lehrerin (Bremen)
„An den Stunden gefällt mir nicht das normale Lesen. Mir gefällt es, wie hier, etwas zu durchleben. Das ist für mich interessant und ich will nachher wissen, wie das für die Jungen endet. Da werde ich bestimmt ins Buch reinschauen.“ Denis, Schüler (Berlin)
Grundidee der Veranstaltung zum Jugendbuch Tschick von Wolfgang Herrndorf ist es, mit den Schüler*innen in Anlehnung an den Plot des Buches eine inszenierte „Reise“ in die Walachei zu unternehmen. In deren Verlauf stoßen sie an vier Orten auf Hindernisse, vor denen auch die beiden Hauptfiguren Maik und Tschick im Verlauf der Geschichte standen. Angelehnt daran, was beide Helden zur Verfügung hatten, um diese Hindernisse zu überwinden, erhielten die Jugendlichen entsprechende Requisiten, um die jeweilige „hinderliche“ Situation zu meistern. Gemeinschaftliches Planen und Handeln, Kreativität und Spontaneität sowie der Umgang mit verschiedenen Hilfsmitteln sind für eigene Lösungsideen der Schüler*innen nötig. Mit Textzitaten, Fotos, Ausschnitten aus Hörproduktionen und der Verfilmung des Romans lernt die Gruppe en passant Tschick und Maik näher kennen.
Es sind auch in dieser Veranstaltung zunächst die Dinge, die „reden“: eine Landkarte Europas, auf der Requisiten liegen (Kompass, Sonnenbrille, Löffel und Gartenschlauch), regt Nachdenken und Reden über den möglichen Sinn der Installation an. Die Frage, was sie selbst auf eine spontane Reise mitnehmen würden, führt die Schüler*innen zu Überlegungen, mit denen sich auch die Helden des Buches herumschlagen. Die vier Requisiten führen in vier Arbeitsgruppen. Das Spiel mit Als-ob-Fragen und -Situationen appelliert an die Vorstellungskraft der Jugendlichen und ihre Lust zur Improvisation. Am Ende der Veranstaltung reflektieren die Schüler ihre eigene „Reise“ und setzen sie in Beziehung zu der von Maik und Tschick. Damit baut auch diese Veranstaltung einen Rahmen für Identifikations- und Distanzierungsprozesse.
2.3 … und zum Schluss
Hätte das Team von Kunstlabor Literatur einen Wunsch frei gehabt und die Zeit, in der das Wünschen noch geholfen hat, käme endlich, dann … ja, dann hätte es eine sechste crossmediale Erzählung gegeben. Erzählt hätte diese von der zeitlosen literarischen Gattung Märchen und von der LesArt-Überzeugung, dass ästhetische Erfahrungen mit Märchen einen unentbehrlichen Beitrag zum Ich-Bewusstsein und zum Weltwissen von Kindern leisten. „Nach wie vor verleiht das Märchen gesellschaftlichen Defiziten, welche individuell erlebt und erlitten werden, ein zeitlos-existentielles Gewand, darunter Armut, Reichtum, Macht, gesellschaftliche Hierarchie, Ausgeliefertsein, Verunsicherung, Hilflosigkeit, Krankheit, Ausgrenzung […] Menschheitsübergreifende Erfahrungen bündeln sich hier gleichnishaft-symbolisch in der Erfahrung von Mangel und der daraus resultierenden Sehnsucht nach einem besseren Leben.“ (Rouvel 2013:59)
Im Rahmen des Zertifikatskurses hat LesArt die Internationalität und Vielfältigkeit dieser Literatur an einem Projektbeispiel verdeutlicht. Grundlage dafür ist ein LesArt-Märchen-Wander-Erzähl-Projekt mit zehn Berliner Schulklassen, zehn öffentlichen Bibliotheken und zehn Künstler*innen, deren Muttersprachen Deutsch, Englisch, Französisch, Griechisch, Italienisch, Persisch, Portugiesisch, Russisch, Türkisch oder Vietnamesisch waren. „Ganz im Sinne des kosmopolitischen Zugangs zum Märchen – von den Grimms wegweisend vorgezeichnet – ist auch das LesArt-Märchen-Wander-Erzähl-Projekt Das Wandern ist des Märchens Lust konzipiert. Die Geschichten basieren zum einen auf internationalen Sammlungen oder darauf, wie sie die fremdsprachigen Erzähler*innen in ihren Familien gehört haben. Dabei kreisen die zehn ausgewählten Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm und ihre internationalen Varianten um drei zentrale Märchenmotive: Brunnen, Schloss, Wald.“ (Wardetzky 2013:105)