Was tun mit dem Musikvideo „Apeshit“? Eine kanonreflexive, mehrperspektivische Betrachtung ambivalenten Materials
Abstract
Warum entscheiden wir uns in kunstpädagogischen Kontexten oder innerhalb von Settings der Kunst- und Kulturvermittlung für eine bestimmte Herangehensweise, für ein bestimmtes Material? Zumeist begründen wir die Entscheidung mit rationalen Argumenten, die häufig auf impliziten Normen oder normativen Überzeugungen fußen und die bestimmte Sichtweisen oder strukturelle Ungleichheiten reproduzieren können. Wie diese impliziten Normen und normativen Überzeugungen bearbeitbar gemacht werden können, soll anhand des Musikvideos Apeshit von The Carters (Regie: Ricky Saiz) aufgezeigt werden: Welche (impliziten) Annahmen leiten uns im Umgang mit kulturellen Erzeugnissen und musealen Kontexten? Wie behandeln wir ambivalentes Material, das sich eindeutigen Auslegungen und Zuschreibungen widersetzt? Durch eine Untersuchung aus mehreren Perspektiven am Beispiel von Apeshit gehen wir den Bedingtheiten individuellen kunstpädagogischen Handelns nach.
Warum entscheiden wir uns in Kontexten Kultureller Bildung für eine bestimmte Herangehensweise, für ein bestimmtes Material? Zumeist begründen wir die Entscheidung mit rationalen Argumenten und scheinbar sachlichen Notwendigkeiten, die häufig auf impliziten Normen oder normativen Überzeugungen fußen. In der Kunst werden dabei beispielsweise Positionen eines impliziten (europäisch/nordamerikanisch zentrierten) Kanons den „Anderen“ gegenübergestellt und dabei in Quantität und Qualität wesentlich ausführlicher behandelt (vgl. z.B. Regenbogen-Brünink 2013:4). Damit liegt der Auswahl eines scheinbar eindeutigen, kanonischen und implizite Normen reproduzierenden Materials bereits eine Machtasymmetrien stützende Wissensordnung zugrunde. Brunner hat in Bezug auf diese epistemischen (post)kolonialen Machtkonstellationen das Konzept „epistemischer Gewalt“ entwickelt: „Epistemische Gewalt reicht viel tiefer in das Wissen selbst hinein, in die Denk- und Handlungsmöglichkeiten bei seiner Hervorbringung, Artikulation und Rezeption. Die modernen eurozentrischen Wissenschaften der kolonialen Moderne sind an dieser Problematik wesentlich beteiligt, indem sie nicht nur Wissen als fertiges Produkt implementieren, sondern auch die Wege zum Wissen sowie die Modi seiner Durchsetzung und sogar seine Erneuerung beständig ‚kolonisieren‘.“ (Brunner 2020:142)
Die Eindeutigkeit der Festlegung dessen, was als Wissen gelten sollte und was nicht, manifestiert sich dabei bereits in der Materialauswahl: Welches Material relevant ist und was es daran zu lernen gilt, steht fest und unterliegt bestimmten Normen. „Ein anderes Wissen ist für die Kulturelle Bildung erforderlich. Ein Wissen, das sich in der Kulturellen Bildung im Sinne von Paulo Freire als „Prozess einer kritischen Bewusstwerdung (conscientização) über gesellschaftliche Verhältnisse und die eigene Eingebundenheit darin mit der Perspektive der Veränderung hin zu weniger gewaltvollen Verhältnissen [vgl. Linnemann/Mecheril/Nikolenko 2013:10] äußert.“ (Bücken 2021/20)
Wie aber kann ein solcher Prozess kritischer Bewusstwerdung mit Material initiiert werden? Ein möglicher Ansatz dazu soll im Folgenden anhand des ambivalenten Materials Apeshit (Musikvideo zur gleichnamigen Single von The Carters, 2018, Regie: Ricky Saiz, 6:03, gedreht im Louvre) aufgezeigt werden. Auch hier haben wir es natürlich wieder mit einer Setzung zu tun. Wir versuchen aber einerseits, die impliziten Annahmen zu dieser Setzung offenzulegen, und andererseits, durch die Wahl eines Materials, das ambivalente Deutungen nicht nur zulässt, sondern provoziert, die Stoßrichtung offenzuhalten. Aus einer diskursanalytischen Sicht zeigt sich, dass es sich hier nicht lediglich um eine subjektive Zuschreibung handelt: Denn der höchst kontroverse Diskurs um das Video in Feuilletons und im Netz kann belegen, dass das Material in der öffentlichen Resonanz ambivalente Deutungen hervorruft und gerade deswegen für Vermittlungssettings im Kontext der Kulturellen Bildung aktuelle Relevanz hat. Nicht zuletzt stellen wir mit dessen Thematisierung als Lehrende in Bildungskontexten den Anspruch einer „(differenz)reflexiven Zeitgenossenschaft“, die aktuelle gesellschaftliche Debatten im Rahmen des eigenen Faches aufgreift und zur Diskussion stellt. (Anm.: Einen weiteren Impuls für die Beschäftigung mit dem Material lieferte ein Vortrag von Matti Traußneck mit dem Titel "Put some respect on my check." Überlegungen zu Dekolonialisierung und Rassismuskritik am 12.01.2021 an der ABK Stuttgart)
„Apeshit“ ist nicht nur zu übersetzen mit dem durchaus ebenso vulgären deutschen Ausdruck „Affenscheiße“, der in beiden Sprachen rassistisch konnotiert ist, sondern bezeichnet im amerikanisch-englischen Slang auch extreme Erregung, die entweder positiv oder negativ ausgelegt werden kann (vgl. https://en.wiktionary.org/wiki/apeshit). Vermutlich geht diese Bezeichnung darauf zurück, dass Affen bei extremer Erregung dazu neigen, mit ihren Exkrementen zu werfen (vgl. www.urbandictionary.com/define.php?term=apeshit).
Darüber hinaus ist „Apeshit“ auch der Titel eines Musikstücks von The Carters (bestehend aus Beyoncé und Jay-Z) mit dazugehörigem Musikvideo (vgl. www.youtube.com/watch?v=kbMqWXnpXcA), das wie „Affenscheiße“ sehr ambivalente Reaktionen in den Feuilletons deutscher und internationaler Medien hervorgerufen hat. Während es insbesondere vor dem Hintergrund des geschichtsträchtigen Drehortes Louvre einerseits als „geschichtsvergessen“ bezeichnet wurde (Trinks 2018), sehen andere darin ein Durchkreuzen des Raums der Geschichte, eine Performance von „black excellence“ (Kilomba 2019). (Anm.: Bezüglich der Verwendung der Begriffe „black“, genauso wie „schwarz“ oder „weiß“ möchten wir explizit auf den konstruktiven Charakter dieser Differenzkategorien verweisen und heben daher die Begriffe im Folgenden kursiv hervor.)
In der kontroversen Diskussion um Apeshit wird vor allem das Video mit seinen Bildzitaten und Referenzen in den Blick genommen, während die Lyrics eher eine untergeordnete Rolle spielen. Gerade die visuelle Komponente scheint zentral und in ihrer Bewertung ambivalent. Das macht das Video als eine mögliche Alternative zu kanonischen Lesarten von Kunst interessant (vgl. dazu Bader/Eckes/Hoffmann/Kanefendt 2021), denn es eröffnet Rezipient*innen – und so auch den Initiator*innen und Teilnehmer*innen eines entsprechenden Workshops im Rahmen der Tagung „Was tun?“ – auf unterschiedlichen Ebenen eine Auseinandersetzung mit individuellen und gesellschaftlichen Vorannahmen, die wir in der Folge beispielhaft auffalten möchten.
Perspektive 1: Rezeption und kritisches Potenzial
Was zeigt sich bei einer (ersten) Rezeption?
Wie reagieren (wir als) Rezipient*innen auf das Musikvideo Apeshit bei einer ersten Begegnung und was zeigt sich an diesen Reaktionen? Im explorativen Workshop im Rahmen der Netzwerktagung „Was tun? Handlungspraxis und -verantwortung in der Kulturellen Bildung“ (2021) konnten wir dazu konkrete Erfahrungen im Dialog mit Kolleg*innen, die selbst im Kontext der Kulturellen Bildung, Kunstpädagogik sowie Kunstdidaktik professionell tätig sind, sammeln. Im Folgenden werden einige Beobachtungen und daran anknüpfende Deutungsmöglichkeiten skizziert.
Das Video wurde von den Teilnehmenden u.a. als sehr dicht wahrgenommen, sowohl bezogen auf den hohen „production value“ und die medial-ästhetisch effektvolle, geradezu fulminante Ausgestaltung (Louvre als Haupt-Drehort, Choreografie, Set- und Kostümdesign, Kameraführung, Videoschnitt etc.) als auch bezogen auf inhaltliche Anspielungen. Die Rezipient*innen hatten den Eindruck, dass (insbesondere auf visueller Ebene) sehr viele Referenzen, Zitate und Codes aufgerufen werden, wobei sowohl die zahlreichen im Hintergrund gezeigten Kunstwerke als auch Hinweise auf schwarze, amerikanische Musik, Kunst und Kultur auffielen.
Diese Referenzen, Zitate und Codes ließen sich jedoch während und direkt nach einer ersten Betrachtung des Videos nicht ohne Weiteres erschließen. Im gemeinsamen Gespräch wurde entsprechend deutlich, dass sich keine*r der am Workshop Beteiligten mit dem Œuvre oder mit dem Leben der Carters, dem spezifischen Musikgenre oder dem populärkulturellen Entstehungskontext des Videos „auskennt“ beziehungsweise dies von sich annehmen würde. In Bezug auf den Louvre und die inszenierten Kunstwerke zeigte sich ein etwas heterogeneres Bild: Einzelne Beteiligte konnten auf einschlägiges, teilweise auch vertieftes Fachwissen sowie auf Ausstellungserfahrungen vor Ort im Louvre zurückgreifen, Werke direkt identifizieren und eine (kunst-)historische Einordnung vornehmen, während jedoch die meisten Beteiligten manche Werke zwar wiedererkannten (als kanonische oder berühmte Werke), ohne jedoch Fach- oder Faktenwissen zu einzelnen Werken direkt gedanklich abrufen zu können. In der Gesprächsrunde war insgesamt eine Zurückhaltung und Vorsicht bezüglich eigener Deutungen und Vermutungen im Zusammenhang mit dem Video spürbar.
Diese Zurückhaltung und Vorsicht kann auf ein (implizites) Unbehagen bezogen auf ein fehlendes Fach- oder Kontextwissen verweisen, das wiederum auf (impliziten) Vorannahmen gründet; beispielsweise dass man (insbesondere als Lehrende*r) „Bescheid wissen“ sollte, um eine informierte, einem Werk angemessene Deutung vorzunehmen. Zugleich kann die Zurückhaltung und Vorsicht auch darauf hindeuten, dass die Beteiligten etwaige Zuschreibungen vermeiden möchten. Dies würde für eine Sensibilität und Aufmerksamkeit seitens der Workshopteilnehmenden für aktuelle postkoloniale und rassismuskritische Diskurse sprechen (was u.a. auch mit dem Tagungskontext/-thema, dem (Bildungs-)Hintergrund und Berufsfeld der Teilnehmenden zu tun haben kann). Insofern eine solche Sensibilität zu Zurückhaltung und Vorsicht führt, kann sie (bewusst oder unbewusst) einer affirmativen, eher unkritischen Betrachtung und Einschätzung des Musikvideos Vorschub leisten oder aber auch zu einer differenzierten Einschätzung führen.
Inwiefern sind also Rezipient*innen mit einem positiven Urteil zu Apeshit auf der „sicheren Seite“? Und nochmals zurückgefragt: was tun, wenn man sich einerseits nicht-befugt und andererseits zu wenig informiert fühlt? Während ein Recherchieren weiterführender Informationen (z.B. zu den im Video inszenierten Gemälden; vgl. Perspektive 2: Das Floß der Medusa) aktiv und eher ‚neutral‘ angegangen werden kann, bringt die Frage nach der Befugnis die eigene Haltung ins Spiel und betrifft den*die Rezipient*in persönlich. D.h., offengelegte Deutungen und Urteile spiegeln die Haltung der Deutenden und Urteilenden (vgl. Lehmann-Rommel 2017:131ff.). Im Zusammenhang mit ambivalentem Material, zu welchem (noch) kaum „gesichertes“, kanonisiertes Wissen vorliegt und sich der Diskurs als widersprüchlich erweist, exponieren sich Rezipient*innen insofern in besonderem Maße mit ihrer persönlichen Sichtweise, was wiederum eine gewisse Zurückhaltung als naheliegende (erste) Reaktion erscheinen lässt. Weiterführend zu fragen wäre, inwiefern dieses retardierende Moment und ein Zurückhalten von (potenziell vorschnellen) Zuschreibungen gerade auch zu einem aufmerksamen sowie differenzierten Betrachten beitragen kann.
Woran zeigt sich kritisches Potenzial und nach wessen Maßgabe?
Im Folgenden wird eine ambivalente Einschätzung des Kunsthistorikers Henry Keazor (im Gespräch mit Shanli Anwar; vgl. Anwar/Keazor 2018) als Anlass für eine weitere Annäherung an das Video Apeshit genutzt. Keazor zufolge wartet das Video mit viel kulturellem und visuellem Bling-Bling auf. „Nur in so kurzen Momenten blitzt etwas Kritisches auf, während der Rest doch etwas sehr von Posen, von Zitieren, von Verfügen über ein kulturelles Gut hat und man würde sich mehr Eigenständigkeit wünschen, nicht so viel Zitat und Referenz“ (ebd.). Weiterführend merkt Keazor an, dass Empowerment zwar mit hineinspiele, „aber welche Art von Empowerment ist das?“ (ebd.) Keazors Einschätzung legt zunächst nahe, dass er „etwas Kritisches“ als positive Qualität ansehen würde, die er jedoch in Apeshit nur bedingt eingelöst sieht. Vielmehr wünscht er sich „mehr Eigenständigkeit“ (vgl. ebd.). Unklar bleibt in der Kürze des Web-Artikels allerdings: Welche Form von „etwas Kritischem“ und von Eigenständigkeit meint Keazor? Und was bedeutet es, in diesem Zusammenhang Posen, Zitate und ein Verfügen über kulturelles Gut als negativ oder zumindest als „unkritisch“ einzuschätzen?
Hier lohnt es sich grundlegend nachzufragen, wie Kritik verstanden werden kann, sowohl auf der Ebene des Videos selbst (werkimmanentes, kritisches Potenzial) als auch auf der Ebene einer möglichen Auseinandersetzung mit dem Video (kritischer Zugang, Umgang). Manuel Zahn hält fest, dass „dem traditionellen Begriffsverständnis von Kritik folgend, [...] viele vorliegende Theorien der Medienbildung und -kompetenz Medienkritik als einen distanzierten Umgang mit Medien [konzipieren], der darauf abzielt, deren Darstellungs- und Kommunikationsverfahren zu entschlüsseln und zu verstehen“ (Zahn 2020:216). Mit Blick auf kunstdidaktische Traditionslinien spiegelt sich eine solche Auffassung von Kritik beispielsweise im Konzept der „Visuellen Kommunikation“ der 1970er-Jahre (vgl. Legler 2017:303ff.). In aktuellen Bildungsplänen des Fachs Kunst werden Bild- und Medienkompetenz als zentrale Ziele benannt, wobei zumeist implizit bleibt, was genau darunter verstanden wird – bzw. normativ gesprochen: was darunter verstanden werden soll.
Gehen wir der genannten Entschlüsselungs- und Verstehensabsicht etwas weiter nach, erscheint zunächst interessant, dass es dem Video Apeshit gelingt, den Eindruck inhaltlicher Dichte und komplexer Referenzialität (insbessondere auf visueller Ebene) zu vermitteln, auch wenn Rezipient*innen die angedeuteten Bezüge nicht direkt entschlüsseln können (vgl. oben). Das Video wirkt insofern auch für „unwissende“ Betrachter*innen symbolisch aufgeladen, wobei offen bleibt, was mit einer Entschlüsselung der zahlreichen offensichtlichen oder vermuteten Zitate und Referenzen gewonnen wäre. Keazors Skepsis bezieht sich (neben den Posen) gerade auf die Zitate und Referenzen. Es ließe sich mutmaßen, dass Keazor weiterführendes Wissen zur Verfügung steht, das es ihm ermöglicht, die Zitate und Referenzen zu decodieren und diese womöglich als oberflächlich einzuschätzen. Zugleich bleiben (wir als) „Unwissende“ darauf verwiesen, der Einschätzung des Kunsthistorikers zu vertrauen.
Inwiefern lohnt sich diesbezüglich eine nähere Betrachtung, ein Entschlüsselungsversuch? Und wie könnte dieser aussehen? (siehe dazu Perspektive 2) In jedem Fall ist eine vertieftere Recherche erforderlich, als dies im Rahmen eines Workshops möglich wäre. Direkter zugänglich sind hingegen konkrete Phänomene, das Wie des Musikvideos: Wie wird Spannung erzeugt, Aufmerksamkeit gelenkt? Wie werden (visuelle) Botschaften durch bestimmte Formen der Inszenierung aufgeladen? ... So kann beispielsweise beschrieben werden, wie im Video einerseits mit ruhigen, langsamen Kamerafahrten und stillgestellten, statuesken Posen gearbeitet wird, die dann durch Bewegung (der Akteur*innen, der Kamera) kontrastiert werden. Inwiefern es sich dabei um eine ungewöhnliche, innovative Form der Inszenierung im Kontext von (Rap-)Musikvideos handelt (was im Sinne Keazors wohl als „eigenständig“ gelten könnte), lässt sich wiederum erst durch erweitertes Kontextwissen erschließen (vgl. z.B. Video Editor Reacts to APES**T – THE CARTERS).
Weiterführend gibt Zahn zu bedenken, dass „dieser [traditionelle] Kritikbegriff [...] angesichts sowohl zeitgenössischer künstlerischer Praxis, als auch jugend- und popkultureller ästhetischer Medienpraktiken [...], die insbesondere auf Nähe, Immersion, Vernetzung, Serialität, Kooperation und Kollaboration und nicht länger auf Distanzierung, Vereinzelung und individuelles kognitives Verstehen abzielen“, befragt werden müsse (Zahn 2020:216). Zudem stellt sich für jede ästhetische Praxis, jede künstlerische Arbeit (und somit auch für Apeshit) die Frage, „ob sie [...] als subversives Grenzgeschehen im Sinne Foucaults fungiert, Spiel- und Deutungsräume öffnet oder eher zu einer Trivialisierung von Kritik beiträgt“ (ebd.). Im Fall einer Trivialisierung wäre die Kritik in das Gegebene eingepasst, erlaubt so dessen Fortführung und wäre auf dessen Optimierung ausgerichtet (vgl. ebd.). Die Einschätzungen zu Apeshit sind dahingehend sehr unterschiedlich, wie in der Einleitung und im Folgenden (nicht nur) anhand von Rezensionen aus dem Feuilleton deutlich werden kann.
Perspektive 2: Das Floß der Medusa
Apeshit könnte ein Lehrstück sein. Ein Lehrstück für alternative Sichtweisen und Lektüren von Bildern. Ein Lehrstück für das Heraustreten aus angestammten Narrativen der Kunstgeschichte und ihren Vermittlungskonzepten. Ein Lehrstück über dasjenige, was man/frau herkömmlich als „Bildpolitiken“ bezeichnet: machtvolle Strategien der visuellen Repräsentation (vgl. Hall 1994). Aber auch ein Lehrstück für deren Dekonstruktion. Das wuchtig inszenierte Video, das im Jahr 2018 viral durch die Decke gegangen und in Feuilletons hoch kontrovers diskutiert wurde (vgl. Perspektive 3), hat mittlerweile über 250 Millionen clicks auf Youtube erreicht. Ein gewichtiger Anlass also, sich auch aus der Perspektive der Kunstpädagogik mit Blick auf Fragen der Kulturellen Bildung mit diesem Phänomen zu beschäftigen. Warum?
Nimmt man die These von Claudia Brunner ernst, dass sich Wissensordnungen und damit auch deren inhärente Erkenntnismodi auf Grundlage kolonialer und schließlich postkolonialer Machtstrukturen fortschreiben, dann wäre eine Konsequenz für die Kunstvermittlung – die hier als Teilbereich Kultureller Bildung verstanden wird –, sich den machtvollen Strategien visueller Repräsentation zu widmen. Das Video kann hier als ein signifikantes Beispiel in zweifacher Hinsicht dienen: einerseits in der fulminant-bombastischen Inszenierungspraxis eines westlich-europäischen Kunsttempels, dem Louvre, der unbestritten zur Kanonisierung einer westlichen Kunstgeschichte insbesondere in der Gattung der Malerei beigetragen hat (vgl. z.B. Mettais 2000). Andererseits setzt das Video eben genau dieser hochkulturellen, europäisch-westlichen Repräsentationspraxis durch seine mediale Inszenierung und durch eine kalkuliert initiierte, massenhafte Rezeption im World Wide Web eine alternative Deutungsmöglichkeit entgegen – das zumindest könne eine mögliche Lesart sein.
Im Folgenden soll exemplarisch ein close-reading vorgenommen werden, in dem ein Ausschnitt aus dem Video aus zwei verschiedenen Perspektiven skizzenhaft erörtert wird: einerseits mittels einer tendenziell klassisch kunsthistorischen Lesart durch konventionalisierte Analysemodi, andererseits durch eine Erweiterung dieser Lesart auf Grundlage eines durch postkoloniale Theoriebildung informierten Zugangs. In diesem methodischen Vorgehen, das Multiperspektivität in den Blick nimmt, zeigt sich auch, dass das Video zu einer „counter-lecture“ von Werken des Louvre anstiftet, die nicht zuletzt im Kontext Kultureller Bildung ernst genommen werden müsste, um der Heterogenität und Diversität einer globalisierten Gesellschaft vor dem Hintergrund (post-)kolonialer Machtverhältnisse Rechnung zu tragen.
Im Mittelpunkt des Folgenden steht die Einordnung des berühmten Gemäldes von Théodore Géricault: Das Floß der Medusa (1819) (Abbildung 1) vor dem sich Jay-Z innerhalb des Videos prominent positioniert (Abbildung 4 (03:12) und Abbildung 6 (03:39).
Eine Perspektive?
Eine konventionelle, nicht zuletzt durch die französischen Akademien und schließlich durch den Louvre geprägte Lesart würde sich vermutlich zunächst einer Epochen- und Gattungszuordnung dieses Bildes widmen. Darüber hinaus könnte das Genre des Schiffbruchs als ein Thema der Malerei den Zugang zum Bild eröffnen. Diese typologische Wissensordnung legt z.B. auch der bereits genannte Überblicksband zum Louvre nahe (vgl. Mettais 2000:258). Mit dieser Einordnung wird eine spezifische Wissensordnung nach Epochen, Stilen, Gattungen und Genres formatiert. Sie findet weitere Anknüpfungen im europäisch-westlichen Diskurs der Kunstgeschichte: konstituiert doch gerade auch die niederländische Malerei in ihren vielfältigen Marinedarstellungen Schiffbrüche und Schiffsuntergänge als Genre, dazu kommen Porträts von Schiffen und die damit verbundene Inszenierung verschiedener Spielarten des Meeres von ruhiger bis hin zu einer wilden stürmischen See. Dieses Spektrum an Typologien ließe sich auch auf Das Floß der Medusa übertragen, Vergleiche ließen sich ziehen, Abweichungen darstellen. Was dabei allerdings im Diskurs nicht zum Tragen kommt: Diese Typologien inszenieren das Machtstreben sowie die europäische Expansion im Zuge des Kolonialismus auf galante Weise, ihre Schattenseiten werden aber kaum thematisiert. Vielmehr „objektiviert“ der traditionelle Diskurs der westlich-europäischen Kunstgeschichte – den auch der Louvre in seiner Ausstellungsinszenierung stützt – das historische Geschehen durch diese spezifischen Wissensordnungen. Er neutralisiert die kolonialen Machtverhältnisse zugunsten einer vermeintlich wissenschaftlichen, historisch etablierten Objektivität.
Zudem gilt in diesem historisch etablierten, westlich-europäischen Diskurs der Kunstgeschichte das „Historiengemälde“ als die wichtigste Gattung der französischen Akademien im 19. Jahrhundert. Es ist geprägt von der Inszenierung eines symbolischen Augenblicks: Das klassische kunsthistorische Narrativ bezeichnet – entsprechend Gotthold Ephraim Lessings Laokoon – das dargestellte Moment als „den fruchtbaren Augenblick“: Einen Moment also, der ein historisches Ereignis an seinem spezifischen Wendepunkt darstellt, in dem sich das Vergangene zwar noch zeigt, das Zukünftige sich aber bereits prospektiv andeutet. Häufig ist in einem Historiengemälde der Herrscher – in Frankreich typischerweise Napoleon – für diese bedeutungstragende Wende an die zentrale Stelle der Komposition gesetzt. Die Person ist als gewichtige, nationale Figur, im wahrsten Sinne des Wortes: mit Rang und Namen, identifizierbar. Ein überzeitliches Moment wird hier stilisiert, was über den Augenblick hinaus symbolische Bedeutung erlangt. Diese Bezugssysteme lassen sich als einen möglichen Deutungsrahmen konstatieren. Auch dieser Aspekt könnte für Das Floß der Medusa bemüht werden. Und es verwundert nicht, dass das Gemälde zur Zeit seiner Entstehung zunächst nicht rezipiert wurde, da eben genau der oben beschriebene Herrschaftsdiskurs mit diesem Bild offenbar nicht bedient werden konnte. Die Sichtbarmachung eines nationalen Skandals zur Zeit der Restauration wurde verhindert.
Je differenzierter man folglich mögliche Abweichungen von diesem Herrschaftsdiskurs in den Blick nimmt, umso mehr kommen die Politiken der Repräsentation einer westlich-europäischen Bildkultur in den Fokus und das Wissensgefüge gerät aus seiner angestammten Ordnung. Jay-Z und Beyoncé stoßen mit ihrer popkulturellen Sinfonie offenbar treffsicher in das Zentrum europäisch-westlicher Wissensordnungen und deren Politiken der Repräsentation – das zeigen nicht zuletzt die scharfen Kritiken am Video auf der Grundlage alteingesessener, kulturalistisch-infantilisierender Stereotypisierungen („Ringelpiez mit Anfassen“, siehe dazu Perspektive 3).
Das Künstler*innen-Duo fordert offensichtlich mit seiner Hip-Hop-Parade im Palast europäisch-westlicher Hochkultur oben skizzierte konventionelle Deutungsrahmen heraus. Das Video der Carters kann in den Blick rücken, was im Rahmen konventioneller, kunsthistorischer Deutungspraktiken häufig unterbelichtet bleibt: So etwa blickt Jay-Z in einer spezifischen Szene auf die bedeutungstragende Spitze der doppelt-pyramidalen Komposition des Gemäldes (vgl. Abbildung 4, 3:12).
Sie zeigt eine schwarze Figur in Rückenansicht mit den farblichen Stofffetzen der französischen Fahne. Von der Tricolore sind offensichtlich allein die Farben Rot und Weiß übrig geblieben: Brüderlichkeit und Gleichheit. Jay-Z scheint in dieser Einstellung im Bündnis mit dieser namenlosen Figur zu stehen und so auch mit einer möglichen, alternativen Deutungsperspektive. Diese spielt im angloamerikanischen, kunstwissenschaftlichen Diskurs offenbar eine maßgeblich prominentere Rolle: so etwa wird hier Géricaults Auseinandersetzung mit dem Antisklaverei-Diskurs im Rahmen der Anhängerschaft der Abolitionistenbewegung starkgemacht (Adalheff 2020; 2002). Dieses Bezugssystem legt die Deutung nahe, dass das Gemälde prominent an der Spitze seiner Komposition einen Schwarzen als Hoffnungsträger einer schiffbrüchigen Nation zeigt, zur Zeit der Restauration (vgl. Abbildung 1). Diese Figur, wie die restlichen des Floßes, ist weitgehend ihrer Kleidung entblößt, der Oberkörper nackt (vgl. Abbildung 3) – anders also als in einem Historiengemälde und eben nicht „von Rang und Namen“.
Im Gegenteil: die Uniform als Signatur kultureller Hegemonie und Hierarchisierung hängt zerfetzt an der rechten Seite des Floßes (Abbildung 1). Beinahe im Schulterschluss hält eine weiße Figur, gleichsam wie eine bestätigende Geste, ebenfalls einen weißen Stofffetzen als Signum der Gleichheit in die Höhe. Es ist bezeichnend, dass genau dieser Bildausschnitt im Musikvideo prominent in Szene gesetzt wird (vgl. Abbildung 2).
Ebenso interessant ist, dass zur Zeit Géricaults, im Zuge der Diskussion um die Abschaffung der Sklaverei, vor allem ein Motiv präsent war: Die Gleichheit von Schwarzen und Weißen im Angesicht der Menschlichkeit. So hatte auch der britische Menschenrechtler Thomas Clarkson 1808 in seiner prominenten Publikation zur Abschaffung der Sklaverei den Anspruch auf Egalität zwischen Schwarzen und Weißen formuliert. „Am I not a Man and a Brother“ als Ausspruch, Appell und zugleich Frage eines in Ketten gelegten Schwarzen war die häufig in Münzen geprägte Symbolfigur der britischen, später auch französischen Antisklavereibewegung. Mit diesen ausformulierten politischen Ansprüchen hatte sich Géricault offenbar auch im Rahmen seiner Begegnung und Freundschaft mit dem Pariser Verleger Corréard auseinandergesetzt, der dezidiert in der französischen Abolitionistenbewegung involviert und selbst Schiffbrüchiger auf dem Floß der Medusa war. Adalheff zeigt, dass auch im französischen Diskurs ein Schwarzer als „Semblamble“, als ebenbürtiger und gleicher Mitmensch gestärkt wurde (vgl. Adalheff 2002:131ff.). Die Geste von Jay-Z und auch die Mikroausschnitte des Videos legen eine Deutung von Géricaults Bild in Bezug auf diese Form der (Selbst-)Ermächtigung und des Empowerments innerhalb eines rassistischen Regimes nahe.
Geht man in ein close-reading des Gemäldes selbst, lässt sich darüber hinaus ein weiterer Aspekt dieser Deutungsperspektive herausheben: Die Mikrorelationen zwischen Schwarzen und Weißen, Franzosen und Senegalesen, besser vielleicht: Europäern und Afrikanern, zeigen die Verwobenheit ihres (kolonialen) Schicksals in unabdingbarer, gegenseitiger Abhängigkeit im Angesicht des Todes. Weiße Leiber liegen zerrupft auf dem Floß, tot und halb lebendig. Das Ensemble aus Figuren zeigt aber vor allem, dass Weiße und Schwarze in einem gegenseitig abhängigen Bezugsverhältnis zueinander stehen: Würde die zentrale schwarze, namenlose Figur nicht von Weißen gestützt werden, würde möglicherweise das nahende Schiff am Horizont, die Argus, die Schiffbrüchigen übersehen. Umgekehrt käme die schwarze Figur ohne Unterstützung der weißen Figuren zu Fall. Die Figurenkonstellation im rechten Mittelgrund zeigt zudem: Die Schwächung der einen – schwarz oder weiß – bedeutet zugleich eine Schwächung der Anderen, und damit der gesamten Gruppe.
Alternativen?
Diese bruchstückhaften Deutungsperspektiven können bereits beleuchten, dass das Musikvideo in rezeptionsästhetische Lücken konventioneller, kunsthistorischer Narrative stößt. Die fulminante Inszenierung im Video von Historiengemälden in pointierter Gegenüberstellung von Repräsentationen marginalisierter, schwarzer, nicht benannter Menschen in weniger privilegierten Positionen (vgl. u.a. Abbildung 5, die schwarze, dienende Person bei der Hochzeit von Kana, 04:34, ) führt eine kulturelle Hegemonie vor Augen, die im Rahmen kultureller Bildung notwendiger Weise reflexiv eingeholt werden muss.
Abbildung 5: Ausschnitt einer schwarzen Person aus: Paolo Caliari, genannt Veronese, Die Hochzeit zu Kana, 1563, Videostill (04:34), aus: Apeshit, The Carters, 2018. https://youtu.be/kbMqWXnpXcA?t=274
Ein möglicher Zugang zur Bearbeitung dieses komplexen, machtvollen Feldes wäre das Zulassen und das Hören (können) dieser unterschiedlichen Deutungsperspektiven, um möglicherweise schließlich in einen Dialog treten zu können (vgl. hierzu Diallo/Niemann/Shabafrouz 2021). Bildungspostulate, die sich ganz bruchlos auf die „europäische Tradition“, das „Christentum wie Humanismus und Aufklärung“ beziehen, und darin ein Menschenbild von „Freiheit und Verantwortung in Gemeinschaft“ konstatieren (vgl. u.a. Krautz 2016:16) oder unter Bezug auf Humboldt Bildung als „die subjektive Aneignung objektiver Kultur“ verstehen (u.a. Krautz 2020:55), bringen genau jene kolonialen Schattenseiten, und damit die europäisch-abendländischen Wissensordnungen und ihre hegemonialen Exklusionen, nicht ans Licht.
Verantwortung in Bildung und durch Bildung kann dann übernommen werden, wenn man sich zunächst den komplexen Herausforderungen von dekonstruktiven Zugängen stellt und historisch angestammte, konventionalisierte Wissensordnungen über differenzreflexive Zugänge versucht zu dekolonisieren (vgl. hooks 2010). Dann würde nicht Altes in gleicher exkludierender Weise fortgeschrieben – dann würde vielleicht nicht Schiffbruch erlitten –, sondern durch Verschiebungen Raum für Neues geöffnet werden. Das Video ist auch insofern ein Lehrstück, weil es genau jene europäisch-abendländischen Ordnungen des Wissens auf dekonstruktive Weise zur Debatte stellt und zugleich die eigene Verwicklung in die westliche Kultur markant zur Schau stellt. „Can’t believe we made it“ – was heißt das überhaupt?
Perspektive 3: Kulturelle Teilhabe und die Historizität von Exklusion
Welche Geschichten werden erzählt, welche „universelle" Kunst meinen wir?
„Wer ist im Louvre? Wer muss draußen bleiben? Welche Geschichten werden erzählt, welche ‚universelle‘ Kunst meinen wir?“ Diese Fragen legt die Autorin, Psychologin, Künstlerin und Theoretikerin Grada Kilomba in ihrem Artikel über das Musikvideo Apeshit der Skulptur Die große Sphinx von Tamis in den Mund (Kilomba 2019). Damit sieht die Autorin in dem Musikvideo Themen behandelt, die mit den Stichwörtern „Partizipation und Teilhabe“ und „Repräsentation“ versehen werden könnten: Es geht um die Fragen, wen Kultur und Kulturelle Bildung inkludiert, wer exkludiert wird, und um Fragen nach der Historizität bzw. Gewordenheit dieser ein- und ausschließenden Strukturen. Kilombas Fragen zeigen insofern deutliche Schnittmengen mit Zielen der Kulturellen Bildung – denn, so ist der ehemalige Leiter der Bundesakademie Kulturelle Bildung Karl Ermert überzeugt: „Kulturelle Bildung bedeutet Bildung zur kulturellen Teilhabe. Kulturelle Teilhabe bedeutet Partizipation am künstlerisch kulturellen Geschehen einer Gesellschaft im Besonderen und an ihren Lebens- und Handlungsvollzügen im Allgemeinen. Kulturelle Bildung gehört zu den Voraussetzungen für ein geglücktes Leben in seiner personalen wie in seiner gesellschaftlichen Dimension.“ Jedoch wendet die Kunstpädagogin Maren Ziese mit Verweis auf Carmen Mörsch ein: „Zugänge zu diesem Bereich sind von Zuschreibungen bezüglich Geschlecht, Klasse, Ethnie, Alter und körperlichen Beeinträchtigungen geprägt sowie von sozialer Reproduktion und von den Erfahrungen diskursiver Gewalt bestimmt“ (Ziese 2017).
Auch für Kilomba ergeben sich ihre Fragen nach Partizipation und Repräsentation aus der Geschichte des Louvre. Aus ihrer Perspektive ist der Louvre als eine der weltweit bekanntesten Museumsinstitutionen „das Sinnbild von Exzellenz und Genie, er steht für die Kunstgeschichte und historischen Ruhm, aber diese Geschichte ist weiß und männlich und entstammt der Epoche des Kolonialismus“ (Kilomba 2019). Angesichts der Problematisierung von Exklusivität und Exklusion sieht die Autorin in der Wahl des Drehortes durch Beyoncé und Jay-Z die Besetzung eines Gebäudes, „das auf dem Fundament kolonialer und imperialistischer Beutezüge steht.“ Demzufolge wird dem Musikvideo Apeshit ein politisches, aktivistisches Potenzial zugesprochen: Teilhabe wird hier nicht passivisch eingeräumt, sondern aktiv von Personen im Sinne einer „Teilnahme“ umgesetzt, die im Louvre bisher lediglich im Sinne kolonialer Bildwelten repräsentiert wurden.
Mit einer solchen Perspektive ist Kilomba nicht allein – zahlreiche Artikel stimmen in dem Tenor überein, das Video als eine rassismuskritische Auseinandersetzung und eine empowernde Eroberung des musealen Raums zu begreifen. Die US-amerikanische Kunsthistorikerin Andrea Thomas etwa betont den exkludierenden Charakter des Louvres, wenn sie sagt: „Black women and black women artists are excluded from the history of Western art, but their bodies, particularly sexualized or desexualized in domestic labor or sexual labor, are there.“ (Thomas, zit. nach Lang 2018) Diese Narrative und Logiken der westlichen Kunst und der westlichen Museen durchbreche Beyoncé (mit Jay-Z) im Video Apeshit mittels ihrer Inszenierung einer verkörperten Intervention (vgl. ebd.).
Der Kunsthistoriker James Smalls geht noch darüber hinaus und feiert das Video als ein kompromissloses Manifest: „‚Apeshit’ is an arresting, and […] brilliant video for what it does and does not do; for what it reveals and conceals; for the ways in which it meaningfully appropriates, exploits, and reinterprets Western paintings and sculptures as a way to chart and celebrate the Carters’s public and commercial success, and black bodies in an artistic canon inextricably linked to histories of colonialism. The video is an unapologetic visual and sonic manifesto about spaces, power, and control. […] It is about establishing a new order in which black bodies seize and command cultural and physical spaces from which they have traditionally been excluded and are typically marginalized. It’s about arrival and survival through declaration of one’s hard-earned position in society.“ (Smalls 2018)
Die Zitate verdeutlichen, dass Apeshit für viele schwarze Menschen und People of Color als politische und aktivistische Botschaft und als Empowerment aufgefasst wird. Zudem zeigen sie die Perspektive rassismuserfahrener Menschen auf den Louvre, westliche Museen und westliche Kunstgeschichte: Sie sehen darin häufig Institutionen, die sie exkludieren und die koloniale Gewalt repräsentieren.
Gibt es bei dieser „Glamour-Tour“ etwas zu lernen?
In gänzlich anderer Weise nimmt der Kunsthistoriker Stefan Trinks den Louvre und das Musikvideo Apeshit wahr. Er verortet das kritische Potenzial lediglich in den gezeigten Bildwerken, das allerdings im Video und einer darauf referierenden Museumstour durch den Louvre „wegkontempliert und weggetanzt“ bzw. „stark heruntergefahren“ werde (Trinks 2018). Trinks Aussagen machen deutlich, dass der Louvre für ihn einen hochkulturellen Bildungsort mit kritischem Potenzial darstellt. Das Video und die Museumstour bezeichnet er dagegen als „geschichtsvergessen“. Beyoncé, Jay-Z und ihr Musikvideo sind aus diesem Blickwinkel einer Populärkultur zuzuordnen, die lediglich an ökonomischem Profit interessiert ist und daher nur wertlosen Kitsch produziert: In „abgelutschten werbevideotauglichen Bildern“ werden „Einfallslosigkeit“ und „Ringelpiez mit Anfassen“ inszeniert (ebd.). Für Trinks wäre der „Pavillion des Secessions“ ein passenderer Ort für das Video, da dort „Artefakte aus allen Kontinenten zu sehen sind“ (ebd.). Damit ist seine Sichtweise durch wenig Reflexivität hinsichtlich der Geschichte der Abwertung und Marginalisierung schwarzer Menschen gekennzeichnet.
Die vom Autor kritisierte Museumstour wurde vom Louvre initiiert und umfasst die 17 im Musikvideo der Carters zu sehenden Kunstwerke. Gegenstand der Kritik ist der Versuch des Louvre, das Museum über die Anlehnung an das Video „für ein immer vielfältigeres Publikum ‚lesbarer‘“ zu machen und daher auf eine eigene Werkauswahl verzichtet zu haben (ebd.). Für Trinks stellt das museale Vermittlungsformat eine „Glamour-Tour“ und „eine Nivellierung, ein Absenken des Anspruchs auf Bildung nach unten“ dar, bei der es „nichts zu lernen“ gäbe (ebd.). Der Autor stört sich daran, dass der Bildungsanspruch des Museums durch die Übernahme des populärkulturellen Formats ausgehöhlt werde.
Aus einer intersektional erweiterten Perspektive wäre an diese Stelle zu fragen, inwieweit Trinks Kritik am populärkulturellen Zugriff auf den kunsthistorischen Bestand implizit von einer klassistischen Haltung geprägt ist – im Sinne eines „impliziten, schweigendes Wissens“ (vgl. Kraus u.a. 2017), das nicht weiter in seiner milieuspezifischen Verortung reflektiert bzw. ausformuliert wird, dennoch aber konstitutiv für einen als „adäquat“ bzw. „inadäquat“ erachteten Bildzugang ist. Eine Missbilligung der im Video inszenierten Interaktionen der Popstars mit den Kunstwerken lässt erkennen, dass implizit von einem legitimen und einem illegitimen Bildumgang ausgegangen wird. Es ist zu vermuten, dass die Grenze der Legitimität entlang europäisch-hochkultureller Praktiken der Bildrezeption verläuft und alle Zugänge jenseits der Legitimitätsgrenze als „Absenken des Anspruchs auf Bildung nach unten“ abwehrt (ebd.). Dagegen ist Trinks in seiner Kritik an einer rein ökonomisch motivierten Förderung kultureller Teilhabe durchaus zuzustimmen – zumal ein Blick auf einen Werbeartikel für die Tour offenbart, dass diese äußerst wenig des kritischen Potenzials zu beinhalten scheint (vgl. Millar 2018), die Aktivist*innen und People of Color in dem Video sehen (vgl. Kilomba 2018; Smalls 2018; Thomas, zit. nach Lang 2018).
Ist das radikal? Muss es das sein?
Doch es finden sich auch gegenüber dem Video Stimmen, die Ambivalenzen herausarbeiten: So weist beispielsweise die schwarze Autorin Kaila Philo darauf hin, dass es v.a. ihr eigener Reichtum ist, den die Carters in Apeshit feiern. Sie hätten den Louvre eben nicht in einer widerständigen, radikalen Guerilla-Aktion besetzt, sondern ihn gemietet. Damit wird das Museum zu einem weiteren ihrer Statussymbole (vgl. Philo 2018). Das Video ist für sie weniger politischer Aktivismus als vielmehr ein Kunstwerk, das einen großen Stellenwert in der schwarzen Community besitzt. So fragt sie abschließend: „Is that radical? And does it have to be?“ (ebd.).
Mit Blick auf die unterschiedlichen Reaktionen auf Apeshit stellt sich insofern die von Kilomba aufgeworfene Frage nach den Impulsen, die das Video und die dadurch ausgelösten Diskussionen für eine an Diversität und Teilhabe orientierten Kulturelle Bildung geben können. So ließe sich etwa in einer Weise auf den kunstgeschichtlichen Kanon blicken, die diesen nicht als „universelle“, sondern als partikulare Perspektive wahrnimmt. Dadurch könnte die aus der Kolonialität musealer Strukturen resultierende exkludierende Wirkung in den Blick genommen und bearbeitet werden, damit sich mehr (und als Ziel alle) Menschen willkommen und repräsentiert fühlen. Dies kann allerdings erst erfolgen, wenn eine Sensibilität dafür entsteht, dass People of Color oder Menschen mit klassistischer Diskriminierungserfahrung Museen überwiegend als weiße Orte bzw. als Orte des Ausschlusses erfahren.
Darüber hinaus könnte mit Blick auf die oben genannten aktivistischen Stimmen auch nach weiteren differenzreflexiven Perspektiven gefragt werden. So bleiben beispielsweise in dem hier vorgestellten Zugang Fragen des Geschlechterverhältnisses und der Geschlechterordnung weitgehend unberücksichtigt, sind aber ebenfalls diskussionswürdig. In diesem Sinne gäbe es für eine diversitätsorientierte Kulturelle Bildung durchaus etwas zu lernen. So etwa – mit Blick auf den hier im Zentrum stehenden Zugang – ein Verständnis dafür, dass die Vorstellungen, die Nachfahren kolonisierter und versklavter Menschen hätten lediglich etwas mit den ethnologischen Sammlungen, nicht aber etwas mit europäischer Hochkultur zu tun, einem kolonial-rassistischen Erbe entspringt, das die „eigene“ Kultur durch Kontrastierung und Hierarchisierung der „fremden“ Kultur entwickelt (vgl. Mörsch 2016; vgl. weiterführend zu den Themen koloniale Gewalt, Trauma, Alltagsrassismus und (Selbst-)Dekolonisierung: Kilomba 2021). In einem solchen Lernprozess ließe sich zudem ein Bewusstsein für die Geschichte kolonialer Gewalt entwickeln, die immer noch in vielen Bildwerken aus dieser Zeit wirksam ist. Es handelt sich dabei um eine koloniale Gewalt, durch die „Menschen nicht nur ihrer physischen Existenz, sondern auch ihrer Sprache, ihrer Kultur, Spiritualität, Erinnerung und vor allem ihrer Würde beraubt wurden“ (Brunner 2020:64). Insofern ist es alles andere als „geschichtsvergessen“, wenn anhand der Werke der westlichen Kunstgeschichte auch die Geschichte kolonisierter und versklavter Menschen sowie ihrer Nachfahren erzählt wird. Für eine Kulturelle Bildung, die Partizipation und Diversität zum Ziel hat, ließen sich mit einer den Ambivalenzen des Videos Apeshit und der Reaktionen darauf Rechnung tragenden Diskussion die eigene Perspektive reflektieren und darin enthaltene koloniale Vorstellungen verlernen (vgl. Landkammer 2021; Endtner/Landkammer/Schneider 2021) – und ggf. weitere, wie etwa jene einer klassistisch grundierten oder auch patriachal strukturierten Gesellschaftsordung.
Mehr sehen als nur Ringelpiez!
Die hier vorgestellten Lesarten und Sichtweisen auf das Video Apeshit machen deutlich, wie viel Potenzial das Material gerade aufgrund seiner Ambivalenz in qualitativer Hinsicht für Szenarien Kultureller Bildung bietet – und das gilt sicher auch für andere Positionen, die sich klassischen Lesarten partiell widersetzen. Abhängig von eigenen Fragen und Suchbewegungen der Rezipient*innen können neue Sichtweisen aufgedeckt, einander gegenübergestellt und damit eigene Vorannahmen sichtbar gemacht, reflektiert und vielleicht sogar verlernt werden. Dabei bleibt offensichtlich, dass die positive Bewertung einer solchen kritischen Bewusstwerdung auch eine normative Setzung ist. Sie bleibt aber nicht implizit und kann, gemeinsam mit anderen Setzungen, verhandelt werden.
Vor dem Hintergrund einer solchen Setzung wird das qualitative Potenzial des Videos und seiner ambivalenten Rezeption für kritische Bewusstwerdung deutlich. Die quantitativen Auswirkungen von Apeshit sind in jedem Fall bereits spürbar: „The Louvre said there was a more than 50% increase in under-30 visitors in 2018 thanks to the video shot by the couple in the museum, marking a record number of visitors with over 10 million.“ (https://en.wikipedia.org/wiki/Apeshit)