„Was machst du jetzt daraus?“ – Bricolage und Improvisation im Kunstunterricht einer 4. Klasse
Abstract
Improvisation ist die Grundlage der Bricolage, daher weisen beide Konzepte Ähnlichkeiten in Struktur, Prozess und Ziel zueinander auf. Beiden geht es um eine Neuschöpfung, die durch eine Sichtung der situativ vorhandenen Dinge und im Dialog mit diesen in einem performativen, kontingenten und nicht wiederholbaren Prozess zu einem einzigartigen und irreversiblen Ergebnis führt, das diesen Prozess retrospektiv erklärt und sichtbar macht.
Wie sich improvisatorische Bricolage konkret ereignet, soll in diesem Beitrag am Beispiel eines Projekts zum „wilden Basteln“ (Kolhoff-Kahl 2007:4) im Rahmen des Kunstunterrichts einer vierten Grundschulklasse sichtbar gemacht werden. Die Kinder führen im Basteln mit gesammeltem Abfallmaterial improvisatorische Strategien, Operationen und Handlungen aus. Sie zeigen eine hohe Bereitschaft „Unvorhergesehenes, Ungeplantes und Zufälliges in ihr Handeln aufzunehmen“ (Figueroa-Dreher 2016:268), die Angebote des Materials und der Peers mit ihrer Imagination zu verknüpfen und in ihre Gestaltung zu integrieren. Kreative Lösungen für neuartige Szenarien zu improvisieren ist in unserer Kultur, die im steten Wandel befindlich ist, eine zentrale Fähigkeit, die der Kunstunterricht durch wildes Basteln fördern kann.
Grundlagen: Bricolage und Improvisation
In seinem Werk „Das wilde Denken“ (2020 [1962]) stellt Claude Lévi-Strauss den Topos des Bricoleurs dem des Ingenieurs gegenüber: Der Bricoleur ist als Bastler „in der Lage, eine große Anzahl verschiedenartigster Arbeiten auszuführen; doch im Unterschied zum Ingenieur macht er seine Arbeiten nicht davon abhängig, ob ihm die Rohstoffe oder Werkzeuge erreichbar sind, die je nach Projekt geplant und beschafft werden müßten: die Welt seiner Mittel ist begrenzt, und die Regel seines Spiels besteht immer darin, jederzeit mit dem, was ihm zur Hand ist, auszukommen.“ (ebd.:30) Sein begrenztes Repertoire an Werkzeugen und Materialien erweitert der Bricoleur stetig, er ist gleichzeitig ein Sammler, der vorhergehende Konstruktionen dekonstruiert und die Elemente in sein Archiv aufnimmt. Jedes neue Vorhaben beginnt daher retrospektiv mit einer Bestandsaufnahme und setzt sich fort in einem Dialog mit den vertrauten Dingen, der im Ergebnis die Bricolage hervorbringt, die stets den Entstehungsprozess noch sichtbar enthält. Daher nennt Lévi-Strauss die Bricolage die „Wissenschaft vom Konkreten“ (ebd.:11).
Improvisation ist die Grundlage der Bricolage, daher weisen beide Konzepte Ähnlichkeiten in Struktur, Prozess und Ziel zueinander auf. Beiden geht es um eine Neuschöpfung, die durch eine Inventur der situativ vorhandenen Dinge und im Dialog mit diesen in einem performativen, kontingenten und nicht wiederholbaren Prozess zu einem einzigartigen und irreversiblen Ergebnis führt, das diesen Prozess retrospektiv erklärt und sichtbar macht (Dicke 2021:260ff, Rübel 2019:13, Bertinetto 2012:129f). In der musikalischen Improvisation, die „das gleichzeitige Erfinden und Ausführen“ (Figueroa-Dreher 2016:11) sowie zeitgleiche Aufführen von Musik ist, ist das performative Moment sofort ersichtlich. Aber auch die Bricolage ist „handelndes Entwerfen bzw. […] entwerfendes Handeln“ (ebd.:12) und basiert auf dem performativen Aspekt von Handlungen, der nach Gunter Otto immer dann zum Tragen kommt, wenn diese „nicht oder nicht nur vom Produkt, Objekt oder Ergebnis her thematisiert werden, sondern als Prozess ihrer Entstehung und Wirkung“ (Otto 1999:197f). Auch wenn Lévi-Strauss die Bricolage ursprünglich als von einem Problem ausgelösten Prozess konzipiert, ist sie wie die Improvisation „problem finding, rather than merely problem solving“ (Bertinetto 2012:134) und als Improvisation beispielhaft für Kreativität: „creativity is improvisational, in the sense […] that its outcomes are unforeseeable.“ (ebd.:135). Bricolage kann dem entsprechen, was die Kognitionswissenschaftler*innen Ute Schmidt und Joachim Funke „[k]leine Kreativität“ (Schmidt/Funke 2013:341) nennen, die alltäglich stattfindet, wenn man z.B. eine Büroklammer in den Schieber eines defekten Reißverschlusses fädelt, um ihn wieder bewegen zu können. Im Gegensatz zu Schöpfungen „großer Kreativität“ (ebd.), die häufig mit langer Vorbereitungs- und Inkubationszeit und ausführlicher Evaluation und Ausarbeitung einhergehen, sind in der improvisatorischen Kreativität der Bricolage eher „interaktionale Einflüsse, […] bewusste und nicht-bewusste Prozesse, […] Ideen [… und …] die Balance zwischen Strukturen und Innovation in einem Feld [… und …] im Individuum“ (Figueroa-Dreher 2016:25) entscheidend. Bricolage setzt durchaus „ein weitreichendes Expert*innenwissen“ (Haist 2021) voraus, wobei das Beherrschen „in der situativen Veränderung von Regeln und einem gelingenden Antworten auf etwas, mit dem man nicht gerechnet hat” (Bertram/Rüsenberg 2021:17f), besteht. Regeln werden in der Auseinandersetzung mit situierten und materiellen Gegebenheiten ko-konstruiert und neu erfunden.
Wie sich improvisatorische Bricolage konkret ereignet, soll im Folgenden am Beispiel eines Projekts zum freien Basteln im Rahmen des Kunstunterrichts einer vierten Grundschulklasse sichtbar gemacht werden. Fragen danach, welche improvisatorischen Strategien, Operationen und Handlungen die Kinder ausführen, wenn sie mit gesammeltem Abfallmaterial basteln, wie sie dabei ihre Imagination ko-konstruktiv in Auseinandersetzung mit der Situation, den Peers und dem Material gestalten, welche Probleme sich ihnen im Verlauf des Prozesses stellen und welche Kompetenzen sie sich aneignen bzw. sie bereits mitbringen, um diese Probleme zu lösen, werden im Folgenden beantwortet.
Anders als bei der Produktion von Oster- oder Weihnachtsdekoration nach detaillierten Bastelvorlagen und mit festgelegten Materialien schließt das Verfahren des freien Bastelns direkt an das Bricolage-Konzept von Lévi-Strauss an und wird darum von Iris Kolhoff-Kahl „wildes Basteln“ (Kolhoff-Kahl 2007:4) genannt. Im Gegensatz zum planvollen Bauen und Konstruieren ist das wilde oder freie Basteln eine „Form des Denkens mit den Mitteln und Möglichkeiten der sinnlichen Erfahrung” (Schäfer 1993:136) und eröffnet einen Dialog des Kindes mit seiner Umwelt und dem Material, das es zerlegt und neu kombiniert.
Methoden: Das Kunst- und Forschungsprojekt “Klingu basteln”
Der offene Arbeitsauftrag für die drei Zeitstunden umfassende Projektarbeit zum freien Basteln der Klasse 4 lautete: „Bastle ein Klingu mit Materialien deiner Wahl. Es gibt kein ‚richtig‘ oder ‚falsch‘.“ Dem Arbeitsauftrag ging eine Hinführung in Form einer kurzen Geschichte voraus, die das Klingu als etwas vorstellt, das einem fantasiebegabten Jungen plötzlich in dessen Treppenhaus gegenübersteht. Es kann sich dabei je nach Assoziationen der einzelnen Schüler*innen um ein Lebewesen, einen Gegenstand oder eine Maschine handeln. Da die Schüler*innen mit offenem Unterricht bisher nicht vertraut sind, dient der Einstieg und der Arbeitsauftrag dazu, einer Überforderung der Lernenden vorzubeugen und stattdessen einen Orientierungsrahmen zu schaffen und die Neugier der Schüler*innen zu wecken.
Die bereitgestellten Materialien bestanden aus Abfallmaterialien wie Klopapierrollen und verschiedenen Pappverpackungen, Klebebändern, Draht, Holzgäbelchen, Zahnstochern, Wolle, Federn, Korken, Krepp und anderen Papiersorten. In der Reflexion im Anschluss an die Arbeitsphase wurden die Produzent*innen reihum gebeten ihr Klingu vorzustellen, ihre Gestaltung und Materialwahl zu begründen und sich zu Schwierigkeiten und zu als gelungen erachteten Lösungen zu äußern.
Diese Reflexionsphase wurde video- und audiografiert und alle entstandenen Artefakte fotografiert. Außerdem wurden die ästhetischen Prozesse einer Gruppe von sechs zufällig ausgewählten Kindern, die an einem Gruppentisch zusammensaßen, in Video- und Audioaufnahmen und Beobachtungsprotokollen dokumentiert und mithilfe der Dokumentarischen Unterrichtsforschungsmethode nach Barbara Asbrand und Matthias Martens ausgewertet (Asbrand/Martens 2018). Mit dieser Methode werden explizit die „Materialität und Körperlichkeit des Unterrichts [… und die…] mehrdimensionalen, synchronen und simultanen Verschränkungen unterschiedlicher, aber gleichzeitig ablaufender Interaktionen“ (ebd.:3) in den Blick genommen. Diese rekonstruktive Kompetenzforschung ist besonders geeignet, „um die fachlichen Vermittlungs- und Aneignungsprozesse im Unterricht empirisch zu erfassen“ (ebd.:16).
Das Sampling der Sequenzen für die anschließende Transkription und Interpretation wird nach den Kriterien der interaktiven Dichte und der Fokussierung der Teilnehmer*innen (Przyborski 2004:51) und der Thematisierungen von Schwierigkeiten bzw. Erfolgen durch die Schüler*innen in der Reflexionsphase am Ende des Unterrichtsprojekts durchgeführt. Dabei wird der Umfang der Sequenzen so gewählt, dass sie bezogen auf die nonverbalen oder verbalen Äußerungen eine abgeschlossene Handlungseinheit bilden.
Die Datenauswertung erfolgt in den drei Schritten der Transkription, der formulierenden und der reflektierenden Interpretation. Die Transkription stellt die verbalen Daten im Notationssystem des „Talk in Qualitative Research“ (Asbrand/Martens 2018:178) dar und ergänzt sie um die nonverbalen Daten in Form von für die Sequenz repräsentativen Filmstills. So wird die Simultaneität der Handlungen berücksichtigt und eine Übersicht über die Gesamtsituation hergestellt. Im zweiten Arbeitsschritt wird die Synopse aus Transkripten und Filmstills um sechs Spalten für die formulierende Interpretation der Handlungen der sechs Proband*innen ergänzt, um die individuellen ästhetischen Prozesse detailliert beobachten zu können. Die reflektierende Interpretation betrachtet im letzten Arbeitsschritt alle Daten der Synopse zu den jeweils ausgewählten Sequenzen, um Sequenzialität und Simultaneität der körperlichen, materiellen und verbalen Interaktionen in ihrer Komplexität darstellen und Erkenntnisse zu Handlungsmustern im ästhetischen Prozess herausarbeiten zu können, wobei drei Handlungsmuster unterschieden werden.
Ergebnisse I: Handlungsmuster, Improvisationen, Ko-Konstruktionen mit dem Material
Das erste morphogenetische Handlungsmuster zeichnete sich dadurch aus, dass die Protagonist*innen ihren Arbeitsprozess an den Interaktionen mit den Materialien ausrichten. Der Aufforderungscharakter des Materials regt Handlungen und Gestaltungsideen an (Dicke 2021:267). So greift E. direkt zu Beginn der Arbeitsphase zu zwei Strohhalmen und hält sie an ihren Kopf, den sie hin- und herschwingt. Ihre verbalen und gestischen Äußerungen zeigen ihre Immersion in die Materialerkundung: „lalalalala::lalalalalala:: […] Ich bin ein Klingu, mit den kleinen Hörnern ((singend)) (.) […] Ich bin der Klingu::: (.) darf das auch so riesig werden“ (Fuß 2022:Min.12:58-13:08). Sie steckt Federn in die Strohhalme und hebt sie über ihrem Kopf in die Höhe. Im performativen Spiel verwandelt sich E. selbst in das Klingu und präsentiert sich so ihren Mitschüler*innen (Abb. 1).
Lautstärke und Intonation ihrer verbalen Äußerung verraten ihre freudige Überraschung über ihre Entdeckung, die sie im Verlauf des weiteren Gestaltungsprozesses angeregt von Interaktionen mit Materialien und Peers vielfach variiert: „es sind […] Steuerungsmechanismen am Werk, […] die nicht vom Außen, sondern vom Innen des Prozesses und seiner Interaktion her kommen.“ (Dell 2010:221).
Anders als in diesem prozessorientierten, morphogenetischen Handlungsmuster wird im teleologisch-produktorientierten Muster eine konkrete Idee verfolgt, die der*dem Handelnden unmittelbar zur Aufgabenstellung eingefallen ist und die nun ihre Realisierung findet. L. beginnt ihre Gestaltung mit einem entschlossenen Griff zu Basteldraht und Wolle und umwickelt Wollfäden mit dem Basteldraht. Sie legt drei farbige Federn auf eine Papprolle und klebt sie mit einem weißen Klebebandstreifen so am oberen Rand der Rolle fest, dass die weichen Spitzen der Federn über die Pappe hinausragen. L wählt die Farben der Federn aus einer Farbfamilie, da ihr ein harmonisches Gesamtbild wichtig zu sein scheint (Abb. 2). Ihre folgenden Arbeitsschritte knüpfen stringent aneinander an, ohne dass sie ihr Material spielerisch erprobt, auch wenn sie es ästhetisch erfährt und zielgerichtet einsetzt.
Das dritte Handlungsmuster verknüpft morphogenetische und teleologische Komponenten miteinander, so dass sich prozess- und produktorientierte Handlungen abwechseln und einander bedingen. D. hat zu Beginn der Aufgabenbearbeitung keine konkrete Idee, sondern sammelt zunächst einige Materialien, die ihn zu faszinieren scheinen. Er sticht drei Holzstäbe in ein kleines Wollknäuel und drückt dabei die Wolle immer wieder zusammen. Wie bei E. scheinen in ihm durch die Kombination verschiedener Materialien innere Bilder zu entstehen. Es wirkt, als werden Erinnerungen oder Assoziationen wachgerufen und mit der Gestaltungsarbeit verknüpft. Das Material eröffnet Handlungsgelegenheiten und Feedbackeffekte, „die sich wiederum im Handeln auswirken“ (Figueroa-Dreher 2016:168) D. hebt die Wolle mit den darin steckenden Holzstäben in die Luft, wobei die Stäbe nach hinten kippen. Seine Hände folgen dieser Bewegungsrichtung, er dreht seine Konstruktion auf die Seite und hebt sie noch höher. Während seine linke Hand die Wolle zusammendrückt, pendelt seine rechte Hand nah am Material sehr schnell von vorne nach hinten. Dazu imitiert er Geräusche eines Maschinengewehrs (Fuß 2022:Min.13:35). Im weiteren Verlauf setzt er diese spielerische Performance jedoch nicht fort, sie findet auch in der Gestaltung seines Klingus keinen unmittelbaren Ausdruck. Stattdessen denkt er konzeptionell über sein Design nach (ebd.:Min.13:53). Die Wolle rutscht jedoch immer wieder aus der unteren Öffnung der Papprolle heraus, was D. mit: „mein Klingu ist schonmal to::t […] Seine Organe gucken ja schon raus hier“ (ebd.:Min.17:07-17:13) kommentiert. Seine Lust an dieser vom Material ausgelösten Assoziation ist für ihn inspirierend, dennoch will er das „hässlich[e]“ (ebd.:Min.17:31) Aussehen ändern und versteckt die Woll-„Organe“ in einer zweiten Papprolle, die er an die erste fügt. In dieser Phase seines Gestaltungsprozesses folgt er seinem von Normen geprägten Konzept, so dass das morphogenetisch-prozessorientierte vom produktorientierten Handlungsmuster abgelöst wird. Nachdem D. sein Artefakt für vollendet erklärt und sich mit einer Differenzierungsaufgabe befasst hat, bringt ihn ein performativer Einwurf von E. auf ein neues inhaltliches Gestaltungskonzept. L.s Frage: „Wer hat mein Klingu geklau::t“ (ebd.:Min.24:44) beantwortet E. mit: „Da::::s war ein Kla:bau:terma::n“ (ebd.:Min.24:56). Dabei erzeugt sie Spannung, indem sie die Silben in die Länge und ihre Stimmlage in die Tiefe zieht, als ob sie ein gruseliges Märchen vorliest. D. elaboriert diesen Inhalt in einer Narration vom Klabautermann, der nachts auf einem Schiff unterwegs ist, und führt das Gespräch mit Assoziationen zum Film Fluch der Karibik fort. Sein Artefakt erinnert ihn an einen Piraten aus diesem Film: „meiner hat nur ein Auge […] mein Klingu; ist böse; (.) hihi.“ (ebd.:Min.28:30). Das gestaltete Objekt bekommt erst in diesem neuen Kontext seinen Sinn. Die der Gestaltung nachfolgenden Handlungen beeinflussen die Bedeutung vorhergehender Handlungen (Bertinetto 2012:131). Das Artefakt „ist, was es wird.“ (Bormann u.a. 2010:13) Vermeintliche Seitengespräche der Gruppe geben entscheidende Anregungen für D.s Bricolage. Neben den verbalen Interaktionen bieten körperlich-performative Handlungen mit dem Material (z.B. Papprollen als Fernglas vor die Augen halten) oder der Raumausstattung (z.B. die Drehbank wie ein Steuerrad bedienen) D. immer wieder Anlass für Konzeptentwicklungen, so dass er in komplexen Handlungsfolgen, in denen sich morphogenetische und teleologische Anteile abwechseln und durchdringen, ein Schiff mit einer Piratenmannschaft und einem Wal bastelt (Abb. 3).
Ergebnisse II: Ko-Konstruktionen und Ideenressourcen der Gruppe
Anhand der Klabautermann-Piraten-Thematik wird deutlich, dass Werner Hollys Diagnose aus der gemeinsamen Fernsehrezeption auf die Produktion von Artefakten in einer Gruppe übertragen werden kann: Die Produzent*innen können „mehr oder weniger expandierend – Bezüge zur eigenen Erfahrungs- und Lebenswelt herstellen und damit zugleich den Interpretationsspielraum ausweiten.“ (Holly 1993:147). Während in der Fernsehrezeption mediale Themenressourcen in eigenständiger Weise für Gespräche genutzt werden, werden in der geschilderten Projektarbeit Gesprächsinhalte zu Stichwortlieferanten und Ideenressourcen für die mediale Gestaltung. Verbale Äußerungen, performative Handlungen und Bewegungen der Mitschüler*innen erzeugen wiederum verbale oder handelnde Antworten. Ideen und Lösungen werden explizit der gesamten Gruppe präsentiert, was daran sichtbar wird, dass die Präsentierenden keine bestimmte Person fokussieren, sondern ihre Blicke und die Zuwendung des Körpers ständig zwischen allen Mitschüler*innen wechseln. So bestätigen sich die Gruppenmitglieder gegenseitig ihr Interesse und damit ihre Ideen und Umsetzungen. Des Weiteren schlichten sie Streitigkeiten, teilen Materialien untereinander und geben sich Hilfestellungen. Auf diese Weise wird eine sichere Umgebung gebildet, die ermöglicht, dass die Gestaltungsarbeiten im Laufe des Arbeitsprozesses immer explorativer werden. Die Materialauswahl und Umsetzungen einzelner Gruppenmitglieder werden von anderen abgewandelt und im Prozess improvisatorisch weitergenutzt. Die willkürlich zusammengesetzte Sechsergruppe generiert sich explizit als „Club“ (Fuß 2022:Min.15:08), als eine Gemeinschaft mit einer geteilten Aufgabe. Denn auch wenn sechs einzelne Artefakte entstehen, sind diese Ergebnisse keine ausschließlich individuellen Einzelleistungen, sondern werden in der Gruppe ko-konstruiert (Abb. 4).
Darüber hinaus offenbaren die Schüler*innen in ihren Präferenzen und Kommentaren gesellschaftliche Normen und setzen sich damit auseinander. So scheint E. von D.s Verhalten besonders fasziniert zu sein und reagiert darauf, indem sie ein „verrücktes“ (ebd.:Min.59:46) Klingu gestaltet, das nicht den tradierten binären Geschlechterrollen entspricht. Normen werden hier individuell dekonstruiert „bis zum Regelbruch, der dann neue Formen und neue Spielräume des Handelns eröffnet.“ (Bormann u.a. 2010:9) Die Interaktionen der untersuchten Gruppe bestätigen Christopher Dells Definition von Improvisation als „konstruktive[n] Umgang mit Unordnung in der Gemeinschaft“ (Dell 2010:223).
Ergebnisse III: Phasen und Kompetenzen im Bricolageprozess
Improvisatorisches wildes Basteln oder bastelndes Improvisieren als „Kontingenz-Entfaltungs-Spiel im Unvorhergesehenen“ (Bormann u.a. 2010:8) ermöglicht Entdeckungen. In ihm emergieren Erkenntnisse in Form von neuen Zusammenhängen, aber auch Zufälle, Zweifel und Unsicherheiten, die vier Phasen des Prozesses charakterisieren, bestehend aus der Orientierung, der Ideenfindung, der Umsetzung und der Präsentation und Evaluation.
Die fünf Phasen des kreativen Prozesses – Vorbereitung, Inkubation, Einsicht, Evaluation, Ausarbeitung –, die eher in umfangreichen Projekten und nicht in Prozessen „kleiner Kreativität“ (Schmidt/Funke 2013:341) im Alltag zu finden sind, spiegeln sich hier insofern wider, als dass Inkubation und Einsicht in der Ideenfindung zusammenfallen und Ausarbeitung und Evaluation sich umkehren. Wie im kreativen Prozess allgemein (Mace/Ward 2002:182ff) durchläuft man auch im Bricolageprozess die Phasen nicht einmalig chronologisch, sondern es finden Rückgriffe und Rückkopplungen, Wiederholungen und Schleifen statt (Abb. 5).
Zu Beginn der Arbeitsphase zeigt sich eine hohe interaktive Dichte sowohl in zwischenmenschlichen als auch in Mensch-Material-Interaktionen. Diese interaktive Dichte weist darauf hin, dass die Schüler*innen sich in dieser Phase von Materialien fasziniert zeigen, diese sammeln und sie durch Kombinationen erproben. Durch Assoziationen zu eigenen und fremden Handlungen mit dem Material entstehen erste Ideen, aufgrund derer Materialien kombiniert, bestehende Materialverbindungen dekonstruiert und verändert werden. In der Umsetzungsphase werden die Ideen elaboriert, dabei stoßen die Bastler*innen auf Widerstände, die überwunden werden oder manchmal auch ungelöst bleiben. Falls ein Problem nicht geklärt wird, können weitere Orientierungsphasen und Ideenfindungen folgen. Wird eine Schwierigkeit überwunden, emergieren weitere Ideen. Die neuen Ideen und Umsetzungen werden den Peers meist unmittelbar präsentiert, um Lob oder assoziative Rückmeldungen zu erhalten, um die Gestaltungsarbeit spielerisch zu erkunden und sich emotional mit ihr auseinanderzusetzen. Die Schüler*innen werden im Laufe der Zeit immer mutiger in ihrer Ideenfindung und explorativer in ihren Bricolageprozessen. Nicht nur gegenseitige Inspiration, sondern auch das Innehalten und Staunen gibt neue Impulse für die Gestaltung der Artefakte. Die Bereitschaft der Kinder „Unvorhergesehenes, Ungeplantes und Zufälliges in ihr Handeln aufzunehmen“ (Figueroa-Dreher 2016:268), die Angebote des Materials und der Peers mit ihrer Imagination zu verknüpfen und in ihre Gestaltung zu integrieren, zeigt ihre zuvor oder im aktuellen Prozess erworbenen improvisatorischen Kompetenzen, die darin bestehen sich dem Prozess anzuvertrauen und sich in ihm selbst transformieren zu lassen, sich also „prozessual zum Prozess zu verhalten“ (Dell 2010:220). Wie das Spiel erfordert der Bricolageprozess Konzentration und Aufmerksamkeit, um sich auf ständig verändernde Konstellationen einzulassen (siehe Dicke 2022: Spielen und Spiele: Erfinden als riskante und reflexive kulturelle Bildungspraxis). Bricolage fördert also Mut, Ausdauer, Neugier, Flexibilität, Offenheit, Problemlösekompetenz, Erfindungsreichtum und Selbstwirksamkeitserfahrung (Heyl/Schäfer 2016:73).
Bildung: Bricolage als Welt- und Selbsterschließung
Die „erste und wichtigste Denkleistung des kleinen Kindes besteht darin, die Welt in verstehbaren Mustern wahrzunehmen, sie sinnlich zu begreifen [...], sie nachzuahmen, mit ihren Mustern zu spielen, sie phantasierend umzuformen und neu zu gestalten.“ (Schäfer 1999:21). Auch in der weiteren kindlichen und jugendlichen Entwicklung sind improvisatorische Fähigkeiten die Basis für „die aktive und oft sehr kreative Eigenleistung der Subjekte bei der Arbeit an ihrer Identität“ (Keupp 2008:296). Indem die Schüler*innen im wilden Basteln Bekanntes hinterfragen, Ordnungen umwerfen und neue Zusammenhänge herstellen, geschieht Bildung als „experimentelle Form der Welterschließung“ (Winderlich 2021).
Daher sollte Bricolage als individuelles und kollektives improvisierendes Gestalten eine feste Größe im Kunstunterricht sein, der Phasen des Staunens und Innehaltens, des Umgangs mit Misslingen und ziellosen Spielens braucht, um nicht in erster Linie handwerklich-technische Fähigkeiten zu vermitteln, sondern alle prozessualen und inhaltlichen Kompetenzbereiche abzudecken (Niedersächsisches Kultusministerium 2006:11ff). „Die Fähigkeit, kreative Lösungen für neuartige Szenarien zu improvisieren [als] ein wesentliches adaptives Verhalten, wenn ein Organismus in einer sich ständig verändernden Umwelt überleben will“ (Berkowitz 2010:182), kann so zentral im Kunstunterricht entwickelt werden.