Was bedeutet „Kultur macht stark“? Selbstbestimmung und das gute Leben als sozialpädagogische Perspektiven für die Kulturelle Jugendarbeit
Abstract
Der Beitrag diskutiert für Pädagogik und Kulturelle Jugendarbeit relevante Begriffe wie selbstbestimmtes Leben, Autonomie, eigener Wille, wertvolles Tun. Er skizziert die drei großen Ansätze von Theorien des guten Lebens, die in der Literatur unterschieden werden: die Lusttheorie, die Wunschtheorie und die Gütertheorie und hinterfragt diese im Hinblick auf ihre Unterschiede und Bedeutungen für pädagogische Praxis und Kulturelle Jugendarbeit. In der kritischen Auseinandersetzung mit diesen Ansätze und vor dem Hintergrund der aristotelischen, tugendethischen Theorietradition nach MacIntyre wird herausgearbeitet, wieso die Kulturelle Bildung einer der wenigen Bereiche sein dürfte, in denen Kinder und Jugendliche die Selbstzwecklichkeit wertvollen Tuns in ihrer Reinform erfahren können: Dieser Theorietradition zufolge sollte unser Leben nicht mit der Einstellung und in der Haltung geführt werden, alles möglichst effizient zu machen, sondern in einer Haltung, wertvolle Dinge zu tun, und diese Dinge auf eine gute, exzellente Weise zu tun. Für die Pädagog*innen in der Kulturellen Bildung ergibt sich eine große Verantwortung. Sie sind gewissermaßen die Hüter*innen des Wertvollen, die Kinder und Jugendliche befähigen, exemplarisch in der Kunst das zu erfahren, was wir im Idealfall in sämtlichen Bereichen unseres Lebens erfahren wollen und wie wir im Idealfall unser Leben führen sollten. Die BMBF-Förderlinie und die Frage, macht Kultur stark, aufgreifend, ließe sich festhalten: Wir fördern und machen Kultur nicht, weil sie stark macht. Viele Dinge im Leben machen stark, aber es kommt darauf an, dass man auf eine vernünftige Weise und zu vernünftigen Zwecken stark ist. Wir fördern und machen Kultur, weil sie auf eine gute Weise stark macht, nämlich das stärkt, was uns als Menschen, als Kulturwesen ausmacht. Kulturelle Bildung stärkt in erster Linie unsere Menschlichkeit.
In diesem Beitrag problematisiere ich zunächst den Begriff des selbstbestimmten Lebens, komme dann auf die Frage nach dem guten Leben, um dann auf die Frage nach wertvollem Tun, nach wertvollen Tätigkeiten zu gelangen. Denn ich glaube, Kulturelle Jugendarbeit besteht darin, Kindern und Jugendliche eine Vorstellung davon zu vermitteln, was es für wertvolle Dinge im Leben gibt. Sie versucht, Kinder und Jugendliche dafür zu begeistern, danach zu streben, Wertvolles zu tun und am Tun des Wertvollen Gefallen zu finden.
Zunächst also: Was bedeutet „selbstbestimmtes Leben“? Wir assoziieren damit eine Person, die handlungsmächtig ist und eigenständig, eine Person, die frei ist von äußeren und inneren Zwängen.
- Wir denken etwa an den Jugendlichen, der sich der Macht des Gruppendrucks der Gleichaltrigen widersetzt, die ihn verleiten wollen, Drogen zu nehmen oder gemeinsam Mitschüler zu mobben.
- Wir denken vielleicht an die Jugendliche, die sich unabhängig macht von der Macht der Kulturindustrie, die uns diktiert, wie wir uns zu kleiden haben, wie wir auszusehen haben und wieviel Gewicht wir auf die Waage zu bringen haben.
- Wir denken an den Jugendlichen, der sich von der Macht der Meinung seines Fußballvereins, seines Freundeskreises und seiner Familie unabhängig macht und öffentlich zu ihrer Transsexualität steht.
An solchen Jugendlichen schätzen wir den eigenen Willen, der stark genug ist, sich gegen Einflüsse von außen zu wehren und wir schätzen die Fähigkeit der Selbstreflexion: sich selbst entdecken, sich selbst kreieren, zu sich selbst finden, sich treu bleiben. Wir betrachten sie als starke Personen.
Beeinflusster Wille?
Dagegen sind wir skeptisch Personen gegenüber, deren Wille stark von ihrer unmittelbaren Umgebung beeinflusst erscheint.
- Wir sind skeptisch gegenüber dem Jugendlichen, der in einer sozial geschlossenen, religiösen Gemeinschaft aufgewachsen ist und dann genau das will, was seine Eltern wollen. Wir sind skeptisch, auch wenn der Jugendliche sagt, er sei glücklich.
- Wir sind skeptisch gegenüber der offensichtlich talentierten Jugendlichen, die von ihren Eltern schon früh zur Klavierspielerin ausgebildet wird. Wir sind skeptisch, wenn sie sagt, sie habe Spaß daran und will gar nichts anderes tun, obwohl sie gar nichts anderes kennengelernt hat, nie Fußball gespielt oder Playstation ausprobiert hat.
Unsere Skepsis regt sich, obwohl wir die religiöse oder musikalische Lebensweise gar nicht unbedingt verwerflich finden. Wir haben nur einfach den Eindruck, dass da jemand irgendwie beeinflusst oder sogar manipuliert und indoktriniert worden ist.
Eigener, neurotischer (pathologischer) Wille?
Als eindeutig problematisch bewerten wir es aber, wenn Menschen sich ein Leben wünschen, dass uns irgendwie als pathologisch, neurotisch und krank erscheint. Wir finden es als problematisch, wenn etwa Kinder in einem Haushalt aufwachsen, in dem so viele Dinge gesammelt werden, dass Außenstehende sie als zwanghafte „Messis“ bezeichnen. Wir empfinden das als problematisch auch dann, wenn es in der Wohnung einigermaßen hygienisch zugeht, die Kinder absolut zufrieden und glücklich wirken und es völlig in Ordnung finden, ihre Freunde nicht mehr nach Hause einzuladen, weil die Freunde die Wohnung als seltsam, als „cringe“ bezeichnen.
Eigener, starker, schlechter Wille?
Als noch problematischer finden wir es, wenn Menschen sich ein Leben wünschen, das aus offensichtlich schlechten oder trostlosen Tätigkeiten besteht.
- So finden wir es meist problematisch, wenn ein Jugendlicher oder junger Erwachsener sich ständig mit anderen Jugendlichen prügelt, schwächere Jugendliche bedroht und einschüchtert, dann noch Drogen nimmt, sich prostituiert oder andere in die Prostitution treibt, also sich selbst und andere schädigt – und dann behauptet, dass er das gern tue und es ihm egal sei, ob er in den Knast komme oder an einer Überdosis sterbe, weil sein Motto sei: „live fast, die young“.
- Meist haben wir aber auch ein Problem mit einer Jugendlichen, die sagt, keine Lust mehr auf Schule und auch kein Interesse an einer Ausbildung zu haben und deren Ziel es ist, zukünftige nur noch World of Warcraft zu spielen, Bier zu trinken und so wie ihre Eltern von Harz IV zu leben und die von sich behauptet, sie sei glücklich.
Was ich bislang gemacht habe, ist Beispiele zu konstruieren, die eine Ahnung davon geben, unter welchen Bedingungen wir als Alltagsmenschen intuitiv einer Person Selbstbestimmung zusprechen. Es geht dabei um die Frage, wodurch sich der eigene Wille auszeichnet, welche Rolle die Beeinflussung von außen dabei hat und welche Rolle es dabei spielt, was die Person eigentlich will, also ob sie etwas Gutes, Beschränktes oder Schlechtes will. Selbst wenn wir davon ausgehen, dass es schwierig, wenn nicht gar unmöglich ist, genau zu bestimmen, was gute, beschränkte oder schlechte Dinge sind, so ist es doch in konkreten, lebendigen Geschichten intuitiv einleuchtend, bestimmte Dinge als gut, beschränkt oder schlecht zu bewerten.
Zum Begriff der „Selbstbestimmung“ bzw. „Autonomie“
Von dem Begriff der Selbstbestimmung erwarten wir sehr viel in der Pädagogik (Schrödter 2011). Er fungiert als Ausgangspunkt der Theoriebildung und Zielgröße praktischen Handelns insofern Erziehung und Bildung aus der Möglichkeit bzw. Notwendigkeit der Subjektwerdung, Personenwerdung, Menschwerdung begründet werden und Selbstbestimmung dafür eine zentrale Rolle spielt (Kant 1803). Damit ist die Auffassung gemeint, dass es als eine wesentliche Eigenschaft von Menschen gilt, selbstbestimmt zu sein. Einem Tier würden wir das nicht so ohne weiteres zusprechen wollen. Klar, wir sagen oft, ein Hund oder ein Pferd habe „seinen eigenen Willen“, so wie wir auch von dem „Charakter“ eines Pferdes oder eines Hundes sprechen. Aber gleichzeitig sprechen wir auch davon, dass das Tier instinktgebunden sei, während der Mensch in seinem Willen „frei“ sei. Was ist also Selbstbestimmung und inwiefern unterscheidet sich die Selbstbestimmung des Menschen vom „Eigenwillen“ des Tieres?
Mit dem Konzept der Selbstbestimmung ist meist die Vorstellung verbunden, dass wir unser Leben nach unseren eigenen Vorstellungen zu führen imstande sind. Entsprechend verstehen wir unter einem selbstbestimmten bzw. autonomen Subjekt eine Person, die sich Meinungen bilden, Wünsche ausbilden, Handlungspläne entwerfen und ihre Handlungen selbst initiieren und verantworten kann. Es geht also vor allem um die Werte, Wünsche, Überzeugungen, Einstellungen, Meinungen, Motive, Pläne, etc. der Person, die wir kurz zusammenfassend auch als „Wünsche“ bezeichnet können. Wünsche gelten als selbstbestimmt bzw. als autonom, wenn sie der Person nicht aufgezwungen worden sind, sondern als ihre eigenen betrachtet werden können und in diesem Sinne „authentisch“, also wesentlicher Teil ihres Selbst sind. Wir sind dann ein Subjekt, nicht bloß ein Ding, ein Objekt fremder Mächte, das nicht selbstbestimmt handelt und wie ein Sklave oder wie ein Tier Objekt des Handelns anderer ist (vgl. Berlin 1969:131). Selbstbestimmung ist eine wesentliche Voraussetzung für Handlungsmächtigkeit und somit ein zentraler Aspekt des Wesens des Menschseins, zu dem uns Pädagogik verhelfen soll.
Wie die Beispiele eingangs aber gezeigt haben, geht es nicht bloß darum, irgendetwas authentisch zu wollen, sondern auch darum, das Richtige zu wollen (Müller 1998). Aber was ist das Richtige? Letztlich wollen wir doch einfach nur glücklich sein. Und ist es nicht völlig subjektiv, was das individuelle Glück ausmacht? Soll nicht jeder nach seiner Façon glücklich werden?
Drei Ansätze des guten Lebens: Lusttheorie, die Wunschtheorie und die Gütertheorie
Für gewöhnlich werden Theorien des richtigen, guten oder glücklichen Lebens danach unterschieden, welche zentralen Kategorien sie in den Vordergrund stellen. Die Kategorien, die sich im Laufe der Philosophiegeschichte etabliert haben, sind: Freuden, Wünsche und objektive Güter. Sie werden im Rahmen der Lusttheorie, der Wunschtheorie und der Gütertheorie erörtert (einführend zu dieser Dreiteilung Fenner 2007; Steinfath 2011; erstmals: Parfit 1984). Dabei sind die Übergänge fließend. Wie wir sehen werden, braucht wohl eine umfassende Theorie des guten Lebens alle drei Elemente, also eine Berücksichtigung von subjektiven Freuden, von subjektiven Wünschen und von objektiven Gütern.
Was ich hier Lusttheorie nenne, wird in der Literatur in der Regel als hedonistische Theorie bezeichnet. Dies leitet sich ab von „hedone“, aus dem Griechischen: „Lust“. Dieser Theorie bzw. dieser Theorietradition zufolge habe ich ein gutes Leben in dem Maße, in dem ich Dinge tue oder erfahre, die Lust befriedigen und Leiden vermeiden. Es geht um Lustgewinnung und Unlustvermeidung. Es gilt die Maxime: „Lebe dasjenige Leben, das dir am meisten Lust verspricht!“ (Fenner 2007:31). Entsprechend könnte jemand sagen: die Schule nervt. Außerdem muss ich nebenher viel jobben, was ebenfalls nervt. Aber ich habe lustige Hobbies und habe Spaß mit Freunden, mit denen ich mich oft treffe und das gleicht das aus. Summiere ich die unangenehmen und angenehmen Aspekte in meinem Leben auf, dann überwiegt die Freude über das Leiden. In der Summe bin ich also glücklich. Die Lustbilanz ist positiv. Ich habe ein gutes Leben.
Der Wunschtheorie dagegen gilt mein Leben als gut in dem Maße, in dem ich Dinge tue oder erfahre, die meinen Wünschen entsprechen. Die Maxime lautet: „Lebe das Leben, bei dem möglichst viele Deiner Wünsche oder Ziele in Erfüllung gehen!“ (Fenner 2007:59). Im Rahmen der Wunschtheorie wäre es jedenfalls kohärent, wenn jemand sagen würde: Ich engagiere mich für eine gute Sache, etwa für das Klima bei Greenpeace, weil mir das wichtig ist. Das ist zwar oft anstrengend und macht auch oft keinen Spaß, aber das sind meine Ziele. Nur wenn ich diese Ziele erfülle, habe ich ein gutes Leben. Oder ein anderes Beispiel: Ich arbeite hart, weil ich später einmal einen Lamborghini fahren möchte. Erst, wenn ich mir diesen Traum erfüllt habe und den Lamborghini habe, bin ich glücklich.
Von der Gruppe der Lust- und Wunschtheorien sind die Gütertheorien zu unterscheiden. Mit „Gütern“ kann so etwas gemeint sein, wie das Gut der Freiheit, der Gesundheit oder des Wohlstands. In der Philosophie bezeichnen wir als Güter Ziele menschlichen Strebens, die „als Voraussetzungen, Mittel und ‚Material‘ den gelungenen Vollzug menschlichen Lebens ermöglichen“ (Höffe zit. nach: Fenner 2007:103). Mit anderen Worten, Güter sind die materiellen und immateriellen Dinge, von denen sich mit guten Gründen behaupten lässt, dass Menschen sie brauchen, weil sie ein gutes Leben ausmachen oder ein solches ermöglichen. Der Gütertheorie zufolge habe ich ein gutes Leben nur in dem Maße, in dem ich Dinge tue oder erfahre, die mit guten Gründen als wertvoll gelten können. Die Maxime lautet: „Lebe so, dass Du in den Besitz bestimmter oder möglichst vieler an sich wertvoller Güter gelangst!“ (Fenner 2007:176). Gütertheorien „gehen grundsätzlich davon aus, dass es im Leben aller Menschen etwas gibt, das objektiv betrachtet, ‚intrinsisch‘ oder ‚an sich‘ gut oder schlecht ist. Es ist also gut oder schlecht für jedes menschliche Leben unabhängig davon, wie es von den einzelnen Menschen tatsächlich bewertet oder subjektiv empfunden wird“ (Fenner 2007:103). Im Rahmen der Gütertheorie wäre es dementsprechend kohärent, wenn jemand sagt: Ich spiele klassische Musik auf dem Cello, weil das ästhetisch anspruchsvolle Musik ist. Ich höre zwar auch gern Schlagermusik, aber ich versuche das zu minimieren, da das künstlerisch wenig zu bieten hat. Vielleicht gelingt es mir einmal, anspruchsvolle Schlagermusik zu komponieren. Ein anderes Beispiel: Ich pflege meine Großeltern. Das macht mir zwar nicht immer Spaß und ich würde auch viel lieber etwas studieren und Karriere machen. Aber es ist so wertvoll, sich um seine Familie zu kümmern. Daher mache ich das. Ich habe ein gutes Leben.
Damit haben wir also die drei großen Ansätze von Theorien des guten Lebens skizziert, die in der Literatur oft unterschieden werden. Aber wo liegen die Unterschiede? Sind sie wirklich trennscharf? Welcher Ansatz überzeugt am meisten? Und: was bedeuten diese Ansätze für die Kulturelle Bildung?
Subjektiv – objektiv
Doch zunächst zur Einordnung: Lust- und Wunschtheorie sind subjektive Theorien des guten Lebens, da es um die subjektiven Bewertungen – die Bewertungen des Subjekts – geht, bezüglich dessen, was dessen Lust befriedigt bzw. was es sich wünscht. Es handelt sich um Theorien, die „das Gutsein eines Lebens von den Einstellungen dessen, der es führt, abhängig machen“ (Steinfath 2011:300). Dagegen sind Gütertheorien objektiv in dem Sinne, als es weniger oder gar nicht auf die Bewertungen oder Einstellungen des fraglichen Subjekts ankommt, was ein Gut ist, sondern darauf, ob es intersubjektiv gültige Gründe gibt, eine Tätigkeit als wertvoll zu betrachten. Es geht also darum, ob es Gründe gibt, die nicht nur das betreffende Subjekt, sondern alle vernünftig denkenden Subjekte – oder zumindest eine gewisse Gemeinschaft vernünftiger Subjekte – überzeugend finden.
In einem ganz anderen Sinne können aber alle drei Theorien als „objektiv“ – oder genauer: als Theorien mit einem intersubjektiven Gültigkeitsanspruch betrachtet werden – und insofern ist immer genau darauf zu achten, was damit gemeint ist, wenn jemand vergleichsweise unscharf behauptet, die Frage nach dem guten Leben sei „subjektiv“. Alle drei Theorien des guten Lebens können als objektiv betrachtet werden, insofern sie die Bedingungen angeben, unter denen eine Person als glücklich anzusehen ist bzw. ihr Leben als gelungen zu gelten hat, nämlich wenn sie Lust maximiert, ihre Wünsche erfüllt oder bestimmte Güter besitzt. Es gibt in der Philosophie keine Theorie des guten Lebens, die behaupten würde, jede beliebige Lebensform könne als ein gutes Leben gelten, solange eine Person dies von ihrem eigenen Leben behauptet. Es gibt keine philosophische Theorie, die besagt, dass jeder als ein gutes Leben ansehen könne, was er will. Das wäre ein Plädoyer für völlige Beliebigkeit und wer will so eine Position vertreten angesichts dessen, dass bereits unsere Alltagsintuition uns schon sagt, dass es Menschen gibt, deren Leben oder zumindest einzelne Phasen ihres Lebens wir einhellig als verfehlt, misslungen oder gescheitert bezeichnen würden – so schwer dies auch in allgemeinen theoretischen Begriffen zu formulieren sein mag. Wenn es keinen allgemeinen Begriff – wie Lust, Wunsch oder Güter – geben würde, mit dem Menschen beurteilen können, ob ihr Leben oder einzelne Lebensphasen gelungen sind oder nicht oder ob ihr Leben im Großen und Ganzen ein gutes war oder nicht, wäre „das gute Leben“ nicht theoriefähig. Dann wäre es nicht möglich, darüber (bildungs-)philosophisch zu sprechen. Alle Theorien des guten Lebens behaupten aber, dass es solche allgemeinen Kategorien gibt, mit denen wir unser Leben und das Leben von anderen faktisch beurteilen. Und mehr noch: sie behaupten normativ, dass es allgemeine Begriffe gibt, mit denen wir unser Leben und das Leben anderer beurteilen sollten. Wie wir bislang kennengelernt haben, sind diese allgemeinen Begriffe Lust, Wunsch und Güter.
Relevanz für die pädagogische Arbeit
Für die pädagogische Arbeit ist die Frage nach der Beurteilung des Lebens anderer (Jaeggi 2014) hoch relevant. Denn in der Sozialpädagogik müssen wir oft Menschen Empfehlungen machen, wie sie ihr Leben zu führen haben oder sie aufklären, was falsch in ihrem Leben läuft. So empfehlen wir vielleicht, dass Eltern mehr mit ihren Kindern spielen oder etwas mit ihnen unternehmen sollen und verurteilen es, wenn sie die Kinder lediglich mit Computerspielen allein lassen. Wir müssen in der Sozialpädagogik auch aktiv Lebensverhältnisse gestalten, etwa den Sozialraum in der Gemeinwesenarbeit, die Freizeitangebote im Stadtteil- oder Jugendzentrum und die Tages- und Wochenstruktur des Alltags in der Heimerziehung. Nach welchen Kriterien oder Prinzipien wählen wir dann Freizeitangebote aus? Nach welchen Kriterien oder Prinzipien gestalten wir das, was man in einem Stadtteil- oder Jugendzentrum oder in einem Heim tun kann und wie man dort zusammenleben kann? Nach welchen Kriterien oder Prinzipien beraten wir Eltern darin, was gut und was schlecht in ihrer Familie läuft?
Während objektive Gütertheorien bevormundend erscheinen, weil sie zu skizzieren versuchen, was wertvoll ist im Leben, so erscheinen die subjektivistischen Ansätze der Lust- und Wunschtheorie deutlich liberaler. Den subjektivistischen Ansätzen zufolge müssen wir zuförderst die Adressat*innen der Pädagogik selbst fragen, was ihnen Freude bereitet oder was sie sich wünschen.
Kritik an Lusttheorien: Das „gute Leben“ lässt sich nicht auf ein „angenehmes Leben“ reduzieren
Daher erscheinen hedonistische Theorien zunächst recht attraktiv. Es entspricht unserem Ideal moderner, pluraler, liberaler Gesellschaften, dass wir Menschen nicht vorschreiben wollen, wie sie zu leben haben, sofern sie anderen nicht schaden und – entsprechend ihren Möglichkeiten – einen gewissen Beitrag zum Gemeinwohl leisten. Aber schon die Wunschtheorie und das Beispiel des Greenpeace-Aktivisten zeigt: Es gibt mehr, was uns wichtig ist im Leben als Lusterleben, das Angenehme, Glücksgefühle, etc. Das gute Leben ist nicht bloß das angenehme Leben. Eine reine Lusttheorie des guten Lebens wird dem Charakter, dem Wesen des menschlichen Lebens nicht gerecht. Die Theorie ist unvollständig.
Kritik an Wunschtheorien: Adaptive Präferenzbildung
Die Wunschtheorien haben wiederum ein anderes Problem, nämlich das der sogenannten adaptiven Präferenzbildung. Dieses Phänomen ist nicht zuletzt aus gerechtigkeitstheoretischen Erwägungen ein Problem. Unter der Bezeichnung der adaptiven Präferenzbildung verstehen wir das empirische Phänomen, dass sich Präferenzen – also unsere Wünsche, Träume, Ziele, usw. – häufig unter problematischen, in sich fragwürdigen sozialen Bedingungen formieren (Nussbaum 2001; Elster 1983). Andere Bezeichnungen für das Phänomen, die sich in der Literatur etabliert haben, sind: das Problem niedriger Ambitionen, das Problem der Anpassung an erlebtes Elend, das Problem des glücklichen aber „geschundenen Sklaven, gebrochenen Arbeitslosen, hoffnungslosen Armen, gezähmten Hausfrau“ (Sen 1985:11) oder das Saure Trauben-Phänomen (Elster 1983). Mit dem Problem des glücklichen Sklaven ist die Figur des Sklaven gemeint, die unter brutalen Bedingungen ausgebeutet wird, dann aber überaus glücklich ist, weil man ihm auf seinen Wunsch hin die Arbeitspausen verlängert. Mit der Figur der glücklichen Hausfrau wird in der Literatur die Figur einer die entsprechende Ideologie ausfüllenden Frau bezeichnet, deren größter Wunsch im Erwerb der neusten Haushaltsgeräte besteht, um die Hausarbeiten für ihren Mann, der sie gleichzeitig patriarchal unterdrückt und ausbeutet, noch besser erledigen zu können. Gemeinsam ist diesen beiden Kunstfiguren des glücklichen, geschundenen Sklaven und der glücklichen, gezähmten Hausfrau die Beschränktheit ihres Wunschhorizonts. Diese Figuren sind so konstruiert, dass sie zwar unter widrigen Bedingungen leben, sich jedoch nichts anderes als kleine Annehmlichkeiten innerhalb ihrer durch Ausbeutung, Unterdrückung und Missachtung geprägten Existenz vorstellen können. Sie wissen schlicht nicht, was man sich im Leben alles wünschen könnte.
Darüber hinaus gibt es auch das Phänomen, dass man die Dinge, die einem unerreichbar erscheinen, nicht für wünschenswert hält. Man redet sich gewissermaßen ein, dass man das, was man nicht kriegen kann, gar nicht haben will. Paradigmatisch steht dafür die Geschichte von den sauren Trauben. In der berühmten Fabel versucht ein Fuchs an einen hoch hängenden Weinstock ein paar der prallen Trauben zu ergattern, doch er schafft es nicht, so hochzuspringen. Als er bemerkt, dass er von einigen Vögeln bei seinen vergeblichen Versuchen beobachtet wird, die sich über seine Sprungversuche lustig machen, wendet er sich stolz ab und behauptet: „ich will die Trauben ohnehin nicht haben, die sind mir viel zu sauer“. Was er nicht erreichen kann, bewertet er als wertlos. Der Anwendungsbereich zu bildungstheoretischen Problemstellungen in der Sozialpädagogik ist unverkennbar: wie können wir uns sicher sein, dass das, was Menschen, die in widrigen Lebenslagen aufwachsen, sich wünschen oder für ihr Leben entwerfen, nicht bloß Ausdruck der Beschränkung ihres milieubedingt beschränkten Horizonts und damit Ausdruck ihrer beschränkten Autonomie ist?
Wenn es also zutreffend ist, dass der Großteil der Klient*innen und Adressat*innen der Sozialpädagogik unter schlechten gesellschaftlichen Bedingungen lebt, wie können wir uns dann in unserer Arbeit darauf verlassen, sie zu fragen was sie sich wünschen? Denn vielleicht können und trauen sie sich nicht, sich „mehr“ oder „besseres“ zu wünschen, weil sie nicht „mehr“ oder „besseres“ kennengelernt haben oder es ihnen unerreichbar erscheint. Wie aber soll man dieses „Mehr“ oder „Bessere“ konzipieren? Wir kommen damit zu den Theorien objektiv wertvollen Güter.
Beispiel für eine Theorie des „intrinsisch wertvollen Gutes“: Aristotelische Tugendethik nach MacIntyre
Wie können also intrinsisch wertvolle Güter theoretisch konzipiert werden? Was soll das schon sein, etwas intrinsisch Wertvolles? Aristotelische Ansätze des guten Lebens versuchen das zu konzipieren.
Der wohl bedeutendste Aristotelische Ansatz intrinsisch wertvoller Güter stammt von Alasdair MacIntyre (1981). Mit seinem tugendethischen Ansatz beansprucht er, bewerten zu können, was wertvolle Tätigkeiten sind und vor allem, inwiefern welchen Tätigkeiten welche Art von Wert zukommt. Sein Ansatz erlaubt es damit, etwa solche Sätze zu begründen, die wir auch mit unserer Alltagsintuition bilden wie: „Das was Du da tust, ist es doch nicht wert, als dass man sich damit beschäftigt“. Ein vielzitiertes Beispiel ist das Grashalme-Zählen in nicht meditativer Absicht. Wenn wir jemanden sehen, der die Grashalme einer Wiese zählt, einfach nur um zu wissen, wie viele Grashalme sich dort befinden und gleichzeitig nicht die Absicht hat, dies zur Meditation zu nutzen, dann würden wir ihn – oder zumindest die Tätigkeit, die er ausübt, als verrückt oder schräg bezeichnen. Diese Tätigkeit erscheint uns wertlos. Was aber sind wertvolle Tätigkeiten?
Mit Aristoteles unterscheidet MacIntyre zwischen Handeln (nach dem Griechischen prâxis) und Herstellen (nach dem Griechischen poïesis). Poiesis bezeichnet Aktivitäten, die wir für deren Wirkung schätzen, wie die Aktivität des Bauens von Häusern, des Reparierens von Autos oder der Verwaltung und Führung eines Unternehmens. Praxis dagegen bezeichnet Aktivitäten, die wir um ihrer selbst willen schätzen, wie beispielsweise die Wissenschaft, die Künste, die Politik aber auch Spiele, Freundschaft und Familie. Der Unterschied zwischen Handeln und Herstellen ist schwer zu fassen – bei Aristoteles finden sich dazu auch nur wenige Hinweise und so ringen wir noch heute um die Explikation dieser Unterscheidung. MacIntyre verdeutlich sie mit einer weiteren Unterscheidung, nämlich zwischen internalen und externalen Gütern. Praxis strebt nach der Realisierung internaler Güter, Herstellen strebt nach externalen Gütern. Was internale und was externale Güter sind, lässt sich nicht formal exakt bestimmen. Internale Güter sind die Güter, die durch Wissenschaft, Kunst, Politik, Spiel, Freundschaft und Familie verwirklicht werden, es handelt sich um Gemeingüter. Externale Güter sind rivalisierende Güter wie Ressourcen, Geld, Macht, Status und Prestige. Je mehr ich von externalen Gütern habe, desto weniger haben andere davon. Ich kann nur einen hohen Status haben, wenn andere einen niedrigen Status haben. Die internalen Gemeingüter der Praxis dagegen sind unerschöpflich. Selbst wenn ich mich im Wettkampf oder im Wettstreit mit anderen Praktikern befinde, so profitieren doch alle meine „Kolleg*innen“ von meiner Verwirklichung des Gemeinguts. Je authentischer der Schauspieler seine Rolle realisiert oder je mehr die Fußballspielerin über sich hinauswächst und neue Techniken und vor allem neue Standards guten Fußballs entwickelt, desto mehr gewinnt die Schauspielkunst oder der Fußballsport als solcher.
Praxis ist nach MacIntyre (1981:251) eine sozial etablierte, kooperative, selbstzweckliche Tätigkeit des Strebens nach Wertverwirklichung. Bereits der Vollzug dieser Tätigkeit – nicht erst deren Resultat – verwirklicht diese Werte. Daher ist selbst das scheiternde Streben schon Wertverwirklichung. Die Künstlerin oder der Fußballer, die oder der an gemeinschaftlich verbürgten Maßstäben von Praxis scheitert, verwirklicht gerade darin den Wert der Kunst oder des Sports, weil noch die Verfehlung ihren Maßstab in einer vielleicht neuen Variante exemplifiziert und verfeinert.
Herstellende Tätigkeiten dagegen sind keine Wertverwirklichung. Deswegen sind sie aber nicht weniger wichtig in unserem Leben. Häuser, Transportmittel und Wirtschaftsunternehmen zu erschaffen und in Betrieb zu halten ist ja nützlich. Aber herstellende Tätigkeiten haben keinen Wert an sich. Sie haben keinen intrinsischen Wert. Die Tätigkeiten sind austauschbar. Wir würden auf die Ausführung bestimmter Tätigkeiten verzichten, wenn es andere, eben effektivere Möglichkeiten gäbe, an Ressourcen, Geld, Macht, Status und Prestige heranzukommen. Wir versuchen ständig, diese Tätigkeiten effektiver zu machen, um mit weniger Aufwand bessere Häuser, zuverlässigere Autos und ertragreichere Unternehmen herzustellen. Praxen dagegen haben einen intrinsischen Wert. Wir schätzen ihre Güter nicht nur äußerer Zwecke willen, sondern auch und vor allem um ihrer selbst willen. Und mehr noch: Praxen haben eine besondere moralische Relevanz. Weil bereits der Vollzug von Praxis Wertverwirklichung ist, erfordert und ermöglicht Praxis von den Beteiligten die Ausbildung und Verfeinerung bestimmter personaler Vermögen und Fähigkeiten, die wir als Vervollkommnung des Menschseins schätzen.
Konsequenzen der Tugendethik für die Kulturelle Jugendbildung
Was bedeutet nun diese Sichtweise auf intrinsisch wertvolle Güter für die Kulturelle Jugendbildung? Kulturelle Bildung steht offensichtlich der Praxis näher als der Poiesis. Die Kulturelle Bildung dürfte daher einer der wenigen Bereiche sein, in denen Kinder und Jugendliche die Selbstzwecklichkeit wertvollen Tuns in ihrer Reinform erfahren können, also das, was uns als Menschen ausmacht – folgt man der aristotelischen, tugendethischen Theorietradition.
Daraus ergibt sich für die Pädagog*innen in der Kulturellen Bildung eine große Verantwortung. Sie sind gewissermaßen die Hüter*innen des Wertvollen, die Kinder und Jugendliche befähigen, exemplarisch in der Kunst das zu erfahren, was wir im Idealfall in sämtlichen Bereichen unseres Lebens erfahren wollen und wie wir im Idealfall unser Leben führen sollten: Wir sollten dieser Theorietradition zufolge unser Leben nicht mit der Einstellung und in der Haltung führen, alles möglichst effizient zu machen, sondern in einer Haltung, wertvolle Dinge zu tun, und diese Dinge auf eine gute, exzellente Weise zu tun.
Wenn ich das Motto der Förderlinie aufgreifen darf: Wir fördern und machen Kultur nicht, weil sie stark macht. Viele Dinge machen stark, z.B. Hanteltraining im Fitnessstudio, Prügeleien auf dem Schulhof oder Machtausübung als Schülersprecher*in in der Schüler*innenvertretung. Es kommt nicht bloß darauf an, dass man stark ist, sondern, dass man auf eine vernünftige Weise und zu vernünftigen Zwecken stark ist. Wir fördern und machen Kultur, weil sie auf eine gute Weise stark macht, nämlich das stärkt, was uns als Menschen, als Kulturwesen ausmacht. Kulturelle Bildung stärkt in erster Linie unsere Menschlichkeit. Natürlich macht Kultur auch instrumentell stark für andere Bereiche des Lebens jenseits von „Kultur“, etwa für Schule, Ausbildung und Arbeit. Aber nicht nur. Kultur macht nicht nur stark für das Leben, sondern: Kultur ist das Leben. Kulturschaffend zu sein, ist eine gute Art und Weise, sein Leben auf eine wirklich menschliche Weise zu leben, und nicht bloß in unserer tierischen Existenz als Arbeitstier, Gewohnheitstier, triebgesteuertes Tier. Kultur bezieht seinen Wert nicht daher, dass es für etwas anderes stark macht, sondern dass sie uns zu starken Menschen macht.
Für Pädagog*innen der Kulturellen Bildung bedeutet dies, die Jugendlichen zu fordern und mit hohen Ansprüchen zu konfrontieren. Das redet nicht der sogenannten Hochkultur das Wort. Vielmehr geht es darum, dass auch in subkulturellen Praktiken wie HipHop oder Graffiti Maßstäbe der Perfektion und Exzellenz erkannt, entdeckt und weiterentwickelt werden. Und Pädagog*innen hätten Kinder und Jugendliche zu motivieren, sich in solche anspruchsvollen Praktiken einzuüben und nicht zu früh aufzugeben, auch dann nicht, wenn sich nicht sogleich ein Lustgewinn einstellt. Denn gutes Graffiti oder guten HipHop zu produzieren ist anstrengend. Dazu müssen dann aber Pädagog*innen den Funken der Begeisterung für anspruchsvolle, wertvolle Praktiken etwa der Gestaltung oder des Gesangs, des Tanzes und der Dichtung überspringen lassen, damit die Kinder und Jugendlichen eine Ahnung bekommen von der Kulturellen Welt, die sie erwartet, die sie sich vielleicht nicht einmal zu wünschen erträumt haben.
Letztlich benötigen wir aber wohl für die Kulturelle Bildung wie auch für ein gutes Leben alle drei Aspekte: authentische Freuden, autonome Wünsche und wertvolle Güter. Und so benötigen wir als Sozialpädagog*innen in der Kulturellen Bildung eine Vorstellung von den subjektiven und objektiven Aspekten des guten Lebens. Mit Susan Wolf können wir sagen, um ein gutes Leben handelt es sich erst dann „wenn subjektive Anziehung mit objektiver Attraktivität zusammentrifft“ (Wolf 1997), im Englischen: when subjective attraction meets objective attractiveness (Wolf 2014). Mit anderen Worten: wir brauchen vielleicht hin und wieder (lustvolles) Empfindungsglück im Augenblick. Manchmal, aber nicht immer mag sich dieses Empfindungsglück auch in den Lebensprojekten (Betzler 2012) einstellen, die wir verfolgen. Von diesen Lebensprojekten erwarten wir vor allem Erfüllungsglück. Wir wollen im Großen und Ganzen erfüllt sein von den Dingen, die wir tun und die uns widerfahren – und zwar von Dingen, die es wert sind, davon erfüllt zu sein.