Vierte Räume in der Kulturellen Bildung zur Vermittlung eines Diversitätsbewusstseins
Abstract
Dieser Beitrag, basierend auf einer Masterarbeit, beschäftigt sich damit, inwiefern Kulturelle Bildungsprojekte das Potenzial haben, ein Diversitätsbewusstsein an die Beteiligten zu vermitteln. Im Speziellen wird der Fokus daraufgelegt, wie sogenannte Vierte Räume mögliche Rahmenbedingungen hierfür schaffen können. Die theoretischen Überlegungen eines Vierten Raumes zur Vermittlung eines Diversitätsbewusstseins fußen auf den beiden Raumkonzepten eines Dritten Raumes von Homi K. Bhabha sowie dem aus der Architektur entsprungenen Vier-Räume-Modell von Henrik Jochumsen, Dorte Skot-Hansen und Casper Hvenegaard-Rasmussen. Ein Vierter Raum stellt dabei das Zusammenspiel folgender vier Teilräume dar: Treffpunkt, Lernraum, Inspirationsraum, Performativer Raum.
Zwei Kulturelle Bildungsprojekte, ein internationales Tanzcamp und ein Jugendprojekt, das Pop-up-Räume zum Thema Intersektionalität entwirft, bildeten mit qualitativen Interviews die Untersuchungsgegenstände der Studie. Die Projekte handeln im Spannungsfeld zwischen Gleichheit und Differenz, indem sie eine Offenheit für Kommunikation, Kritik und Unsicherheiten etablieren, eine positive Lernatmosphäre schaffen sowie kreativ und kritisch Neues lernen und Gewohntes reflektieren. Die Ergebnisse zeigen, dass der Vierte Raum als Planungs- und Reflexionstool in Kulturellen Bildungsprojekten eingesetzt werden kann, die das Ziel haben, diversitätsbewusst zu handeln und ein Bewusstsein für Vielfalt – die Chancen und Herausforderungen – bei Leitenden sowie bei Teilnehmenden zu schaffen.
Studiendesign:
Zwei Praxisprojekte der Kulturellen Bildung im Bereich Diversität leben und reflektieren
Ziel war es, in zwei Praxisprojekten, dem internationalen Tanzcamp Passagen und dem Pop-up-Raum Projekt Intersektionale Jugendlabore im Veedel (iJuLa), nach Zielen und Ansprüchen, Strukturen, Strategien, Arbeitsweisen und bewusst eingesetzten Methoden, Rollenverständnissen/Machtverhältnissen, der Herstellung von und dem Umgang mit Differenz, Haltungen, Erkenntnissen, Begriffsverständnissen und -verwendungen zu fragen und die daraus hervorgehenden Erkenntnisse anhand der theoretischen Überlegungen zu diskutieren.
Auschlaggebende Faktoren für die Auswahl der Projekte waren einerseits Förderungen bzw. Auszeichnungen der Projekte für mit Diversität verbundenen Themen wie Toleranz, Demokratie und dem Einsatz gegen Diskriminierung und Extremismus und andererseits die Projektankündigungen und Beschreibungen, aus denen sich die Beschäftigung und der Einsatz für ein Diversitätsbewusstsein im Sinne eines Spannungsfeldes zwischen Anerkennung von Differenzen und kritischer Reflexion konstruierter Machtasymmetrien als Ziel herauslesen ließ. Außerdem wurde darauf Wert gelegt, dass die acht Befragten in den qualitativen Interviews verschiedene Rollen in den Projekten innehaben und auf unterschiedlichen Hierarchieebenen stehen, um die Projekte aus unterschiedlichen Blickwinkeln beleuchten zu können.
Tanztheaterprojekt Passagen: Seit 2013 finden jährlich zweiwöchige Camps statt, in denen das offene Tanzensemble Ohne Stimme (bestehend aus Jugendlichen u.a. aus Deutschland, Frankreich, Rumänien, Bosnien, Spanien) zusammenlebt und in Tanz- sowie inhaltlichen Workshops an gesellschaftlich relevanten Themen wie Flucht, und Migration (2018), Minderheiten wie Sinti und Roma (2016) oder Europäische Dominanzkultur, Umwelt/Nachhaltigkeit, Kapitalismus und Kolonialismus (2020) arbeitet. Das vom Dekanat Saarbrücken initiierte Projekt möchte „all jenen, die in der Geschichte Europas stumm bleiben mussten und denjenigen, die auch heute nicht gehört werden (wollen) eine Stimme“ geben (Dekanat Saarbrücken 2020).
„Wichtige Grundgedanken des Projekts sind es, einen Ort der interkulturellen Begegnung zu kreieren, der europäischen Vergangenheit zu gedenken, die Gegenwart kritisch zu reflektieren und für eine gemeinsame europäische Zukunft zu begeistern. Dabei dient urbaner Tanz als Medium und als universelle Sprache, die Menschen über Ländergrenzen und sprachliche Barrieren hinweg verbindet“ (ebd.).
Intersektionale Jugendlabore im Veedel (iJuLa): Das vom kulturpädagogischen Verein Roots & Routes durchgeführte Projekt entwirft 2020 bis 2024 Pop-up-Räume zu Themen wie sexueller und geschlechtlicher Vielfalt sowie Rassismus in verschiedenen Kölner Stadtteilen, wobei auch im Sinne eines intersektionalen Ansatzes das Zusammenspiel verschiedener Diskriminierungsformen untersucht werden soll (ROOTS & ROUTES Cologne e. V. o. J.b). Jugendliche von 16 bis 27 Jahren werden die Räume gestalten und umsetzen. Der Verein gibt in der Selbstbeschreibung an, sich u.a. für kulturelle Vielfalt, eine „offene, inklusive Gesellschaft, für den Abbau von Diskriminierung und für Zugang aller Menschen zum kulturellen und künstlerischen Leben“ (ROOTS & ROUTES Cologne e. V o.J.a) einzusetzen. Das Modellprojekt ist Teil des Förderprogramms Demokratie leben im Handlungsfeld Vielfaltgestaltung im Themenfeld Homosexuellen- und Trans*feindlichkeit.
Diversitätsbewusstsein als Spannungsfeld:
Zwischen Gleichheit und Differenz, Anerkennung und Nicht-Duldung in Kulturellen Bildungsprojekten
Diversitätsbewusstsein lässt sich als ein Spannungsfeld zwischen Anerkennung und Wertschätzung von Differenzen in Form von individuellen Identitätsfaktoren, Lebensrealitäten, Wissen und Erfahrungen einerseits und einem deutlichen Positionieren und Handeln gegen Kategorisierungen und Diskriminierung von Menschen andererseits definieren (vgl. Wagner 2012:33). Das Ziel einer DiKuBi (diversitätsbewussten Kulturellen Bildung) ist es, ein Bewusstsein für die Konstruktion von Differenzen zu schaffen, um genau in diesem Spannungsfeld handeln zu können. Welche konkreten Merkmale zeichnen das Agieren in diesem Spannungsfeld aus und bilden somit Anhaltspunkte für notwendige Rahmenbedingungen für die Vermittlung eines Diversitätsbewusstseins?
Eine der grundlegendsten Voraussetzungen scheint, dass sich alle Beteiligten als Lernende begreifen (vgl. Winkelmann 2014:24) und die Bereitschaft besteht, sich aktiv mit Diversitätsfragen auseinanderzusetzen (vgl. auf kubi-online: Stoffers/Schütze/Merkt 2016). Sich selbst und seine Handlungen, die eigene Position im gesellschaftlichen Machtgefüge kritisch zu reflektieren, erlernte Selbstverständlichkeiten und Normen zu hinterfragen, ist Teil der stellenweise unbequemen Erkenntnis- und Veränderungsprozesse (vgl. Micossé-Aikins/Sharifi 2017:17f.; Winkelmann 2014:17-19, 36). Eigene Wissenslücken werden aufgedeckt und Machtumverteilungen finden gegebenenfalls statt (vgl. Micossé-Aikins/Sharifi 2017:18; Winkelmann 2014:28f.). Hierfür muss ein offener, transparenter Umgang mit Schwierigkeiten im Projekt herrschen, damit keine Hemmungen bestehen, Schwierigkeiten offen zu kommunizieren (vgl. Winkelmann 2014:28f.). Dies bildet einen großen Bestandteil einer Ergebnis- und Prozessoffenheit (vgl. ebd.:30), in der Flexibilität für Dynamiken gegeben ist (vgl. ebd.:29), Interessens- und Bedürfnisbekundungen anerkannt werden (vgl. ebd.:34) und ein konstruktiver, offener Umgang mit Fehlern herrscht (vgl. Micossé- Aikins/Sharifi 2017:18). Statt eine Richtig-Falsch-Dichotomie zu verfolgen, gilt es vielmehr ein Sowohl-Als-Auch zu erlernen (vgl. Stoffers/Schütze/Merkt 2016).
Projekte sind von beiden Seiten – Teilnehmenden und Leitenden – gemeinsam und auf Augenhöhe zu gestalten. Dies meint grundlegend zunächst keine Reduzierung bestimmter Beteiligter auf Diversitätsmerkmale (u.a. entlang der sechs Diversity-Kerndimensionen der EU-Grundrechtcharta), einzelne Wissensarchive oder Tokenism, sondern eine aktive, selbstbestimmte Gestaltung der Teilnehmenden (vgl. Winkelmann 2014:27; Stoffers/Schütze/Merkt 2016).
Zusammenfassend lassen sich die dargelegten Anforderungen an ein diversitätsbewusstes Projekt und diversitätsbewusst denkende und handelnde Akteur*innen mit dem von Gayatri Spivak geprägten Begriff des Verlernens. Verlernen meint dabei die „aktive Auseinandersetzung mit gelernten Selbstverständnissen, Privilegien, hegemonialen Deutungsmachten und historisch gewachsenen Machtstrukturen ˗ hin zu einer Verantwortungsübernahme." (Nising/Mörsch 2018:144) Privilegien, d.h. durch gesellschaftliche Machtverhältnisse entstehende Handlungsspielräume markieren Verluste, also eine “Begrenzung der eigenen Perspektive” (Heinemann, Castro Varela 2017:31). Das Verständnis für andere Lebensrealitäten wird eingeschränkt, weshalb es umso dringlicher ist, kommunikationsbereit zu sein und Konflikte als Lernchance zu begreifen. Unterschiedliche Zugänge und Perspektiven in einem Projekt sind somit gute Voraussetzungen, um Vorannahmen und Selbstverständnisse zu hinterfragen (vgl. Büro trafo.K 2016:172). Nora Sternfeld sieht Verlernen als Teil einer gelungenen Kulturvermittlung an. Sie stellt die Wichtigkeit von dekonstruktiven Momenten in Wissensverhältnissen und -produktionen heraus, die das Potenzial von Kulturvermittlung ausmache, zukünftig Raum für Uneinigkeit, Auseinandersetzung, Dialog und Unerwartetem zu eröffnen (vgl. Sternfeld 2014:9f.).
Der Vierte Raum:
Vom Dritten Raum über die Erweiterung mit der Vier-Räume-Theorie hin zu einem diversitätsbewusstseinsvermittelnden Vierten Raum
Diversität und Homi K. Bhabhas Dritter Raum werden immer wieder zusammengedacht. Als postkoloniale Theorie bietet Bhabhas Dritter Raum, in dem sich hybride Subjekte in ihrer Minderheitendifferenz auf Augenhöhe begegnen und miteinander in Verhandlungen treten, die Möglichkeit, Binaritäten (von Bedeutungen, Subjekten, Kulturen) aufzubrechen. Als selbstverständlich Geglaubtes wird reflektiert und zusammen Neues geschaffen. Die so entstehenden Freiräume in der Begegnung miteinander haben subversives Potenzial (vgl. Bhabha/Wieselberg 2007:10f.; Babka/Posselt 2012, 2016:9). Da Bhabhas Dritter Raum mit diesen Charakteristika zwar erste Ansatzpunkte liefert, ein Raum zu sein, in dem somit ein Bewusstsein für Diversität vermittelt werden kann, jedoch u.a. durch seine Historizität wenig Praxisbezug zur Kulturellen Bildung hat, wird er für die Praxisstudie durch die Vier-Räume-Theorie von Henrik Jochumsen, Dorte Skot-Hansen und Casper Hvenegaard-Rasmussen ergänzt.
Wie kann ein Dritter Raum in der Kulturellen Bildungspraxis aussehen und inwiefern kann er einen Beitrag zur DiKuBi-Praxis leisten? Die Vier-Räume-Theorie von Jochumsen et al. als ein kontextfremdes Raummodell konzipiert vier (Teil-)Räume (Treffpunkt, Lernraum, Inspirationsraum, Performativer Raum) zur Bibliotheksgestaltung und liefert somit im Gegensatz zu Bhabhas abstrakt mentalem Dritten Raum ein konkretes Tool für die Gestaltung physischer Bildungsräume. Obwohl hier kaum ein direkter Bezug zu Diversität erkennbar ist, scheinen zahlreiche Anknüpfpunkte und sinnvolle Ergänzungen für die Kulturelle Bildung vorhanden zu sein, sodass Bhabhas Dritter Raum – wie in der folgenden theoretischen Herleitung begründet – in der DiKuBi-Praxis als Vierter Raum verstanden werden kann. Die Vier-Räume-Theorie beschreibt vier Räume, die in einem Zusammenspiel miteinander zu den Zielen Beteiligung, Empowerment, Erlebnis und Innovation führen sollen und somit eine zukunftsorientierte Bibliothek strukturieren sollen (vgl. Jochumsen et al. 2014:70). Trotz des gänzlich anderen Kontextes und keinem verankerten Fokus auf Diversität lassen sich Schnittstellen zu Bhabhas Modell und einer DiKuBi ziehen. So spielen Begegnung diverser oder mit Bhabhas Worten von Differenz geprägten Subjekten mit verschieden Meinungen, Interessen und Erfahrungen und Diskussion bzw. Verhandlungen eine Rolle. Sie befinden sich in gegenseitigen und andauernden (Ver-)Lernprozessen. Die Vier-Räume-Theorie bringt zusätzlich Erlebnis und Performativität im Sinne von künstlerischem Ausdruck mit ein, was eine Brücke zur Kulturellen Bildung schlägt. Das kombinierte Modell des Vierten Raums, der Dritte Raum Bhabhas mit den Ergänzungen und der Operationalisierung durch die Vier-Räume-Theorie, bilden die Ausgangslage für die empirische Studie.
Treffpunkt und Begegnungsraum
Der Treffpunkt als Begegnungsraum von Menschen gemeinsamer sowie unterschiedlicher Werte, Interessen und Wissensordnungen bietet Möglichkeit zum Austausch und zur kritischen Diskussion, u.a. von divergierenden Meinungen. Gesellschaftlich hervorgebrachte Grenzen und Unterscheidungen sollen einer generationenübergreifenden, herkunfts- und kulturunabhängigen Begegnung nicht im Wege stehen, womit sich das Modell auf Ray Oldenburgs Dritten Ort bezieht. Es wird versucht, Barrieren so gering wie möglich zu halten, um offenen Zugang für die Öffentlichkeit zu ermöglichen. Kommunikation und Austausch bilden die Hauptaktivität des Treffpunktes, der durch zufällige und unverbindliche Begegnungen mit einer beliebigen Verweildauer genau wie organisierte Zusammenkünfte entsteht. Die Hauptziele des Treffpunkts sind Empowerment und Beteiligung. (vgl. Jochumsen et al. 2014:74f.)
Der Treffpunkt in Bhabhas Theorie: Bhabha geht wie auch der Treffpunkt von einem Aufeinandertreffen unterschiedlicher in ihrer Minderheitendifferenz geprägten Subjekte mit teils gemeinsamen, teils differenten Identitätsfaktoren, Erfahrungen und Wissenshintergründen aus. Die Subjekte als materielle Ansammlung „ihres“ Wissens lassen somit in der Begegnung auch verschiedene hybride Kulturen mit ihren jeweilig generierten Bedeutungen aufeinandertreffen. Diese kulturelle Differenz, die Grenzen entstehen lässt, ebnet den Weg für Begegnungen im Dazwischen, in dem Verhandlungen stattfinden können (vgl. Müller-Funk 2012, 2016:80). Es handelt sich um einen Raum, der prinzipiell offen für jede*n ist und in dem die Leute ungeachtet ihrer selbstgewählten oder fremdzugeschriebenen Zugehörigkeiten zu vorgenommenen konstruierten Kategorisierungen in der Gesellschaft und damit einhergehendem Wissen willkommen geheißen werden. In Bhabhas Drittem Raum ist v.a. die Augenhöhe der sich begegnenden Subjekte (durch eine Perspektive der Minderheitendifferenz) von großer Bedeutung (vgl. Sieber 2012:107), während der Treffpunkt lediglich das Zusammenkommen der teils gleichen, teils sich unterscheidenden Subjekte betont. Allerdings ist die Hauptaktivität in beiden Räumen Austausch, Diskussion und Verhandlung, die im Treffpunkt durch aktive Beteiligung zu empowernden Momenten führen kann. Der Dritte Raum eröffnet darüber hinaus das Potenzial zu Machtumkehrungen zugunsten der Subalternen (vgl. Bhabha/Wieselberg 2007; Babka/Posselt 2012, 2016:9). In Folge des Zusammendenkens der beiden Modelle wird der untersuchte Teilraum als Begegnungsraum bezeichnet.
Lernraum
Im Lernraum soll durch einen dialog- und erlebnisorientierten Prozess, durch interaktives Spiel und künstlerische Aktivität, ein barrierearmer Zugang zu Wissen und Erfahrungen eröffnet werden. Informationen und Wissen sollen dafür frei zugänglich verfügbar gemacht werden, sodass die Lernenden nach ihren individuellen Lernbedürfnissen das Material erkunden können. Aus dem Kontext der Bibliothek wird auch betont, dass ein physischer, haptischer Ansatz und aktive Vermittlungsstrategien das Interesse und den Lernprozess fördern können. Die Ziele des Lernraums sind es, Empowerment und Erlebnis zu schaffen. (vgl. Jochumsen et al. 2014:70, 73f.)
Der Lernraum in Bhabhas Theorie: Die Vier-Räume-Theorie geht zunächst von Lernprozessen aus, in denen sich neues Wissen angeeignet wird. Bhabhas Dritter Raum zeichnet sich v.a. durch das kritische Hinterfragen etablierter Machtverhältnisse aus (vgl. Babka/Posselt 2012, 2016:9). Das erlernte Wissen wird vor dem Hintergrund der eigenen Perspektive reflektiert. Somit spielt in beiden Theorien das Aneignen neuen bzw. anderen Wissens eine tragende Rolle, wobei Bhabhas Theorie gleichzeitig das Lernen über die dahinterstehenden Strukturen als essenziellen Teil der eigenen Horizonterweiterung betont (vgl. Babka/Posselt 2012, 2016:12; Castro Varela/Dhawan 2015:249). Jochumsen et al. machen genau wie Bhabha Interaktion, Dialog bzw. Verhandlung als wichtige Faktoren für die Lernprozesse aus, denn so erfolgt eine Auseinandersetzung mit anderen Perspektiven, die die eigene als Ergänzung bereichern und/oder relativieren können. Dies kann in beiden Fällen zu einem Verlernen führen. Versucht Mensch den Lernraum der Vier-Räume-Theorie mit Bhabhas Dritten Raum im Kontext einer DiKuBi-Praxis zusammenzubringen, so bietet sich an, den Lernraum auch als (Ver-)Lernraum zu betrachten, um den Erwerb neuen Wissens und neuer Perspektiven im klassischen Sinne sowie den darin zu integrierenden kritischen Reflexionsansatz der Wissensgenerierung und der Verortung eines Selbst darin mitzubenennen.
Inspirationsraum
Im Inspirationsraum geht es um die Möglichkeit, Erfahrungen zu machen, die die eigenen Sichtweisen verändern. Einlassen auf Neues bei gleichzeitigem Verlassen des Vertrauten und Normalisierten findet hier durch Irrationales, Emotionales, Chaotisches und eine Vielfalt ästhetischer Erfahrungen statt. Als Schlussfolgerung einer heutigen Erlebnisgesellschaft und Erlebnisökonomie geht es ebenso darum, durch verschiedene mediale und künstlerische Ausdrucksformen Erlebnisse für die Subjekte im Vierten Raum zu erzeugen. Innovation und Erlebnis sind anzustrebende Ziele. (vgl. Jochumsen et al. 2014:71f) Innovation in der Kulturellen Bildung bedeutet Weiter- und Neuentwicklung der Angebote, Formate, Projekte, Methoden, Kooperationen und Organisationsstrukturen, um gesellschaftlichen Entwicklungen und Zukunftsansprüchen gerecht zu werden und kulturelle Teilhabe zu ermöglichen (vgl. auf kubi-online: Groppe 2013/2012; Lauterbach-Dannenberg 2019). In ihrem Kontrast zu „Gebräuchlichem, Herkömmlichen, Gewohnten, Bekannten, Begriffenen, Bewährten“ (Koch 2014:106) ist sie als Diskontinuität wahrnehmbar (vgl. Koch 2014:122f.).
Der Inspirationsraum in Bhabhas Theorie: Wie im Inspirationsraum taucht auch bei Bhabha das Neue auf, das als Hybridität im Dritten Raum entsteht. Dabei bildet das Hybride etwas eigenständig Neues, das über die Fusion zweier nicht klar voneinander separierbarer Ausgangspunkte hinausgeht. Der Dritte Raum ist etwas im Dazwischen, etwas das einen Bedeutungsspielraum eröffnet. In diesem ist Platz für Verhandlungen, durch die neue Perspektiven eröffnet werden und bisher konstruiertes und normalisiertes Wissen hinterfragt und subversiert wird (vgl. Bhabha/Wieselberg 2007; Babka/Posselt 2012, 2016:9) Somit lässt sich im Vergleich der beiden Theorien festhalten, dass die Bereitschaft, sich auf Neues einzulassen und dabei die eigene Perspektive zu relativieren und zu erweitern von den Subjekten im Dritten und im Vierten Raum abverlangt wird. Der Inspirationsraum geht zudem von Ausdruck durch Kunst sowie gefühlsvollen, intuitiven und irrationalen Momenten aus, die einerseits die Veränderung von Sichtweisen befördern können und andererseits im Sinne einer Erlebnisgesellschaft Begeisterung und Aufmerksamkeit bei den Beteiligten erwecken können. Bhabhas Dritter Raum scheint dazu im Vergleich durch eine eher ernste Atmosphäre gekennzeichnet, was sicherlich nicht zuletzt mit den unterschiedlichen Kontexten der Theorien zusammenhängt (Kolonialismus und Moderne Freizeitgestaltung). Die Bereitschaft für Transformationen durch neue Impulse spielt, wie u.a. an dem Konzept des Verlernens erläutert wurde, genauso wie künstlerischer Ausdruck, gemeinsame Verhandlung, Reflexion und Neuentwicklung in der DiKuBi ebenfalls eine große Rolle.
Performativer Raum
Im Performativen Raum steht durch Beteiligung und Innovation die Interaktion der Nutzer*innen im Vordergrund, das gemeinsame Schaffen künstlerischer Ausdrucksformen und die Vermittlung der eigenen Arbeiten und Produkte durch verschieden zu denkende Bühnen. Als Unterstützung wird den Nutzer*innen Zugang zu verschiedenem Werkzeug für ihr eigenes kreatives Handeln an die Hand gegeben. (vgl. Jochumsen et al. 2014:75-77)
Der Performative Raum in Bhabhas Theorie: Die Vier-Räume-Theorie scheint Performativität v.a. im künstlerisch theatralischen Sinne zu sehen, d.h. in einem öffentlich wahrnehmbaren und intendierten Aufführungskontext. Bhabha stellt keinen ausdrücklichen Bezug zu einer so verstanden Performativität her. Vielmehr lässt sich bei ihm Performativität, wie sie in der Kulturphilosophie und -theorie seit den 90ern verstanden wird, wiederfinden. Bhabhas Kulturverständnis ist ein bedeutungsorientiertes, in dem Kulturen als Zusammenhang und Überlagerung von Zeichen und deren zugeschriebener, hervorgebrachter Bedeutung sind. Die bestehenden Bedeutungen im Dritten Raum zu hinterfragen und neue in einem Verhandlungsprozess zu generieren, ist somit ein performativer Prozess. Bhabhas Theorie lässt sich auch anschließen an Performativität im körperlichen Sinne (d.h. Judith Butlers Definition von Performativität), denn beide Theorien gehen nicht von schon vorher bestehenden Identitäten aus, sondern beschreiben Identität und die Materialität des Körpers als veränderliches wirklichkeitskonstituierendes Konstrukt, das erst durch bestimmte Handlungen hervorgebracht wird. In Kulturellen Bildungsprozessen setzen sich Individuen mit sich selbst, der Gesellschaft und der Umwelt durch und in den Künsten auseinander (vgl. Ermert 2009). Folglich spielt der performative Raum in Kulturellen Bildungsprojekten eine besondere Rolle, denn das Medium der Kunst und performativen Hervorbringung von künstlerischen Produkten wir als Bildungspotenzial gesehen und insofern genutzt. Kulturelle Bildung ist einerseits selbst performativ und anderseits beschäftigt sie sich damit, wie Wirklichkeit in der Gesellschaft durch sprachliche und körperliche Handlungen hervorgebracht wird.
Studienergebnisse – Zur Vermittlung eines Diversitätsbewusstseins in den vier (Teil-)Räumen
Dieser Abschnitt stellt die Studienergebnisse vor und beantwortet folgende Untersuchungsfragen: Welche (Teil-)Räume werden an welchen Stellen, von welchen Akteur*innen, und mit welchen Zielen eröffnet? Mit welchen methodischen Ansätzen erfolgt die Vermittlung eines Diversitätsbewusstseins? Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass alle vier Räume in den beiden untersuchten Projekten eröffnet wurden. Für eine detailliertere Analyse der einzelnen Projekte sowie eine daraus resultierende zusammenfassende Auflistung der wesentlichen Merkmale eines diversitätsbewusstseinsvermittelnden Vierten Raumes in der Kulturellen Bildung verweise ich an dieser Stelle auf die beigefügte vollständige Masterarbeit.
Niedrigschwelliger Begegnungsraum:
Aktive Beteiligung, Aushandeln von Machtverhältnissen und demokratische Entscheidungsfindung
Der Begegnungsraum entsteht in den Projekten durch das Zusammentreffen verschiedener Individuen mit differierenden Lebensrealitäten (bedingt durch u.a. verschiedene Sprachen, Leben in verschiedenen Ländern, Vielfalt an Ausbildungen, sexuelle und geschlechtliche Identitäten). Um dieses Zusammentreffen zu ermöglichen, wurde auf einen niedrigschwelligen Zugang geachtet. Angefangen mit einer breiten Akquisestrategie, die u.a. verschiedene Schulformen und Nationalitäten anspricht (Passagen) über eine kostenfreie- bzw. günstige Teilnahme hin zum Bereitstellen von sogenannten Basiscamps, die den Teilnehmenden von Passagen in der Coronazeit, an zentralen Orten in allen Ländern, einerseits Platz zum Üben, aber auch technisches Equipment wie Laptops zur Teilnahme an den digitalen Workshops zur Verfügung stellten.
Die Individuen, Teilnehmende wie auch Projektleitende, kommen in einen Austausch, lernen ihre Lebensrealitäten, Meinungen, Perspektiven, Wissenshintergründe kennen, treten in kritische Verhandlungen um Bedeutungen. Wie leben wir? Wie fühlen wir uns dabei? Wie wollen wir leben? Wie sieht ein Weg dahin aus? Dies sind Fragen, die sich die Beteiligten beider Projekte mit verschiedenen thematischen Schwerpunkten stellen. Sie reflektieren die Vergangenheit und Gegenwart kritisch und schaffen Gegen- und Zukunftsentwürfe. Dies findet durch aktive Beteiligung der Teilnehmenden statt, im Performativen Raum wie im (Ver-)Lern- und im Inspirationsraum. Der Begegnungsraum eröffnet sich durch vorgegebene, mehr oder weniger strukturierte Formate wie Workshops (verbale inhaltliche Diskussionen über Themen wie Anti-Bias oder Klassismus), Reflexionsrunden über eigene Arbeitsstrukturen (z.B. Awareness-Sitzungen, Plenen) und v.a. im analogen Raum freiere, sich natürlich ergebende Austauschrunden während gemeinsamer Mahlzeiten und Freizeitgestaltung. Auffällig war, dass letzteres von den Leitenden des Passagen-Teams bewusst in die Tagesstruktur eingebaut wird, um informelle, sich an den Bedürfnissen der Teilnehmenden ausrichtenden Kommunikationsmöglichkeiten zu geben. Auch während und durch künstlerische Arbeit wie Tanz, Theater, Performances, Schreiben, Videos findet Begegnung durch Austausch über die künstlerischen Medien statt.
Begegnungsräume entfalten sich an vielen Stellen der Projekte und schon bei dem Versuch, diese zusammenfassend durch Kategorien zu definieren, zeigt sich, dass Stellen wie inhaltliche Erarbeitung oder Reflexion von Arbeitsstrukturen oft miteinander einhergehen. Beide Projekte setzen auf flache Hierarchien zwischen Leitungsteam und Teilnehmenden. Die Rollen sind fließend und das Aushandeln von Machtverhältnissen ist fester Projektbestandteil. Entscheidungen werden demokratisch getroffen. Während sich dies bei Passagen hauptsächlich auf die Gestaltung der Endinszenierung bezieht, geht iJuLa so weit, dass die Teilnehmenden aktiv die grundsätzlichen Projektstrukturen sowie das gesamte interne (für die Teilnehmendengruppe selbst) wie auch externe (für die Öffentlichkeit bestimmte) Programm erarbeiten. Darüber hinaus empowern beide Projekte ihre Teilnehmenden durch die Ermöglichung von Austausch mit anderen Betroffenen z.B. mit Rassismus oder mit Homophobie. Die Teilnehmenden können aktiv Einfluss nehmen und dadurch finden punktuell Machtumverteilungen statt.
(Ver-)Lernraum:
Wissen und Sichtweisen in einem offenen Akzeptanzraum der Prozessorientierung
Wenn nun geschildert wird, an welchen Punkten ein (Ver-)Lernraum entdeckt wurde, wird schnell deutlich, dass Dopplungen zum Begegnungsraum entstehen. Diese Dopplungen, die unter allen vier Teilräumen auftreten, sind ein Indiz dafür, dass sich die Teilräume überlappen und ein synergetischer diversitätsbewusstseinsvermittelnder Vierter Raum aufgespannt wird. In inhaltlichen Workshops und im gemeinsamen Austausch mit (anderen) Betroffenen – intern wie extern mit Gäst*innen – lernen die Akteur*innen zu jeder Zeit voneinander. Sie vermehren ihr inhaltliches Wissen (über Dominanzkultur, über Intersektionalität), ihr künstlerisches Wissen (über Tanz, über Kunst), ihr Wissen über andere Lebensrealitäten und erweitern damit ihre eigene Perspektive. Sie hinterfragen ihre persönlichen Sichtweisen (Anti-Bias) und Arbeitsstrukturen (Awarenessarbeit, Klassismusworkshop, eigenständiger Aufbau von Kuratoriumsstrukturen). Den (Ver-)Lernraum schaffen alle Beteiligten zusammen, denn damit ein (Ver-)Lernen möglich ist, braucht es einen offenen Akzeptanzraum als Rahmen, in dem sich alle frei ausdrücken dürfen, darin ernst genommen werden und in dem Unsicherheiten kommuniziert werden dürfen, ohne verhöhnt und missbilligt zu werden. Die Befragten berichten von einer solch respektvollen Atmosphäre in ihren Projekten.
„Also man fühlt sich sehr wenig unter Druck gesetzt und sehr, sehr gehört und aufgefangen, weswegen wir eben auch irgendwie nicht so viel Druck haben was so Cookies [Arbeitsgruppen, Anm. d. V.] angeht, dass man da mal sagt: ‘Ich habe gerade keine Zeit.' oder ‘Mir ist gerade einfach alles zu viel.' Das wird super offen kommuniziert, einfach weil das Team aus sehr sensiblen Menschen besteht irgendwie, wo das einfach sehr groß und wichtig ist, wie es einem geht und nicht Arbeit oder das Ergebnis im Vordergrund steht.” (Teilnehmende Person iJuLa)
„Die Jugendlichen, die da teilnehmen, die gehören zu ganz vielen verschiedenen Religionen und so eine Plattform zu schaffen, wo alle Religionen willkommen sind, also das Gefühl zu haben: ‚Ja, also ich bin genauso willkommen wie alle anderen.‘ Wir haben einen Moment im Kreis gestanden am Meer in Spanien. [...] Dann war die Idee, dass jeder quasi auf seine Art zeigen konnte, wie jeder in seiner Religion sein Gebet macht. [...] Und ja so das Gefühl zu habe, dass jeder auf seine Art so das Beste für alle Anderen sich wünscht. Super, super selten gibt es noch solche Orte, wo man sich so austauschen kann.” (Leitende Person Passagen)
In beiden Projekten gibt es nicht das eine zu erreichende Ideal oder Endprodukt, sondern der Fokus liegt auf dem Prozess, in dem die individuellen Perspektiven wertgeschätzt werden und verschiedene Wissenszugänge (theoretische Diskussionen sowie praktische künstlerische Auseinandersetzung) geboten werden, um eigene Fragestellungen und Interessensschwerpunkte (individuell wie auch als Gruppe insgesamt) setzen zu können. Zum Wissensaustausch gibt es Angebote wie Einführungen zu bestimmten Themen oder Methoden sowie wiederholte Erklärungen zu bestimmten Begrifflichkeiten.
Inspirationsraum:
Flexible, eigenständige Auseinandersetzung mit dem Unbekannten und Verantwortungsübernahme der Teilnehmenden
Durch das Aufbauen neuer Strukturen – die Methodik und die Gruppenzusammensetzung betreffend (Kuratoriumsstrukturen und damit u.a. eine starke Verantwortungsübertragung an die Teilnehmenden, spontanes Verlegen der Projekte in den digitalen Raum) – und die ständige Reflexion, die Prozessorientierung der Projekte, die Vorhandenes nie zum unhinterfragten Stillstand kommen lässt, öffnet sich ein Inspirationsraum. In gemeinsamen Austausch- und Feedbackrunden beweisen die Projektakteur*innen eine flexible Arbeitsweise, die den Bedürfnissen aller Beteiligten Raum gibt und Projektstrukturen entsprechend anpasst. Die Beteiligten besitzen den Willen, Zeit und Energie darauf zu verwenden, sich mit Unbekanntem auseinanderzusetzen.
„Und ich würde mir total wünschen, dass wir es öfter schaffen, die Energie aufzubringen, nochmal all unsere Muster zu hinterfragen und noch mal alles zu reflektieren. Auch wenn das super anstrengend ist zwischen Uni und Zoom-Meeting dann irgendwie so eine riesen Reflexion anzufangen.” (Teilnehmende Person iJula)
Performativer Raum:
Vielseitige künstlerische Ausdrucksmöglichkeiten und deren öffentliche Präsentation
Zuletzt ist der Performative Raum in beiden Projekten wiederzufinden. Tanzworkshops (Movement-Labs), literarischer Ausdruck, Entwickeln von Theaterszenen, physische Raumgestaltung, Konzeption und Durchführung von künstlerischen Veranstaltungen wie einer Drag Show, Magazinerstellung – die Teilnehmenden können sich vielseitig künstlerisch ausdrücken und den Performativen Raum als alternativen oder erweiterten Zugang zu den anderen drei Teilräumen nutzen. Die Vielfalt an Ideen und Ausdrucksformen wird sichtbar gemacht, indem der jeweils individuelle Ausdruck, die individuellen Stimmen wertgeschätzt werden und Raum bekommen. Keines der Projekte hat ein festgelegtes künstlerisches Produkt oder Ideal, das es gilt zu erreichen. Beide Projekte haben öffentliche Präsentationen in unterschiedlichen Formen, eine Live-Tanztheaterinszenierung bzw. filmische Umsetzungen dieser bei Passagen und die Raumgestaltungen inkl. vielseitigem Programm bei iJuLa. Zur Erarbeitung dieser gibt es künstlerische und inhaltliche Workshops, Expert*innen-Einladungen sowie die Unterstützung durch fachliche Kenntnisse und Ressourcen seitens der Projektleitung.
Verantwortungsreiche Handlungsspielräume der Akteur*innen und explizite Thematisierung von Machtverhältnissen
Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass ein hoher Grad an Beteiligung gegeben ist, durch Wertschätzung der künstlerischen und organisatorischen Expertise der Teilnehmenden und eine dementsprechende Verantwortungsübergabe. Das eigenständige Erarbeiten von Szenen (viel Improvisation), das Entwickeln eigener künstlerischer Konzepte, das Jugendkuratorium mit eigenem Budget, der Einbezug in Konzeptionsphasen oder eigene Verantwortungsbereiche innerhalb der Projektdurchführung) sind u.a. genutzte Methoden, um sich einer Augenhöhe zwischen Leitenden und Teilnehmenden anzunähern. Beide Projekte legen Wert auf flache Hierarchien, auch in dem Bewusstsein, dass diese nicht vollkommen aufhebbar sind. Diese Machtstrukturen und ihre Begründungen offen zu kommunizieren und auszuhandeln, ist ein wesentlicher Bestandteil von iJuLa, finden jedoch keine explizite Erwähnung bei Passagen. Auf gesamtgesellschaftliche Machtverhältnisse über den Projektrahmen hinaus wird themenbedingt (z. B. Europäische Dominanzkultur und Intersektionalität) in beiden Projekten Bezug genommen. Die großen Handlungsspielräume, in denen Leitende als Unterstützer*innen fungieren, rufen bei den Teilnehmenden teilweise ein empowerndes Gefühl hervor.
„ Jede Person aus dem Kuratorium kann zu jeder Zeit sagen: ‚Ich möchte jetzt einen Workshop leiten oder ich möchte Aktionen machen, ich möchte jetzt einen Partyabend machen‘, was weiß ich. ‚Und da werde ich in das nächste Plenum gehen und Gelder [von dem selbst verwalteten Budget, Anm. d. V.] beantragen.” (Teilnehmende Person iJuLa)
Es konnte festgestellt werden, dass diese Art des Lernens über Diversität im Vierten Raum trotz ihrer Mühsamkeit für alle Akteur*innen positive Erlebnisse mit sich bringt.
Fazit: Rahmenbedingungen für die Vermittlung eines Diversitätsbewusstseins durch die Eröffnung Vierter Räume
Für die übergeordnete Fragestellung „Inwiefern werden in Kulturellen Bildungsprojekten durch die Eröffnung Vierter Räume Rahmenbedingungen für die Vermittlung eines Diversitätsbewusstseins geschaffen?“ lässt sich daraus folgendes schließen: Ein Vierter Raum muss nicht in seinem Optimum eröffnet sein, damit die Akteur*innen ein Diversitätsbewusstsein erlangen können. Grundvoraussetzung für die Vermittlung eines Diversitätsbewusstseins ist das Bestreben aller Beteiligten auf einen Vierten Raum hinzuarbeiten, sich auf den anstrengenden, nie endenden Prozess einzulassen. Davon ausgehend sind Softskills wie Kommunikationsoffenheit, Mitteilungsbereitschaft, Reflexionsbereitschaft, Kritikfähigkeit notwendig, um den Arbeitsprozess zu gestalten. Der diversitätsbewusste Vierte Raum mit seinen vier Teilräumen kann als Planungs- und Reflexionstool in der Kulturellen Bildungspraxis dienen, um Rahmenbedingungen für die Vermittlung eines Diversitätsbewusstseins zu schaffen. Mit dem entwickelten Modell des Vierten Raums können Vermittlungsprozesse strukturiert werden, indem unterschiedliche Menschen zusammengebracht werden, verschiedene Wissenszugänge geschaffen werden und durch vielzählige Methoden ein ganzheitliches Diversitätsverständnis entwickelt wird – alles Rahmenbedingungen für die Vermittlung eines Diversitätsbewusstseins. Auch der Erlebnis- und Spaßausgleich zu dem unangenehmen, anstrengenden (Ver-)Lernprozess kann eine hilfreiche Rahmenbedingung für die Diversitätsbewusstseinsvermittlung darstellen, um die Motivation und die Bereitschaft der Akteur*innen beizubehalten. Diversität muss nicht das übergeordnete Projektthema sein, allerdings erfordern diversitätsbewusstseinsvermittelnde Projekte immer, dass die explizite Auseinandersetzung einen der Bestandteile bildet. Da Machtstrukturen unsere ganze Gesellschaft durchziehen, kann behauptet werden, dass sich von allen erdenklichen (zunächst inhaltlich entfernt scheinenden) Thematiken Bezüge zu Diversitätsfragen ziehen lassen.
Der Vierte Raum kann in der Praxis in vielerlei Hinsicht als Planungs- und Reflexionstool in der DiKuBi genutzt werden. Vier mögliche Einsatz- und Forschungsfelder sind:
- Kulturelle Bildungsprojekte können mit dem Vierten Raum Modell bezüglich der Schaffung von Rahmenbedingungen für die Vermittlung von Diversitätsbewusstsein tiefgehend analysiert werden.
- Auf wissenschaftlicher Ebene können Arbeitsfelder herausgestellt und Handlungsempfehlungen entwickelt werden, um die Projekte einerseits diversitätsbewusster zu gestalten und andererseits bessere Rahmenbedingungen für die Vermittlung eines Diversitätsbewusstseins zu schaffen.
- Aus Sicht der DiKuBi-Praxis kann der Vierte Raum als Tool genutzt werden, um als Kulturvermittler*in bzw. als Gesamtprojekt in den Reflexions- und Optimierungsprozess zu gehen. Durch diesen selbst würde den Ergebnissen dieser Studie zur Folge schon eine Bewusstwerdung für Diversität bei den Akteur*innen angeregt.
Grenzen in der Nutzbarmachung des Modells sind u.a., dass Kulturelle Bildungsprojekte individuell sind, und eine generalisierte Anwendung (auch in anderen Sparten) bisher nicht erforscht wurde. Das Modell bietet keine konkreten Handlungsempfehlungen, ungeklärt bleibt auch, wann welche Merkmale als “erfüllt” betrachtet werden können und einige Punkte wie die innere Haltung der Teilnehmenden lassen sich nicht von außen steuern, weshalb das Modell lediglich Orientierungspunkte liefern kann, jedoch niemals alle Rahmenbedingungen für die Vermittlung eines Diversitätsbewusstseins sicherstellen kann. Um langfristig die Entwicklung eines Diversitätsbewusstsein in Kulturellen Bildungsprojekten ermöglichen zu können, müssen Transformationsprozesse kulturpolitisch und strukturell gefördert werden, so sind essenzielle Punkte hier das Förder- sowie das Ausbildungssystem.
Ich – Du – und das Dritte im Vierten Raum. Vierte Räume in der kulturellen Bildung zur Vermittlung eines Diversitätsbewusstseins