Verortungen im fremden Gelände - Annäherungen an das Landschaftstheater von Louis Naef
Abstract
Den Ausgangspunkt meines Textes bildet eine Einladung zur Re-Lektüre von Texten eines Sammelbands zum Thema Spieltheorie, in dem der Ertrag eines vor mehr als 25 Jahren abgehaltenen interdisziplinären Symposions an der Akademie der Künste in Berlin veröffentlicht wurde. Kernanliegen dieses Wiederlesens und damit ggf. verbundenen Wiederentdeckens von Thesen, Tropen und Theorien ist die Frage nach der Möglichkeit eines Transfers der damals artikulierten Gedanken in unsere Gegenwart – und damit in aktuelle theaterpädagogische Kontexte und Diskurse. In diesem Zusammenhang beschäftigte ich mich mit dem dort publizierten Text Landschaftstheater des schweizerischen Theatermachers Louis Naef, der in den 1990er Jahren im ‚Schweizerischen Freilichtmuseum Ballenberg für Kultur‘ einige Theaterproduktionen mit Berufsschauspieler*innen und Laiendarsteller*innen realisiert hatte. Der Beitrag versucht sich an einer kritischen Rekonstruktion der ästhetischen, konzeptionellen und pädagogischen Eigenheiten dieser Theaterform; und würde diese gern auf einer (noch zu zeichnenden) Landkarte strukturanaloger, europäischer Theaterpraktiken verorten.
Wiederaufnahme: Fachtexte zum Spiel neu entdeckt und befragt
Dieser Beitrag entstand vor dem Hintergrund des gemeinsam von der Bundesarbeitsgemeinschaft (BAG) Spiel & Theater und dem Profilstudiengang Theater als Soziale Kunst an der FH Dortmund initiierten Projektes Theater – Auf(s) Spiel setzen. 12 Autor*innen wurden gewonnen, die Diskursfäden des 1998 von Hans-Wolfgang Nickel und Christian Schneegass herausgegebenen Sammelbandes zur Spieltheorie wieder aufzunehmen. Neben André Studt gehören Felix Büchner, Isabel Dorn, Stefanie Husel, Norma Köhler, Martina Leeker, Frank Oberhäußer, Dietmar Sachser, Mira Sack, Hanne Seitz, Sören Traulsen und Michael Zimmermann zu den Autor*innen, die in den kommenden Wochen auf kubi-online zu einer aktuellen Auseinandersetzung und Neupositionierung beitragen und in ihren Fachbeiträgen ausloten werden, welche begrifflichen und anwendungsbezogenen Verschiebungen über die Jahrzehnte zu beobachten sind und welche Potenziale und Entfaltungsmöglichkeiten dem Spiel innewohnen.
Die Landschaft versammelt Orte.
Ein Ort ist ein Punkt mit einer Umgebung.
(Michel Serres)
Unbekannter Ausgangspunkt (mit zu erkundender Umgebung)
Den Ausgangspunkt meines Textes bildet eine Einladung zur Re-Lektüre von Texten eines Sammelbands zum Thema Spieltheorie (Nickel/Schneegass 1998), in dem der Ertrag eines vor mehr als 25 Jahren abgehaltenen interdisziplinären Symposions an der Akademie der Künste in Berlin veröffentlicht wurde. Kernanliegen dieses Wiederlesens und damit ggf. verbundenen Wiederentdeckens von Thesen, Tropen und Theorien ist die Frage nach der Möglichkeit eines Transfers der damals artikulierten Gedanken in unsere Gegenwart – und damit in aktuelle theaterpädagogische Kontexte und Diskurse. In diesem Zusammenhang beschäftigte ich mich mit dem dort publizierten Text Landschaftstheater (ebd.:166-180) des schweizerischen Theatermachers Louis Naef. Dieser hatte in den 1990er Jahren im ‚Schweizerischen Freilichtmuseum Ballenberg für Kultur‘ einige Theaterproduktionen realisiert, die er in seinem Beitrag als Referenz für Aussagen in Sachen Stoffentwicklung, Arbeitsweisen in Konzeption und Proben und spezifischen Wirkungsabsichten, sowohl in den Prozessen der Produktionen als auch in deren Veröffentlichungen, heranzog. An diesem Ort realisierte er als Regisseur Aufführungen, in denen Laiendarsteller*innen gemeinsam mit Berufsschauspieler*innen auf Grundlage eines literarischen Textes mit Rollenvorgaben agierten. Die Spielvorlagen waren meist Adaptionen von bestehenden Dramen, deren Aushandlungen und Konfliktpotential von Naef als Stoff für eine auf den Ort (und der in dessen Region lebenden und mitwirkenden Menschen) passende Fabel bearbeitet wurde. Unter Heranziehung eines Autors und dessen Expertise zur Gestaltung einer Geschichte in einer poetischen Sprache, die auch die unterschiedlichen dialektalen Färbungen der in diesen Produktionen szenisch Beteiligten produktiv integrierte, entstand so ein Szenario, „welche[s] die Umgebung ganz konkret miteinbezieht oder gar thematisiert“ (ebd.:167).
Zugegebenermaßen waren mir sowohl der Künstler als auch die von diesem praktizierte beziehungsweise so bezeichnete Theaterform bis dato unbekannt; es gilt jedoch zu konstatieren, dass jener Spuren in der helvetischen Theaterlandschaft hinterlassen hat (Kotte 2005:1307f.) und es in der Schweiz eine diskursive Tradition (und Kontinuität) des Landschaftstheaters zu geben scheint (Bieri 2012). Ich werde nachfolgend versuchen, die mir wesentlich erscheinenden Impulse und Fragen, die ich durch die Beschäftigung mit diesem Theateransatz erhalten habe, herauszuarbeiten; ob sich damit der Wunsch nach einem Transfer in aktuelle Debatten der Theaterpädagogik einlösen lässt, möchte ich offen- bzw. die Leser*innen dieses Textes beantworten lassen.
Regie als Personifikation eines ästhetischen und pädagogischen Programms
Die Aussagen Naefs folgen, so mein Eindruck, der Logik eines Künstlerstatements; sie erscheinen demnach als besondere Textsorte, die weniger systematisch eine kohärente Argumentation entwickeln, sondern mehr subjektiv ästhetische Setzungen und artifizielle Programmatiken aufscheinen lassen will. So wären Verschränkungen von künstlerischer Selbstauskunft, die im Originaltext thesenhaft in Versalien erscheinen, und immer wieder angeführte Interpretationen bestimmter Passagen aus Gottfried Kellers Bildungsroman ‚Der grüne Heinrich‘ für die spezielle Ortsbezogenheit dieser Theateridee, die „Landschaft als Natur-Umgebung, aber auch als Seelen-Landschaft“ (Naef in Nickel/Schneegass:168) versteht, anzuführen: Wenn Naef proklamiert, dass es bei seinem Landschaftstheater „UM DIE VERWURZELUNG DER THEATERARBEIT IN DIESEN LOKALEN GEGEBENHEITEN“ (ebd.) gehe, so ist diese also nicht nur auf dort lebende Menschen (und damit auch ihn selbst), sondern auch auf den spezifischen Mentalraum einer helvetischen Nationalkultur, wie sie in einigen Abschnitten des Romans von Keller geschildert wird, bezogen. Naef nutzt den Roman dezidiert als volkstümliche Quelle, der er einen formalen „Hinweis auf eine Theaterwanderung“ (ebd.:171) und sein Interesse für die „strukturelle Durchmischung bzw. Doppelschichtigkeit von Realität und Spiel, von Alltagsgeschehen und fiktionaler Handlung“ (ebd.) verdankt. Es wäre zu fragen, was von dem im Roman geschilderten (historischen) Leben in das „Hier und Jetzt“ (ebd.:179) seines Landschaftstheaters überführt wurde, zumal die von Gottfried Keller artikulierten Gesellschaftsmuster, Geschlechterrollen, familiären Hierarchien etc. zum Zeitpunkt der Produktionen auf dem Ballenberg alles andere als zeitgemäß gewesen sein dürften bzw. durch den zeitlichen Abstand des Transfers in Szenen folkloristische Texturen aufweisen.
Für den Kontext der Theaterpädagogik herausfordernder erscheint mir die implizit erfolgte Adaption der im Roman artikulierten pädagogischen Programmatik, zumal Naef, per Originalzitat aus den Schilderungen Kellers, ein rezeptionsästhetisches Ideal für die Aufführungen seines Landschaftstheaters modelliert: „Hundert kleine Schauspiele entstanden dazwischen und überall gab es was zu sehen und zu lachen, während doch bei den wichtigen Vorgängen die ganze Menge andächtig und gesammelt erschien“ (ebd.:171). Die pädagogische Idee des Theaters als Ort der Belehrung, weil das Dispositiv des Theaters eine andächtige und gesammelte Formatierung vorsieht, wird somit zum konzeptionellen Fluchtpunkt und ist am Schauplatz des Landschaftstheaters wohl auch initiiert worden. Aus Sicht eines Publikums wäre es interessant zu wissen, was genau die Lerngegenstände sind, die uns im und durch das Landschaftstheater nahegebracht werden sollen. Oder welche Rolle die Landschaft bei der Vermittlung spielt, vor allem, wenn sie, wie noch zu zeigen sein wird, auf dem Ballenberg ein künstliches Konstrukt bzw. eine kulturgeschichtliche, -geographische Kulisse ist, die als Dekoration einer bäuerlich geprägten Vergangenheit wirksam und von Louis Naef illustrativ in seine Inszenierungen eingewoben wird. Dass es ihm mit Blick auf die Adressaten respektive Zuschauer*innen neben einer ästhetischen auch um eine pädagogische Profilierung seiner Theateridee gegangen sein muss, wird deutlich, wenn er sein Vorgehen als besondere Form, die sich von gewöhnlichem Freilichttheater abgrenzt, kennzeichnet: „Landschaftstheater ist nicht einfach Theater im Freien, wo man eine Bühne hinstellt. Im Landschaftstheater ist die Landschaft selbst die Bühne - dadurch ebenfalls nicht grenzenlos, aber die Grenzen des Spiels sichtbar machend“ (ebd.:178). Die Landschaft sorgt für ein Bild, die Thematisierung von Grenzen suggeriert das Potential von Bildung.
Regie, Spiel und Kunst(anspruch)
Naef setzt dem Spiel durch seine Regieführung ebenfalls Grenzen: Die in seinen Ausführungen zum Ausdruck kommende, am Modell des Literaturtheaters orientierte, konventionelle Regie-Position ist für mich einigermaßen überraschend, steht die Theaterpädagogik damals wie heute einer derart klassisch verstandenen Regie doch eigentlich skeptisch gegenüber (vgl. dazu Studt 2021, Studt 2016). Vor allem sind die von ihm im Vorfeld getroffenen konzeptionellen Entscheidungen deutliche Präfigurationen des Spiels, welches im Probenprozess im Sinne einer klar psychorealistisch konzipierten Figurenentwicklung weiter domestiziert und formatiert wird. So schildert er exemplarisch sein Vorgehen in den Proben mit Laien als einfühlende Text- und Sprach-Arbeit: Demnach sieht sich eine beteiligte Laien-Darstellerin in eine deutlich an Stanislawskis Strategie des emotionalen Gedächtnisses angelehnte Arbeit an der Rolle involviert. Auch hier taucht das Motiv des Lernens (bzw. die pädagogische Idee des Zeigens) wieder auf: Im Moment des Erkennens bzw. der Verarbeitung von Informationen, die die von ihm erwähnte Laien-Spielerin in der Zusammenführung von biographischen Erfahrungen, persönlicher Feldrecherche, begleitenden Moderationen bzw. suggestiven Manipulationen seiner Regieführung und eigenem Spielerleben leistet, „versinkt [die Spielende - Anm. AS] ins Thema, erstarrt zur Statue“ (Naef in Nickel/Schneegass:173). Dieser statische Moment korrespondiert in gewisser Weise mit den angeführten Ausführungen zur pädagogischen Theateridee; er steht jedoch in einer merkwürdigen Differenz zu einer Ästhetik der Bewegung, die Naef ansonsten als Kennzeichen seines Landschaftstheaters ausmacht, da dort die Spieler*innen ihre Figuren „auf dem Weg ins Dorf oder zum nächsten Bauernhof entwickeln und dabei (realiter in der Zeit) verweilen“, so dass diese Theaterform „seinen epischen Atem aus diesem Gehen über den Weg“ (ebd.:177) beziehe.
Auch wenn ich die unter dem Label Landschaftstheater vorgestellten Arbeiten Naefs nicht als theaterpädagogische Projekte bezeichnen würde, werden sie durch seine Einbindung in den Kontext des Symposions Spieltheorie und seinen Bemerkungen zur biografischen Theater-Arbeit mit Laien, in deren Nähe gerückt. Letzteres scheint ihn schon länger zu beschäftigen und wurde von ihm insofern modifiziert, als dass er das biographische Material der Spieler*innen, welches ihm früher ausreichend Stoff als Initial für eine Theaterproduktion geboten hatte, nunmehr in den Dienst eines Textes stellt, so dass das Biographische der Spieler*innen in die fiktionalen Rollen der literarischen Konstruktion projiziert werden muss. Damit divergiert sein Vorgehen, das biographische Erkenntnis- und Erlebensmomente der Laienspieler*innen operativ im Sinne seiner bildstarken Inszenierungsabsicht zu verarbeiten weiß, von dem Ansinnen einer eher defensiven bzw. punktuell wirksamen Regie in theaterpädagogischen bzw. biographischen Projekten (vgl. Köhler 2009). Weiter wäre anzuführen, dass diverse theaterpädagogische Ansätze die Notwendigkeit einer besonderen Bezogenheit der Spielleitung auf das (fragile und noch herauszufindende) Gefüge einer Laien-Gruppe betonen, der nicht einfach affirmativ am „Imitationstheater des Professionellen“ (Otto 2001:3; dazu auch Nickel 2005, Hilliger 2009, Sack 2011) orientierte Regiekonzepte übergestülpt werden dürften. Der Ansatz von Naef steht dem gewissermaßen entgegen: Es könnte sich also lohnen, intensiver über das Verhältnis von Spiel, Regie (auch mit diesem Begriff) und den dort personifizierten (bzw. sich als Praktiken materialisierende) Erfahrungen, Erwartungen und Erkenntnissen nachzudenken.
Naef betont den emanzipatorischen Charakter des Spielens in einem Verweis auf die Befremdungspotentiale, das Alltägliche neu zu sehen und anders zu erfahren, als entscheidenden Impuls für die Theaterarbeit mit Laien. Seine vorgestellte Programmatik des Landschaftstheaters akzentuiert dabei aber gewisse Beschränkungen im Spiel, anstatt sich mit den ästhetischen Potentialen einer Entgrenzung durch Spiel, beispielsweise dem, was mit Roger Callois als ilynx bezeichnet werden kann (Callois 2017), zu beschäftigen. Er geht vielmehr davon aus, dass der individuelle Handlungsraum der Laien-Darsteller*innen durch eine Fabel beschränkt sein muss, weil damit dem entstehenden Figuren-Spiel Halt und Orientierung gegeben wird. So ist das Spiel zweierlei: Einerseits ein Möglichkeitsraum der Befremdung (u.a. vom Alltäglichen, Biographischen etc.), anderseits die Unterordnung zu (von seiner Regie gegebenen) Regeln. Rezeptionsästhetisch macht er sich den konventionellen Effekt einer Anagnorisis, der Wiedererkennung, zunutze, weil die Zuschauenden die spielenden Laien selbst weniger als Kunst-Konstrukt sondern mehr als Mit-Menschen wahrnehmen sollen. Da es Naef in seinem Theaterschaffen aber um einen Kunstanspruch geht, der in seinen Setzungen (und wohl auch Be-Setzungen von Rollen durch Berufsschauspieler*innen) deutlich wird, stellt sich erneut die Frage nach der Relevanz einer dezidiert ausbuchstabierten ästhetischen Position der Spiel-Anleitung bzw. der Regie, der sich dann jene, die in einen gemeinsamen Arbeitsprozess einsteigen, anvertrauen und so mehr oder weniger deutlich zum Instrument (s)einer Kunstausübung werden.
(Schweizer) Landschaften von professionellem und laienhaften Spiel
Wenn das Ziel der Beschäftigung mit den ‚alten’ Texten der Anthologie ein Transfer von dort artikulierten Aspekten, Begriffen und Argumentationen in die Diskurslandschaften der aktuellen, zeitgenössischen Theaterpädagogik sein soll, scheint mir das Potential der Naefschen Ausführungen nicht unbedingt in dessen personengebundenen Spielbegriff oder dem Status des Spielens in einer professionellen Theaterarbeit mit Laien zu liegen, zumal die Bezeichnungen ‚Profi‘ und ‚Laie‘ in der Schweiz eine andere Diskurstradition aufweisen: So ist einerseits der Begriff des Laientheaters in der Schweiz relativ unbelastet (im Gegensatz zur deutschen Theatergeschichte, wo es eine Vereinnahmung „durch völkische Ideologie“ (Naef in Nickel/Schneegass:169; vgl. dazu auch Ruhwinkel 1996) zu konstatieren gilt), andererseits lässt sich ihm zufolge die Schweizer Theatergeschichte als „Gegen-(und manchmal auch Mit-)einander von städtischem und Volkstheater, von professionellen und Laientheater“ (ebd.) verstehen, was dem Landschaftstheater subtil einen institutionskritischen Charakter verleiht. Dieser Eindruck, der sich gut einem subversiven Selbstverständnis der Theaterpädagogik an die Seite stellen lässt, verstärkt sich durch seinen Hinweis, dass „das Stadttheater (…) durch den Stadtschaftsaspekt neu zu definieren“ wäre, damit sich das Theater „als ein Moment des öffentlichen Lebens, das sich darin spiegelt“ (ebd.:179) erneuern könne. Diesem Gedanken von Naef wurde ohne sein Zutun in den letzten 25 Jahren viel Aufmerksamkeit geschenkt - z.B. im Rahmen diverser (auch theaterpädagogisch angelegter) Projekte der Bundeskulturstiftung oder der im ‚Stadttheater-Debatten‘-Kontext erfolgten Erkenntnis einer notwendigen Öffnung der Institution Theater zur Stadtgesellschaft und deren Räumen etc.; meines Erachtens wäre der Verquickung von dem, was Naef unter Land- (und Stadt-)schaft versteht, und dem, was bspw. unter den Begriffen der Promenadologie (Burckhardt 2006, Weisshaar 2013) oder den ‚rurbanen Landschaften‘ (Langner/Frölich-Kulik 2018) an Überlegungen angestellt wird, noch eigens Aufmerksamkeit zu widmen.
Naef geht es, wenn Landschaft zur Stadtschaft wird und umgekehrt, in seiner Theateridee um eine Einebnung der Differenz von professionellem und laienhaftem Spiel, die im sozialen Raum der Sprache, genauer der in der Schweiz gesprochenen Sprachen, stattfinden könne. Profi und Laie begegnen sich in der Vielschichtigkeit des Sprechens, wobei es die Musikalität der unterschiedlichen Dialekte und die damit gegebene Möglichkeit der Differenzierung in der Figuration sind, die ihn in seiner Theaterarbeit interessieren: „Dürrenmatt hat zwischen der Muttersprache und Vatersprache des Deutschschweizers unterschieden, Schwiizertütsch und Hochdeutsch. In diesen zwei Sprachen äußern sich jeweils auch zwei Verhaltensweisen - eine eher emotionale, gestisch geprägte und eine fremdbestimmte. In der einen fühlen wir uns zu Hause, die andere müssen wir immer wieder üben, damit sie uns nicht zur Worthülse verkommt“ (ebd.:169). So besehen, sind die urban geprägten, in der Hochsprache agierenden Schauspieler*innen Laien im Umgang mit dem Dialekt - und umgekehrt, auch wenn Erstere in den Produktionen des Landschaftstheaters sehr wahrscheinlich als Protagonist*innen besetzt werden.
Diese (wenigstens in der Naefschen Konzeption) erfolgende Nivellierung einer Differenz von professionellem und laienhaftem Spiel verschließt sich jedoch aktuellen Debatten, die in der Theaterwissenschaft unter dem Begriff der De-Professionalisierung konzipiert werden (Matzke 2018, Roselt 2018); erst das ‚Neue Landschaftstheater‘, was von Martin Bieri als Fortsetzung des Diskurses um Landschaften mit Blick auf die Produktionen der (ebenfalls schweizerischen) Gruppe ‚Schauplatz International‘ entwickelt wurde, ermöglicht diesen Konnex: Allerdings werden hier andere Darstellungspraktiken realisiert, die laut Bieri im „Kontext des ‚Postdramatischen Theaters‘ situiert“ sind, „stark performative Elemente“ aufweisen und „sich bewusst gegen tradierte Theaterkonventionen“ stellen (Bieri 2012:337). So besehen bringt eine Fortschreibung bzw. -setzung dessen, was Naef noch traditionell als Rollenspiel für/aus/in eine(r) Landschaft angelegt hatte, notwendigerweise eine massive Veränderung der Spielweisen mit sich und rückt die so szenisch tätigen Laien (bzw. ihre im Spiel zum Ausdruck kommenden Figuren und das damit zusammenhängende emanzipatorische Potential) somit auch in die Nähe der aktuellen Diskurse zur Bürgerbühnen-Bewegung (Kurzenberger/Tscholl 2014).
Landschaft als Konstruktion (und materielles Sammelsurium)
Weil, wie gesagt, ein auf Personen bezogener Spielbegriff nicht unmittelbar im Fokus des Interesses von Louis Naef zu liegen scheint, rückt das, was er unter Landschaft versteht, genauer: der von ihm verwendete Landschaftsbegriff, in die Aufmerksamkeit; so ist sein Beitrag mit der Frage untertitelt: „Theater in der Landschaft als Spiel in und/oder mit der Natur?“ Das könnte bedeuten, dass er sich selbst nicht ganz im Klaren darüber war, wie seine Position im Kontext des Symposions zum Thema Spieltheorie zu verorten sei: Zum einen wird ‚Natur’ – ein eigentlich näher zu klärender Begriff – als dekorative Kulisse genutzt, in der sein Theater als Spielvorgang platziert ist; zum anderen sind die Ausprägungen der Natur – bei ihm pragmatisch verstanden als Witterungsbedingungen und Beschaffenheit des Geländes – (unverfügbare) Partner im Spielvorgang selbst, die diesem eine Aufwertung hinsichtlich der Echtheit und Wahrhaftigkeit des Spiels verschaffen. Naef operiert mit dem Begriff ‚Authentizität’, ohne dabei weiter auf die ambivalenten Aspekte und Unschärfen dieser Zuschreibung — Martin Bieri spricht von einem diskursiv ungesicherten Gelände (Bieri 2012: 315) — näher einzugehen. Es wäre, auch angesichts der mystifizierenden Tendenz seiner Ausführungen (vgl. ebd.:317), irreführend, dem Interesse Naefs für die ‚Landschaft‘ bzw. die Natur im Nachhinein eine ökologische Dimension einzuschreiben, um sie mit den aktuell sehr an Relevanz gewinnenden Ansätzen einer ökologisch geprägten Theaterproduktion bzw. Diskursen der Achtsamkeit in Verbindung zu bringen. Die von Una Chaudhuri 1994 als Initial dieser Verschränkung formulierte Analyse, dass „Theater, insbesondere in seinen realistischen und naturalistischen Traditionen, als einen Ort von Ausgrenzung und Unterwerfung der Natur, die zwar im Hintergrund als Vehikel soziokultureller Zusammenhänge permanent aufgerufen, durch diese Reduktion zum bloßen Symbol jedoch letztlich umso gründlicher zum Verschwinden gebracht werde“ (Chaudhuri in Caupert 2015: 219), scheint für die Ambivalenzen des Kunst-Ortes Ballenberg eine gewisse Passung aufzuweisen.
Interessanterweise scheint der Ort dieser Theaterpraxis, der „im Heimatbewußtsein (sic!) vieler Schweizer eine zentrale Position einnimmt“ (Staeger 1995), alles andere als echt und wahr. Das Freilichtmuseum auf dem Ballenberg, einem Gebirgsrücken im Berner Oberland, zeigt auf über 60ha eine Ansammlung von alten Schweizer Häusern, „darunter viele Abbruchobjekte, die abgebaut, verschoben, renoviert und originalnah wieder aufgebaut wurden“ (Bieri 2012:310). Die Gruppierung der Häuser erfolgt in thematisch gegliederten Geländekammern, so wurden in „der Kammer ‚Tessin’ zum Beispiel (...) Terrassen mit Reben angelegt, eine Kastanienselve gepflanzt und eine Pergola errichtet“ (ebd.:311). Die Museums-Besucher*innen orientieren sich auf dem weitläufigen Gelände anhand von einigen Informationstafeln, die allerdings für Aufführungen des Landschaftstheaters abmontiert werden, da sie sonst auf der Szene platziert und kontraproduktiv für die dem Theater eigenen Fiktionalisierungsstrategien wären. So kann die museale Inszenierung auch als Exempel der Entfremdung verstanden werden, da diese „letztlich nur ein Nebenprodukt umfassender Zerstörung ist (…)“ und „als Anstalt zur Entsorgung der Vergangenheit“ dient, die „eine – in der Wirklichkeit weitgehend verschwundene – heile Welt“ vorführt (Staeger 1995). Positiver formuliert wäre die museale Absicht, vergangene Lebenswelten und deren Verortungen materiell zu bewahren, als Inszenierung eines ‚Lieu de Memoire’ (Nora 1998) zu verstehen. Die damit verbundene Ladung des Ortes mit gemeinschafts- und identitätsstiftenden Bedeutungen geht der eigentlichen Theaterarbeit von Louis Naef voran; es wäre an dieser Stelle zu fragen, inwieweit sich das Landschaftstheater und vor allem dessen Akteur*innen in diese spezifische Sinnstiftung eingebunden sehen. Durch die spielerische Verkörperung und Versprachlichung leistet dieses Theater einen wesentlichen Beitrag bei der Überführung von Elementen aus dem kollektiven in das kommunikative Gedächtnis, wie sie in jeder Form des Literaturtheaters stattfindet: Texte (und hier wohl: Stimmen) aktualisieren sich an der Gegenwart des szenischen Spiels (und des Mitspielens eines Publikums) in den beteiligten Körperleibern, auf dass man sie nicht vergesse.
Landschaft als Projektion (und mentales Sammelsurium)
Bei der recherchebasierten Beschäftigung mit der Person und Position von Louis Naef (quasi zur Erkundung von Umgebung des unbekannten Ausgangspunkts) habe ich immer wieder an den leider viel zu früh verstorbenen belgischen Theatermacher Marcel Cremer denken müssen; ich hatte das Glück Mitte der 1990er Jahre als Student an einer Koproduktion mit dessen AGORA Theater, dem Theater der deutschsprachigen Minderheit in Belgien, spielend beteiligt zu sein. Dieses war an einem anderen Ort wirksam; die Landschaft der Ardennen, ihre historische Textur und die dort eingewobenen Menschen, spielte eine zentrale Rolle im Denken und Machen von diesem Theater, das interkulturell und autobiographisch genannt werden kann (und Schauspiel-Laien durch das biographische Spiel professionalisierte). Der memorable Satz Cremers „Alle Figuren der Weltliteratur stecken in jedem einzelnen Menschen“ (Hoffmann/AGORA-Theater 2020:10) hätte auch von Naef stammen können.
Damit wäre ein abschließender Impuls gewonnen, der die Frage der Möglichkeit eines Transfers dieser stark an die Person Louis Naef gebundenen und von Begriffen (kultureller) Identität, (biographischer) Historizität sowie (emotionaler) Heimat geprägten Theaterform aus dem helvetischen Kontext auf andere Orte mit Umgebungen diskutieren könnte: Es erscheint mir lohnenswert, die (europäische) Theaterlandschaft (als Gewimmel von Orten) nach Personen, Positionen und Projekten abzusuchen, die sich signifikant am Konnex Landschaft-Theater-Spiel abarbeiten (oder abgearbeitet haben). Wenn dort dann Menschen involviert und dazu veranlasst werden, sich per szenisch-theatralen Handlungen eine Umgebung zu schaffen, die sie per biographischer Erinnerung, lernender Erkundung und spielerischem Erleben biographisch verortet und mit Anderen in einen konkreten Zusammenhang setzt, würde das Kernanliegen Naefs, eine „animatorische Theaterarbeit im sozialen Feld“ (Naef in Nickel/Schneegass 1998:168) zu betreiben, als zentrales Kennzeichen dieser Kartographie zu entwickeln sein. Er wäre - wie der erwähnte Marcel Cremer - auf einer dementsprechend zu zeichnenden Landkarte, die auch solche Projekte wie die ‚Refugee Tales’ (vgl. Meyer 2021) sicher verzeichnet.