Vermitteln und aneignen lassen im Spiel der Differenzen. Pädagogische Kunstkommunikation in Schule und Museum
Jeder kennt die Situation im Museum (oder in ähnlicher Form in der Schule), in der ein Kunstpädagoge/eine Kunstpädagogin mit einer Gruppe über ein Kunstwerk spricht – im Fachdiskurs ist von ‚Kunstvermittlung‘, ‚Kunstrezeption‘ oder ‚Sprechen über Kunst‘ die Rede. Es ist eine Kernsituation unseres Faches.
Es besteht auch weitgehend Einigkeit, dass solche Kunstvermittlungssituationen nicht ein Monolog der KunstpädagogInnen sein sollen. So gibt es Vorschläge in Richtung einer Besucherorientierung (z.B. Deutscher Museumsbund/Bundesverband Museumspädagogik 2008), einer dialogischen (Lielich-Wolf 2013, Kirschenmann 2011) oder kritischen Kunstvermittlung (Mörsch 2009), und Vorschläge für aktivierende Methoden der Kunstrezeption (z. B. Schoppe 2010, Seumel 2001a, 2001b). Damit ist eine Seite, nämlich die Zielrichtung kunstpädagogischer Bemühungen, relativ gut ausgeleuchtet.
Doch es lohnt auch, den Blick auf die Basis der Situation, ihre Strukturmerkmale zu lenken: Wie ‚funktionieren‘ Kunstvermittlungssituationen?
Begriffe und Verständnisweisen
Der Klärungsbedarf beginnt schon bei den Begriffen: In den beteiligten Disziplinen (insb. Kunstpädagogik, Museumspädagogik, Besucherforschung) wird mit unterschiedlichen Begriffen gearbeitet (z.B. Vermittlung, Bildung, Dialog), und es findet sich bislang auch kein gemeinsames Verständnis dieser Situation (zur Übersicht: Hofmann 2016). So bleibt weitgehend unklar, ob derartige pädagogische Situationen als Erziehung, Bildung oder Lernen gedacht sind (Interessanterweise erwies sich das Lernen, genauer die Übernahme, der Erwerb oder die „Schaffung“ (Jörg Dinkelaker) von Wissen oder Fähigkeiten, in den untersuchten Fällen als unwesentlich. Vielmehr zeigte sich, dass andere Aspekte deutlich wichtiger sind). Dass zudem eine Sozialisation stattfindet, zeigen empirische Studien, was aber die wenigsten Konzepte berücksichtigen. Sinnvoll ist es zudem, neuere Konzepte der Erziehungswissenschaften wie „Pädagogische Kommunikation“ (Kade 1997) oder der Linguistik, wie „Kunstkommunikation“ (Hausendorf 2011) zu berücksichtigen.
Forschungslage
Die Forschungslage in der empirischen Besucherforschung und der kunstpädagogischen Forschung zur Kunstrezeption bzw. zur museumspädagogischen Form der ‚Führung‘ ist sehr heterogen, sowohl im Hinblick auf die beteiligten wissenschaftlichen Disziplinen als auch im Hinblick auf die Forschungsansätze und die Qualität der Studien.
Die Wirkung von Ausstellungen bzw. das Lernen durch Ausstellungen ist relativ gut erforscht (zur Übersicht siehe Hofmann 2016). Diese Studien fokussieren in der Regel den Wissenszuwachs von EinzelbesucherInnen. Dem steht die Erkenntnis entgegen, dass Kunstvermittlungssituationen soziale Situationen sind (vgl. vom Lehn 2012), in denen ästhetische Erfahrungen eine große Rolle spielen.
Die pädagogische Anleitung, also das Handeln von MuseumspädagogInnen und TeilnehmerInnen, ist dagegen noch wenig erforscht (zur Übersicht siehe Hofmann 2016). Zwar gibt es einzelne Arbeiten, beispielsweise zu pädagogischen Handlungsmustern (insb. Nettke 2010, Costa und Müller-Jacquier 2009, Bühler und Hofmann 2012, Heeg und Hofmann 2014). Doch besteht großer Bedarf, das Exponat bzw. Kunstwerk im pädagogischen Zusammenhang zu erforschen, die Institution Museum im Kontext der Pädagogik oder die Profession der im Museum tätigen PädagogInnen. Bezogen auf das Publikum wurde deutlich, dass fast ausschließlich erwachsene Einzelbesucher untersucht wurden. Es besteht also Forschungsbedarf, Kinder und Jugendliche zu fokussieren sowie Gruppen.
Untersuchung
Aus diesen Gründen führte ich ein Forschungsprojekt durch, das im Rahmen eines qualitativen empirischen Ansatzes konkrete Situationen detailscharf beobachtete und analysierte. Ziel war es, charakteristische Elemente der Kunstvermittlung herauszuarbeiten. Mittels Teilnehmender Beobachtung und Videografie wurden drei Kunstvermittlungssituationen untersucht: Eine Kita-Gruppe, eine 6. Klasse und ein Oberstufenkurs (Jahrgangsstufe 12), jeweils vor unterschiedlichen Kunstwerken, in unterschiedlichen Ausstellungen, und von unterschiedlichen Kunstpädagogen angeleitet. Anschließend wurden mittels Interpretation fallübergreifend Strukturmerkmale der Wechselbeziehung zwischen ästhetischem Objekt, RezipientInnengruppe und Pädagoge/in rekonstruiert (zur Forschungsmethodik vgl. Hofmann 2015a und 2015b).
Dabei zeigte sich insbesondere (weitere Ergebnisse vgl. Hofmann 2015a), dass ästhetische Erfahrungen von den TeilnehmerInnen gemacht wurden, die aber nicht von den KunstpädagogInnen vermittelt wurden. Dass sie gemacht werden, lässt sich von Vermittlungsseite nicht verhindern. Doch konzentrieren sich die KunstpädagogInnen eher auf Wissensvermittlung. So war bei der Kita-Gruppe zu erkennen, dass der Kunstpädagoge eine Versprachlichung des Bildgeschehens durch die Teilnehmer anstrebte, während die Kita-Kinder über die Beleuchtung staunten, sich gegenseitig Assoziationen mitteilten oder haptische Erfahrungen mit dem Bild machten (vgl. Abb. 1).
Insgesamt wurden drei unterschiedliche Situationen erforscht: Neben der Kita-Gruppe eine 6. Klasse und ein Oberstufenkurs, alle in anderen Ausstellungen und mit anderen KunstpädagogInnen. In den beforschten drei Kunstvermittlungssituationen erstreckt sich die Wissensvermittlung durch die KunstpädagogInnen vorwiegend auf Werkentstehung und historischen Kontext, Bildgegenstände sowie das Museums- und Ausstellungswesen. Dass dies nicht am Unvermögen der PädagogInnen liegt, sondern strukturelle Gründe hat, zeigt sich dann, wenn die KunstpädagogInnen in den untersuchten Situationen die Aneignungsprozesse der TeilnehmerInnen zum Maßstab machten: Ließen sie beispielsweise die SchülerInnen frei ihre Gedanken äußern, geriet die Unterhaltung zu einer Alltagskommunikation, die Situation war keine pädagogische mehr.
Modell
Aus diesen Erkenntnissen zur Struktur von Kunstvermittlungssituationen wurde von mir ein Beschreibungsmodell der „Pädagogischen Kunstkommunikation“ entwickelt (Hofmann 2015a). Die Situation wird damit als eine Form der Kommunikation verstanden, die erstens pädagogisch ist (Kade 1997) und zweitens kunstbezogen ist (Hausendorf 2011, Grütjen 2013) – beides prägt diese besondere Form der Kommunikation. Das Beschreibungsmodell ist dabei ein deskriptives, kein normatives. Pädagogische Kunstkommunikation legt also nicht fest, wie eine ‚gute‘ Kunstvermittlungssituation gestaltet sein sollte. Vielmehr geht es darum, diese Kernsituation der Kunst- und Museumspädagogik erstmals überhaupt in ein Modell zu fassen, das nun als Grundlage für weitere Überlegungen in Theorie und Praxis dienen kann.
Kennzeichnend für eine Pädagogische Kunstkommunikation (vgl. obige Abbildung) ist, dass einerseits TeilnehmerInnen eine Aneignung vollziehen, die stark von ästhetischen Erfahrungen geprägt ist, und andererseits eine Vermittlung stattfindet, die im Wesentlichen aus Wissensvermittlung und der Schaffung sowie Aufrechterhaltung pädagogischer Kommunikation besteht. Vermittlung und Aneignung stehen in Differenz; sie sind jeweils ‚anders‘. Vor allem ist Aneignung nicht die notwendige Folge von Vermittlung. Beide unterscheiden sich grundlegend. Dabei besteht ein enger Zusammenhang zwischen originalem Kunstwerk, Körper und Aneignung sowie zwischen Institution, Macht und Vermittlung. Dieses Verständnis unterscheidet sich von klassischen Vorstellungen des Lehrens und Lernens: Pädagogische Kunstkommunikation zu betreiben heißt nicht, durch Vermittlung mittels der ‚richtigen‘ Technik eine erfolgreiche Aneignung zu bewirken, sondern ein Zusammenspiel von Vermittlung und Aneignung zu koordinieren.
Fachdidaktische Konsequenzen
Damit wird deutlich, dass ästhetische Erfahrung eine große Rolle bei der angeleiteten Kunstrezeption spielt – egal ob der Kunstpädagoge oder die Kunstpädagogin dies intendiert oder nicht. Sie ist ein essentielles Element Pädagogischer Kunstkommunikation, aber sie geht von Seiten der SchülerInnen bzw. TeilnehmerInnen aus. Somit müsste die Fachdidaktik eine radikale Aufwertung des Schülers/der Schülerin vornehmen. Er/sie darf nicht länger Adressat oder Educand sein, sondern notwendiger, gleichberechtigter Akteur einer pädagogischen Situation.
Die Aneignung der SchülerInnen wird dann als eigenständige, eigengesetzliche Operation verstanden. Dem steht die Vermittlung als andere, ebenso eigenständige Operation entgegen, die an die Bedürfnisse und Möglichkeiten z. B. der PädagogInnen, der Institutionen oder der Lehrkonzepte gebunden ist. Während auf der einen Seite also ästhetische Erfahrungen gemacht werden, wird auf der anderen Seite Wissen vermittelt. Auf jeder Seite ist gar nichts anderes möglich: PädagogInnen können per Vermittlung keine Erfahrungen „vermitteln“, sondern eben nur Wissen. Und TeilnehmerInnen können per Aneignung kein Wissen „übernehmen“, sondern nur Erfahrungen machen. Vorstellungen, wonach Vermittlung eine ihr entsprechende Aneignung hervorrufen kann, haben demnach keine empirische Grundlage (Kade 1997, Hofmann 2015a). Empirisch besteht zunächst eine grundlegende Differenz zwischen Vermittlung und Aneignung.
Doch Vermittlung und Aneignung bedürfen einander. So, wie eine reine Wissensvermittlung keine Kunst- bzw. Museumspädagogik ist, so sind auch individuelle ästhetische Erfahrungen keine Kunst- bzw. Museumspädagogik. Es ist also von den PädagogInnen gefordert, die Differenz zwischen Aneignung und Vermittlung zu bearbeiten. Entscheidend ist, die beiden Prozesse in eine Begegnung, eine Konfrontation oder ein Zusammen-Spiel zu bringen, das performativ und sozial inszeniert ist, in der Bewegung im Raum erfolgt und angeregt durch das Original einen Dialog ermöglicht.
Wichtig ist dabei die Objekthaftigkeit des Originals. In der Untersuchung wurde deutlich, dass Kunstwerke von den Teilnehmern als materielle Gegenstände wahrgenommen wurden und Aneignungsprozesse auslösten. Dadurch war es nicht mehr möglich, allein Vermittlung zu betreiben. Die Begegnung mit den Kunstwerken setzte einen Dialog in Gang, Aneignung und Vermittlung trafen aufeinander – und an dieser Stelle setzt die Herausforderung der Kunstpädagogik an. Denn dann gilt es, Konflikte wie ‚BesucherInnen vs. Museum‘, ‚SchülerInnen vs. Institution‘, ‚Kunstvermittlung vs. Kunsterfahrung‘ oder ‚subjektiv-künstlerische Ansätze vs. kunstwissenschaftlich-objektbezogene Ansätze‘ in ein Spiel der Differenzen zu überführen.