Vom Umnutzen und Anverwandeln – theaterpädagogische Arbeit im Zeichen der Digitalität

Artikel-Metadaten

von Sophia Keil, Tabea Hörnlein

Erscheinungsjahr: 2024

Abstract

Der Beitrag bezieht sich auf die durch Digitalität veränderte Praxis am theater junge generation in Dresden. Das tjg. ist eines der größten professionellen Kinder- und Jugendtheater Deutschlands, das 2008 mit der Theaterakademie eine eigene Sparte für die theaterpädagogische Arbeit mit Kindern und Jugendlichen gegründet hat und seit 2014, als Teil eines europäischen Theaternetzwerkprojektes, digitale Ausdrucksformen im Theater für Jugendliche untersucht hat. Digitale Theaterpädagogik wird anhand des digitalen Raums mit z.B. Messengerdiensten, hybriden Probensettings, digitaler Dramaturgie und digitaler Bühne beleuchtet. Die Darstellung zeigt, dass seit der Pandemie am tjg. einiges passiert ist und Digitalität als Querschnittsaufgabe umgesetzt werden kann.

Das Thema Digitalität in der Theaterpädagogik kann aktuell nicht ohne den Kontext der Einschränkungen durch die Pandemie betrachtet werden, wenngleich es natürlich bereits vorher eine theaterpädagogische Praxis gab, die Themen der Digitalität künstlerisch und inhaltlich untersuchte.

In diesem Sinne laden wir dazu ein, unsere theaterpädagogische Praxis der vergangenen zwei Jahre gemeinsam nachzuzeichnen und im Hinblick auf eine zukünftige digitale Theaterpädagogik hin zu reflektieren. In der theaterpädagogischen Arbeit, wie wir sie verstehen, geht es um das forschende Auseinandersetzen mit der Umwelt. Wir arbeiten mit nicht-professionellen Spieler*innen, die sich in ihrer Freizeit für das Theaterspielen entschieden haben, um Geschichten aus ihrem Leben auf die Bühne zu bringen.

Die allermeisten der Projekte, auf die wir uns beziehen, haben in der Theaterakademie des tjg. theater junge generation in Dresden (tjg.) stattgefunden. Das tjg. ist eines der größten professionellen Kinder- und Jugendtheater Deutschlands, das 2008 mit der Theaterakademie eine eigene Sparte für die theaterpädagogische Arbeit mit Kindern und Jugendlichen gegründet hat. Ab 2014 war das Haus Teil eines europäischen Theaternetzwerkprojektes zur Untersuchung von digitalen Ausdrucksformen im Theater für Jugendliche. Seit diesem Zeitpunkt waren Themen der Digitalisierung im Team virulent und fanden regelmäßig einen Platz im Spielplan. Mit dem Abschluss dieses Projektes 2015 wurde am Haus die Position der digitalen Dramaturgie eingeführt und sowohl der gesamte digitale Auftritt des Hauses überprüft, als auch neue (hybride) Inszenierungsformen bewusst im Spielplan platziert. Dennoch blieb das Thema Digitalität zunächst eines unter vielen. Dies sollte sich im März 2020, als aufgrund des Einsetzens der Pandemie, die Theaterhäuser für das Publikum geschlossen wurden und die künstlerische und theaterpädagogische Arbeit nicht mehr wie üblich möglich waren, ändern.

Durch die Einschränkung dessen, was „normal“ und gewohnt war, nämlich dass junge Menschen sich gemeinsam in einem Probenraum treffen und Theater spielen konnten und schließlich auf einer Bühne anderen zeigten, was sie erarbeitet haben, gab es sprichwörtlich über Nacht die Akzeptanz, ja gar den Druck, Theaterpädagogik anders zu denken, neue Bühnen zu finden und das Zusammenspiel auf Distanz zu ermöglichen.

Was vorher mühsam durchargumentiert werden musste, wurde nun elementarer Baustein der gelebten Praxis, war es doch schließlich die einzige Chance, wie Vermittlungsarbeit überhaupt stattfinden konnte. Es begann eine Zeit der intensiven Auseinandersetzung mit Devices und Software, die für das Theaterspiel, das Geschichten erzählen will, genutzt werden können und der Erprobung, welche digitalen oder hybriden Räume sich dafür eignen.

Im März 2020 wurde schnell klar, dass die bereits theaterspielenden Jugendlichen, die in der Theaterakademie auch einen Großteil ihrer Freizeit verbringen, einen wichtigen Begegnungsort durch die Covid-Einschränkungen verloren. Einen Ort, an dem sie nicht als Lernende oder zu Erziehende wahrgenommen werden, sondern Expert*innen für sich sein können. Einen Ort also, in dem sie sich unter anderen Jugendlichen als kompetent erleben. Die Klubs und Inszenierungsprojekte der Theaterakademie stellen den Jugendlichen Mittel und Methoden zur Verfügung, sich mit ihrer Umwelt (künstlerisch) auseinander zu setzen und so ihren Alltag zu reflektieren. Durch ein mögliches Streichen dieser Angebote, die im Theater stattfanden, drohte für die Jugendlichen - neben den Schulschließungen - eine weitere Lücke zu entstehen. Deshalb war der erste Schritt über neue Begegnungsräume, die schnell geschaffen werden konnten und die eine künstlerische Arbeit ermöglichten, nachzudenken und diese einzurichten.

Theater als Begegnungsraum - neue Proberäume finden

Messenger

Der erste digitale Proberaum, den wir installierten, war eine Chatgruppe im Messenger Telegram. Ziel war es, einen digitalen Ort zu etablieren, an dem sich die Jugendlichen (aucb gegenseitig) gesehen fühlten, der ihnen auch Ablenkung von der Situation des Zu-Hause-Bleiben-Müssens bot. Das Setting war folgendes: Alle Spieler*innen über 14 Jahren erhielten einen Link zur gemeinsamen Telegram-Gruppe, der sie beitreten konnten. Anfangs täglich, später dreimal wöchentlich wurde am Morgen eine künstlerische Aufgabe in die Gruppe gestellt, die über den Tag bearbeitet werden konnte. Die Ergebnisse konnten dann via Foto / Video / Sprachnachricht / Text von den Jugendlichen in die Gruppe gestellt werden. Alle Einsendungen wurden von einer Theaterpädagogin besprochen, alle Gruppenmitglieder waren ebenfalls dazu eingeladen. Die Übungen waren von Inszenierungen des tjg. oder Künstler*innen inspiriert, die wir den Jugendlichen mit Zusatzinformationen verlinkten.

Wichtig war uns, dass sich die Teilnehmer*innen gesehen fühlten, dass sie in einen künstlerischen Austausch treten konnten - es aber auch okay war, nur zu beobachten - dass sie wertschätzende Rückmeldungen erhielten und sie weiter Teil einer Gruppe waren. Aus dieser ersten Pandemiephase sind uns folgende Erkenntnisse geblieben: 

Messengerdienste laden unglaublich niedrigschwellig und intuitiv zum Kunstmachen ein, haben jedoch die Problematik, dass es sich bei den viel benutzen Messengern um kommerzielle Angebote handelt, die mit berechtigten Datenschutzbedenken einhergehen. Diese müssen unbedingt durch die Anleiter*innen transparent thematisiert werden und Lösungsvorschläge (das Verstecken der eigenen Telefonnummer anleiten, nur faceless-Fotos und Videos einstellen, …) angeboten werden. Gemeinsame Regeln für die Nutzung des Chats sollten erarbeitet und über eine Netiquette zur Verfügung gestellt werden. Außerdem ist Zuverlässigkeit und Konstanz durch diejenigen, die den Chatraum ins Leben gerufen haben, eine wichtige Komponente, um von den Teilnehmer*innen ernst genommen zu werden und das Gruppengefüge zusammen zu halten. Um dies zu gewährleisten, ist es hilfereich Messenger zu wählen, die das Vorplanen von Beiträgen erlauben und so die tägliche Aufmerksamkeit auf die Interaktion und nicht das Posten der Beiträge zu legen.

Als Theaterpädagog*innen bleibt aus dieser Arbeitsphase die Sehnsucht nach einem nicht-kommerziellen Messengerdienst zurück, der mit einladenden Funktionen zur Bild- und Videoerstellung ausgestattet ist, aber z.B. auf Servern von Trägern der Kulturellen Bildung laufen kann und zur Nutzung zur Verfügung gestellt wird, ähnlich wie dies mit dem Videokonferenzsystem Big Blue Button erfolgt war.

Videokonferenzräume

An diese Phase schloss sich eine weitere an. Als klar wurde, dass sich die theaterpädagogische Arbeit auf eine mittelfristige Perspektive hin verändern muss, wurden die regulären Theaterproben mit Jugendlichen in Videokonferenzräumen wie Big Blue Button und Zoom durchgeführt und schließlich auch für diesen digitalen Raum inszeniert und dort aufgeführt. Dabei wurde klar, dass sich Probenphasen und die zu entwickelnde Inszenierung immer stark aufeinander beziehen, denn die Gestaltung der digitalen Proben ist abhängig von der Form des Ergebnisses. Wenn die Inszenierung analog, beispielsweise auf einer Theaterbühne stattfinden soll, dann dient die digitale Probe wunderbar zur Materialgenerierung und Recherche. Ab dem Moment der konkreten Erarbeitung von szenischem Material, das montiert werden soll, wird es immer schwieriger, wenn der Aufführungsraum vom Probenraum abweicht. Wenn die Inszenierung im digitalen Raum stattfinden soll, dann sollte man sich frühzeitig für die Art der digitalen Bühne (z. B. Messenger oder Videokonferenzraum) entscheiden, um die Form bei den Proben aktiv mitzudenken und zu gestalten.

Im Hinblick auf die Gestaltung des Gruppenprozesses können wir festhalten, dass es über ausschließlich digitale Proben in Konferenzräumen wesentlich schwieriger ist eine Gruppe zu etablieren bzw. den Kontakt untereinander zu stärken, wenn sie die Teilnehmer*innen vorher noch nicht kannten. Auch ein Feedback zum Gruppengefühl oder der individuellen Situation einzelnen Jugendlicher zu bekommen ist durch die Abwesenheit der Körper und nonverbalen Signale schwieriger. Diese Momente des „Wie-geht’s-Dir-heute“ oder „Garderobegespräche“ sind wichtig und müssen konkret durch den oder die Theaterpädagog*in eingerichtet und angeboten werden, um den Kontakt untereinander zu stärken. Gerade in Videokonferenzsystemen, anders als in Messengern, ist die Hierarchie durch Administratorberechtigungen und andere technische Einschränkungen vorgegeben und schwer aufzubrechen. Dies steht oft im Konflikt mit dem Anspruch in der eigenen theaterpädagogischen Haltung von gleichwertiger Begegnung und muss immer wieder transparent gemacht und in den angebotenen Probeneinheiten mitgedacht werden.

Eine weitere Herausforderung in dieser Phase war, dass bei allen die Sehgewohnheiten für digitale Theaterformen, z.B. via Zoom fehlte und die Vorstellungskraft immer wieder und viel häufiger als in analogen Proben, die auf analoge Ergebnisse hinarbeiten, aktiv angeregt werden musste. Schließlich bleibt auch die Erkenntnis, dass die Motivation schneller nachlässt und man einige Spieler*innen nicht mehr erreicht. Manchmal liegt das auch daran, dass, wenn die jugendlichen Spieler*innen in ihrem Zuhause proben sollen, diese den Abstand zum Alltag mit dem Eingebundensein ins Familienleben nur schwer gewährleisten können. Es ist eine Herausforderung, sich diese ungestörte Probezeit im privaten Umfeld zu nehmen und das Alltagshandeln hinter sich zu lassen, in privaten Räumen ganz anders zu agieren. Weiter ist die Begeisterung für digitale Tools bei Jugendlichen nicht per se da, sondern muss auch immer wieder über das eigene Ausprobieren und Entdecken der Möglichkeiten hervorgebracht werden. Diese gemeinsamen Tryouts haben deutlich gemacht, dass viele Unwägbarkeiten dadurch entstehen, dass Software fürs Theaterspielen umgenutzt wird, die für Konferenzen entwickelt wurde und dieser Logik folgt. So müssen für diesen Rahmen die ästhetischen Mittel und Grundbausteine des Theaters neu gedacht werden. Impulse in der Gruppe wahrzunehmen, chorisches Sprechen oder auch Synchronität von Bewegung funktionieren im System der Konferenzkacheln anders, da z. B. immer eine zeitliche Verzögerung über die Technik davor geschaltet ist. Als Theaterpädagog*innen sind wir diesem Umstand immer so begegnet, dass wir den Spieler*innen gegenüber deutlich gemacht haben, dass wir auch noch nicht wissen, wie etwas wirkt oder funktioniert. Dies führt zur geteilten Motivation aller Beteiligten, selbst Dinge auszuprobieren oder zu erdenken.

Hierfür haben sich zwei Varianten in der Herangehensweise unserer Arbeit etabliert. Variante A: Nach Wegen im Digitalen suchen, um seine analogen, theatralen Ideen zu übersetzen oder Variante B: Nach Möglichkeiten innerhalb des Videokonferenzsystems suchen, um Theatralität herzustellen.

Ein weiterer Schlüssel für uns war, sich zu verdeutlichen, dass es Dinge gibt, die nur im Digitalen passieren können, z. B. indem man den Fakt nutzt, dass die Spieler*innen nicht in einem analogen Raum zusammen sind oder dass sie (vermutlich) zu Hause sind oder dass sie mehrere Medien gleichzeitig nutzen können.

Hybride Probensettings

Wir konnten feststellen, dass sich eine besonders große Nähe unter den Teilnehmer*innen hergestellt hat, wenn wir mit mehreren verschiedenen Endgeräten und methodisch abwechslungsreich gearbeitet haben. Zur Erarbeitung von Videowalks im öffentlichen Raum sind wir zunächst in einer gemeinsamen Videokonferenz gestartet, um einen Versammlungsort zu etablieren. Hier wurde sich vorgestellt und organisatorisch ausgetauscht, z. B. eine gemeinsame Chatgruppe betreten. Anschließend waren alle angehalten mit dem Smartphone nach draußen zu gehen. Über den gemeinsamen Chat erhielten die Spieler*innen nun Handlungsanweisungen und Aufgaben, die draußen unter Einbezug ihres Körpers, ihrer Sinne und von Material, das sie unterwegs fanden, bearbeiten konnten. Die Aufgaben nutzen außerdem alle technischen Aufzeichnungsmöglichkeiten des Smartphones. Alle waren sich bewusst, dass sie gleichzeitig mit den gleichen Aufgaben durch unterschiedliche Landschaften und städtische Räume liefen. Dieses Expeditionshafte im digitalen gleichermaßen wie im analogen verband die Teilnehmer*innen sofort. Indem die Ergebnisse im Chat eingestellt wurden, kam es gleichzeitig zu einer Wahrnehmungsverschiebung, denn die Teilnehmer*innen waren an einigen Punkten dazu angehalten, Tonaufnahmen der Räume der anderen anzuhören und so zwei Sinneseindrücke - das was sie konkret vor Augen sehen und den Raumklang aus der Ferne - miteinander zu kombinieren. So legten sich verschiedene Raumeindrücke mittels digitaler Technik übereinander und das Bewusstsein, dass viele gerade das Gleiche tun, erweiterte das Bild in der Vorstellung aller, da sich aller ihrer körperlichen und digitalen Ko-Präsenz bewusst waren. Gleichzeitig kam es an jedem Ort zu kleineren Aufführungen, denn manches durch die Aufgaben provozierte Agieren im öffentlichen Raum war Aufmerksamkeit erregendes Verhalten, das Passant*innen zu Zuschauer*innen werden ließ und das Ensemblegefühl der Ausführenden stärkte. Sie waren gleichermaßen im analogen Tun sowie im digitalen Raum miteinander verbunden, sie wurden zu Kompliz*innen. Zurück im Videokonferenzraum war diese Veränderung im Miteinander der Spieler*innen sofort zu spüren und wurde direkt zurückgemeldet.

Theater als Aufführung - von Bühnen und Foyers

Das digitale Theater innerhalb der Theaterpädagogik auch vom Publikum her zu denken und Austauschmöglichkeiten zu schaffen, war uns im Rahmen der tjg. tak-ticker wichtig.

In dieser Reihe haben Jugendliche der Theaterakademie die Möglichkeit, ihre eigenen Inszenierungen auf die Bühne des tjg. zu bringen. Zwei Jahre in Folge, 2020 und 2021, waren diese Inszenierungen digital geprägt und haben zwei unterschiedliche Systeme erprobt. An dieser Stelle soll nur auf die im ersten Jahr entstanden Inszenierungen, die Websites als Bühne nutzten, eingegangen werden. Hier wurden Erzählungen auf Blogs via der Erzähltechnik Scrollytelling oder mittels kleiner, selbst entwickelter PC-Games gezeigt. Diese digitalen Erzählformen wurden von den Jugendlichen selbst eingebracht und waren Teil der Reflexion ihres Mediennutzungsverhaltens und ihrer Präferenzen, z. B. welche Erzählformen sie selbst als spannungserzeugend empfanden. Die Herausforderung der begleitenden Theaterpädagog*innen bestand darin, eine Form zu finden, diese Inszenierungen einem Publikum zugänglich zu machen.

Hierfür haben wir wieder den Messengerdienst Telegram verwendet. Die Zuschauer*innen, die für die tjg. tak-ticker-Vorstellungen ein Ticket erworben hatten, bekamen einen Link zu einer Telegram-Gruppe mit dem Titel Foyer als Eintrittskarte gemailt. In dieser Mail war das gesamte Onboarding-Prozedere erläutert (Wie ist der Messenger so einzurichten, dass die eigene Telefonnummer geschützt ist? Wie nutze ich Telegram am PC? Wann muss ich zur Vorstellung erscheinen? Wie nutze ich das Foyer?).

Für dieses Foyer wurden alle Elemente, die einem im physischen tjg.-Foyer begegnen, digital im Chat zitiert und so über digitale Signale die Erinnerung an einen realen Theaterort wachgerufen. Jede*r Besucher*in wurde beim Betreten begrüßt und gebeten, die Garderobe abzugeben. Es wurde eingeladen, sich ein Getränk zu holen oder die anderen Gäste zu begrüßen. Vor Vorstellungsbeginn wurde das tjg.-Klingelzeichen eingespielt und schließlich der Abend live über eine Videonachricht anmoderiert. Anschließend wurde das Publikum in seine „Bühnen“ geführt, also anderen Chaträumen hinzugefügt, in denen wiederum Links zu den Websites, die die Inszenierungen zeigten, zur Verfügung gestellt wurden. In jedem dieser Bühnenchaträume stellte sich eine Moderatorin live vor und suchte die schriftliche Interaktion mit dem Publikum. Schließlich wurden gemeinsam die Inszenierungen, also die Websites, auf der die verschiedenen Produktionen hinterlegt waren, besucht und sich im Anschluss wieder im Chat zu einem kurzen Feedbackgespräch getroffen. Diese wurden mittels Umfragetools oder der Aktivierung über Stickerrückmeldungen niedrigschwellig und interaktiv gestaltet.

Alle Entscheidungen darüber, wie die Funktionen des Messengers eingesetzt wurden, dienten der Stärkung des ureigensten Theaterprinzips, dass sich eine Aufführung erst in der leiblichen Ko-Präsenz von Akteur*innen und Zuschauer*innen ereignet. Das Prinzip des Sendens und Empfangens wurde eingeführt, um ein Gefühl einer temporären Gemeinschaft zu etablieren, in der es nicht egal war, ob man sich beteiligte oder nicht. Da aber die Körper und damit alle Anteile der nonverbalen Kommunikation der anderen Teilnehmer*innen nicht zu sehen waren, mussten sich Zuschauer*innen digital äußern, um die Anwesenheit und Teilnahme zu zeigen. Sie waren also dazu angehalten ihr Zuschauen selbst „aufzuführen".

Sein volles Potenzial spielte dieses Prinzip bei den Nachgesprächen zu den Inszenierungen aus. Diese fanden ebenfalls in Telegram-Chaträumen statt. Die Annahme war, dass jede*r Zuschauer*in ein Nachgespräch besucht. Was jedoch passierte, war, dass sich vor allem Jugendliche in drei Nachgesprächschats gleichzeitig einwählten und diskutierten. Die Theatermacher*innen traten hier ihrem Publikum gleichwertig gegenüber, da z. B. das oft im analogen Raum bemühte Podium, auf dem die Spieler*innen sitzen, fehlte. Jede*r Einzelne konnte Rückmeldungen mit Ruhe formulieren und musste keine Scheu haben vor einer großen Gruppe frei zu sprechen. Antworten waren auch lange nach dem Senden über die Antwortfunktion möglich, Vergleiche und Assoziationen konnten mit Weblinks vertieft und belegt werden. Das Nachgespräch im Chat gibt die Möglichkeit, Zeit zum Bedenken und Ausformulieren der eigenen Wahrnehmung zu haben und diese nicht nur sprachlich zu äußern, sondern auch andere mediale Formen zu wählen. Diese Nachgespräche dauerten oft über mehrere Stunden an, denn auch wenn sich nach 20 Minuten die Gesprächsmoderation zurückzog, wurde der Austausch weitergeführt.

Was für uns aus dieser Erfahrung bleibt, ist die Erkenntnis, dass die Theaterverabredung, wie sie im analogen Raum schnell und klar erkennbar ist, im digitalen Raum aufgehoben wird und immer wieder erneut etabliert werden muss. Das Publikum sollte zu jeder Zeit wissen, wozu es gebeten ist, um Interaktion und Teilhabe zu ermöglichen. Was im analogen Theater die Ko-Präsenz von Publikum und Spieler*innen und damit die Basis für das Erlebnis einer Aufführung ist, muss im digitalen Raum durch interaktive Momente immer wieder neu bestätigt werden. Sollte dies gar nicht oder nur schwer innerhalb der Inszenierung möglich sein, kann es wie dargestellt auch durch eine Rahmung der Aufführung geschehen.

Förderung der Forschung zu einer digitalen Theatervermittlungspraxis

Die Gefahr von digitalen Theaterprozessen wie den bisher beschriebenen an Institutionen ist, dass sich Kompetenzen und damit Aufgabenbereiche auf einzelne Personen konzentrieren, statt sich wie sonst auf mehrere Gewerke zu verteilen. Die technische Absicherung dieser Vorstellungen erfolgte beispielsweise über die Theaterpädagog*innen selbst, die als Moderator*innen sowohl technische Abläufe, als auch die inhaltliche Führung durch den Abend übernahmen. Im Idealfall würden sich solche Projekte auf die gleichen Schultern verteilen, wie dies auch bei regulären Theaterproduktionen der Fall ist.Zumindest am tjg. ist dahingehend einiges passiert: In nahezu allen Abteilungen gibt es mittlerweile Digital-Expert*innen, so dass Digitalität als Querschnittsaufgabe gedacht und umgesetzt werden kann. Unterstützung finden diese Prozesse sicher an vielen Häusern durch die vielfältigen Open-Source-Anwendungen, die mittlerweile über diverse Förderprogramme für das professionelle Theater entstehen. Allein der Bereich der Vermittlungsarbeit wird hier kaum mitgedacht. Hier fehlt es weiter an der Entwicklung von Software, die unabhängig genutzt werden kann und die spezifisch von den oben beschriebenen Bedürfnissen der Theaterpädagogik ausgeht. 

Anmerkungen

Dieser Beitrag ist Teil des Praxis-Dossiers „Digitalisierung in der kulturellen Bildungspraxis“, das in Zusammenarbeit mit der Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung e. V. entstanden ist. In diesem Dossier geben Vertreter*innen unterschiedlicher Praxisfelder Einblicke in die konkrete Arbeit in ihren Einrichtungen bzw. Trägerstrukturen. Sie zeigen auf, wie sich durch den Einsatz digitaler Medien Methoden und Prozesse ihrer Arbeit verändert haben und was sie selbst daran als innovativ beschreiben.

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Gerne dürfen Sie aus diesem Artikel zitieren. Folgende Angaben sind zusammenhängend mit dem Zitat zu nennen:

Sophia Keil, Tabea Hörnlein (2024): Vom Umnutzen und Anverwandeln – theaterpädagogische Arbeit im Zeichen der Digitalität. In: KULTURELLE BILDUNG ONLINE: https://www.kubi-online.de/index.php/artikel/umnutzen-anverwandeln-theaterpaedagogische-arbeit-zeichen-digitalitaet (letzter Zugriff am 16.07.2024).

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