Umgrenzung des Kulturbegriffs im Bildungsdiskurs
Eine hegemoniale Theorie-Praxis-Problematik in der Kulturellen Bildung am Beispiel der Musikpädagogik
Abstract
Was muss der Inhalt von Kultureller Bildung sein, an der allen Individuen Teilhabe ermöglicht werden soll? Wie können wir greifbare Außengrenzen eines Kulturbegriffs für den Bildungsdiskurs ziehen, ohne dabei einen hegemonialen Fokus zu reproduzieren? Die hegemoniale Problematik durchzieht auf mehreren Ebenen die (musikpädagogische) Praxis in der Auswahl von Inhalten musikalischer Kultureller Bildung. Obgleich diese Problematik bereits Teil des wissenschaftlichen Diskurses ist und Konsens in Bezug auf die Abkehr von rein eurozentristischen Praxen im Musikunterricht besteht, kann dieser Forderung in der Unterrichtspraxis aus unterschiedlichen Gründen bisher nicht Rechnung getragen werden. Wie kann also ein Lösungsvorschlag aussehen? Mithilfe der kultursoziologischen Perspektive von Andreas Reckwitz und einer Offenheit für Utopie versuchen wir, uns einer Lösungsperspektive zu nähern, die auf ein Zusammenspiel zwischen Theorie bzw. Wissenschaft und Praxis abzielt.
Einleitung
Kulturelle Bildung ist wichtig, wertvoll und soll inklusiv sein. Sie soll allen Individuen kulturelle und damit gesellschaftliche Partizipation ermöglichen (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2012:157). Teilhabe ist auch eine pädagogische Zieldimension und im musikpädagogischen Diskurs omnipräsent, so beispielsweise im Handbuch Musikpädagogik (Dartsch/Knigge/Niessen/Platz/Stöger 2018) oder als ausschlaggebender Punkt für das groß angelegte Projekt „Jedem Kind ein Instrument“ (Kranefeld et al. 2014). Zunächst ist demnach die Kulturelle Bildung aller Individuen ein wichtiges Anliegen und mit Sicherheit ein unersetzlicher Bestandteil der gesellschaftlichen Entwicklung hin zu einer inklusiveren und gerechteren kulturellen Realität. Doch was genau verbirgt sich hinter der Kulturellen Bildung?
Wir möchten uns in diesem Artikel damit auseinandersetzen, wie der Kulturbegriff im Rahmen Kultureller Bildung gefasst werden kann. Dabei möchten wir uns von einem allgemeinen Kulturbegriff abgrenzen, denn es geht in diesem Kontext gerade nicht um ein Kulturverständnis im engen oder weiten Sinn. Es geht uns darum, einen Orientierungspunkt für das zu finden, was als Inhalt Kultureller Bildung unter Berücksichtigung von Hegemoniekritik verstanden werden kann.
Im Handbuch Musikpädagogik wird gefordert: „[Bei der musikalisch kulturellen Teilhabe als Bestandteil allgemeiner Teilhabe] ist aus der Sicht musikpädagogischer Forschung die gesamte Bandbreite möglicher musikalischer Praxen zugrunde zu legen, aus der Individuen allerdings immer nur Ausschnitte für sich beanspruchen.“ (Krupp-Schleußner/Lehmann-Wermser 2018:215). Doch was ist unter der gesamten Bandbreite möglicher musikalischer Praxen“ zu verstehen? Und wie kann dieses Verständnis einen Orientierungspunkt für die musikpädagogische Praxis bzw. die kulturelle Bildungspraxis bieten? Es handelt sich nicht nur um die „europäische Kunstmusik“ bzw. die sogenannte Hochkultur, so der Konsens, doch wo liegen die Außengrenzen des Gemeinten? Soll der Fokus in Zukunft lieber auf Guitar Hero, TikTok oder DSDS liegen, darauf, wie man sich richtig auf einem Rave bewegt, oder doch auf Mendelssohn, Liszt und der Sonatenhauptsatzform, weil Erstgenannte ja in der Alltagswelt schon zu Genüge vertreten sind? Die naheliegendste Antwort wäre: Alles sollte gleichermaßen vertreten sein. Sowohl die Humboldt-Kantate als auch der Wellerman, aber auch die richtige Auswahl von Bluetooth-Kopfhörern? Wo die Grenze verläuft bzw. was im Konkreten Inhalt des Musikunterrichts ist, unterliegt oft der Auswahl durch die Musiklehrkräfte. Dass diese unbewusst einem hegemonialen Fokus folgt, soll im Folgenden anhand von drei Problemen dargelegt werden.
Problem I: Offenheit und Geschlossenheit von Lehrplänen und Curricula
Das erste Problem tritt beim Vergleich der bildungspolitischen Anforderungen und der unterrichtlichen Praxis auf und hat eine Doppelstruktur. Rahmenlehrpläne und Curricula umfassen oft bewusst keine Festlegung auf Werke und Inhalte. Dadurch ermöglicht sich theoretisch eine Auseinandersetzung mit verschiedensten Inhalten und dem oben angebrachten Wunsch nach Einbezug „aller mögliche[n] musikalische[n] Praxen“ (ebd.) wird ein Spielraum gegeben. Im Konkreten ergeben sich dabei aber zwei Schwierigkeiten:
1. Die Auswahl der Unterrichtsgegenstände erfolgt durch die Lehrkraft. Die Praxen der Schüler*innen werden dabei oft als „Subtopics“ behandelt, so zeigt eine Studie von Verena Bons und Thade Buchborn (Buchborn/Bons 2020:5). Gegenüber den Schüler*innenpraxen und sogenannten fremden Praxen sowie Jazz- und Popularmusik liegt der Fokus oft auf der Analyse und dem Verständnis „europäischer Kunstmusik“, sodass hier eine Hegemonie auf mehreren Ebenen vorliegt (vgl. ebd. 2020:12). Dies lässt sich u.a. daran erkennen, wie feingliedrig zwischen einzelnen Epochen und Gattungen der eurozentristischen Kunstmusik unterschieden wird, während bei außereuropäischer Musik oft von globaler gefassten Kategorien wie „afrikanischer Musik“ gesprochen wird (Buchborn et al. i.D.:14).
2. Des Weiteren zeigt sich, dass kompetenzenorientierte Musik-Lehrpläne auf den ersten Blick die Auseinandersetzung mit unterschiedlichsten musikalischen Praxen ermöglichen. Allerdings eröffnet die genaue Beschreibung der Kompetenzen einen impliziten Fokus auf „europäische Kunstmusikpraxen“. Der Lehrplan des Landes Nordrhein-Westfalen untergliedert sich beispielsweise in die drei Kompetenzbereiche: Rezeption, Produktion und Reflexion (MSW NRW 2014:15-16) und setzt diese auch in Bezug zu gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Er bietet aber keinerlei Anhaltspunkte zu deren inhaltlicher Ausgestaltung. Die Rezeption als Kompetenzbereich bezieht sich v.a. auf das Analysieren und Interpretieren musikalischer Werke, die Produktion ist v.a. auf Improvisation, Komposition und Reproduktion angelegt und die Reflexion untergliedert sich in das Erörtern und Beurteilen, ausgehend von der Analyse und Interpretation oder der Gestaltung und Ausführung (vgl. ebd.).
Dies sind v.a. musikalische Praxen, die sich in das Unterrichtssystem einordnen und in diesem Sinne gut beobachten und bewerten lassen. Hier zeigt sich die Überformung der antizipierten musikalischen Praxis durch einen Auswahlmechanismus auf Grundlage der Passung zu den entsprechenden Kompetenzen. „Europäische Kunstmusiken“ lassen sich durch diese Zugangsweisen und die genannten Kompetenzbereiche erschließen, doch existieren auch musikalische Praxen und Zugangsformen, die durch dieses System nicht erfahrbar sind und somit nicht Einzug in den allgemeinen Musikunterricht halten könnten. Die vorgegebenen Kompetenzbereiche evozieren somit den traditionell-hegemonialen Musik- und Kulturbegriff, der im aktuellen Diskurs abgelehnt wird.
Darüber hinaus führt der ausgeprägte Wunsch nach Sichtbarkeit und Überprüfbarkeit zuweilen zu einem unterrichtsspezifischen Herantreten an den musikalischen Gegenstand, was in einigen Fällen einem „echten“ und nachhaltigen Zugang im Weg stehen könnte. In Bezug auf die Lehrpläne der Länder Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen stellen auch Dorothee Barth und Anne Bubinger (2020) fest, dass die schulische Musikausbildung derzeit auf formale Analyse und „fundierte Notenkenntnisse“ fokussiert ist (ebd.:30). Diese Ergebnisse stehen im Einklang mit den Ergebnissen der Studien von Buchborn und Bons (2020) und Buchborn et al. (i.D.).
In einer von uns durchgeführten Online-Befragung im Sommer 2021 gab der Großteil der befragten Musiklehrer*innen an, dass das Curriculum für ihre unterrichtliche Praxis durchaus von Bedeutung ist. Das wiederum bedeutet, dass das aufgeworfene Problemfeld „Curriculum“ Relevanz im Diskurs um kulturelle Bildung hat. Gleichzeitig wird es teils auch als Einschränkung wahrgenommen. So beantwortet eine Lehrkraft die Frage danach, was sie inhaltlich einschränkt: „Curriculare Vorgaben schränken ein.“
Problem II: Ausbildung von Musiklehrer*innen
Das zweite Problem fokussiert die Ausbildung von Musiklehrer*innen. Auch hier herrscht wieder eine Zweiteilung:
1. Zugangschancen zu einem Schulmusikstudium: Buchborn (2019) setzte sich bereits in einer Studie am Beispiel studierbarer Hauptinstrumente im Schulmusikstudium damit auseinander, wer in Deutschland eigentlich Musiklehrer*in wird. Wer Musiklehrer*in werden möchte, muss bereits vor dem Studium eine gute Musikerin oder ein guter Musiker in sein (vgl. ebd.:39). Unabhängig davon muss sie*er auch schon vorher über ein stilistisches Profil verfügen, das in das System Musikhochschule passt (vgl. ebd.). Die Zugangschancen für Bewerber*innen zum Lehramtsstudium sind demnach entsprechend der jeweiligen musikalisch-stilistischen Sozialisation und Profilierung unterschiedlich hoch. Der Kanon studierbarer Hauptfächer schafft eine weitere klare Grenze, die Teile musikkultureller Praxis ausklammert. Während „klassische“ Orchesterinstrumente, Gesang und Klavier prinzipiell immer angeboten werden, ist das Angebot im Bereich Jazz/Rock/Pop oft ausgedünnt und – abhängig von der Kapazität – oft eingeschränkt. Weltmusik und elektronische Musik werden überhaupt nur an vereinzelten Studienstandorten angeboten (positive Gegenbeispiele sind die Hauptfächer Zither an der Hochschule für Musik und Theater München und Songwriting an der Hochschule für Musik und Tanz Köln). Dabei spielt das Hauptinstrument während des gesamten Studiums eine wichtige und identitätsstiftende Rolle (vgl. ebd.:40).
2. Auswahl der Studieninhalte: Wie die Studie bestätigt, liegt der Fokus der im Rahmen des Schulmusikstudiums angebotenen Lerninhalte hauptfachunabhängig größtenteils auf „europäischer Kunstmusik“. Auch die von uns durchgeführte Umfrage hat ergeben, dass der thematische Schwerpunkt im Schulmusikstudium der Teilnehmer*innen zu 60 bis 90% auf klassischer Musik lag. Dieser Umstand kann wiederum die Auswahl des Unterrichtsgegenstands im Musikunterricht prägen, den die werdenden Musiklehrer*innen später selbst anbieten. Diese kulturelle Verengung und Hegemoniereproduktion des Schulmusikstudiums kritisiert darüber hinaus Ruth Wright auf internationaler Ebene (Wright 2018:18).
Problem III: Leuchtturm-Dilemma fehlender Passung kultureller Praxen
Das dritte Problem befasst sich mit der sogenannten Projektitis im Bereich der Kulturellen Bildung. Die eben beschriebene fehlende Passung von Lerner*innenkultur- und Lehrendenkulturpraxen wird, so Achim Könnecke (2012), v.a. durch nicht kontinuierliche nonformale Bildungsangebote aufgefangen, wodurch sich ein Leuchtturm-Dilemma ergibt, da an einzelnen Standorten beispielhaft auf die Problematik eingegangen wird, jedoch nicht in der Breite. So fordert Könnecke, „sollte sich die Politik vom Irrglauben verabschieden, den erschreckenden Mangel an musischer und ästhetischer Bildung sowie an Schulkultur durch singuläre Kooperations-Projektitis und durch strukturelle Instrumentalisierung der Kultureinrichtungen kaschieren oder gar beheben zu können. Kulturelle Bildung muss wieder in der Breite etabliert werden.“ (Könnecke 2012:178). Die Verschiebung des Förderfokusses auf den Projektbereich bringt wiederum zwei Probleme mit sich:
1. Sie führt zu einer ungleichen Verteilung von Bildungsangeboten, denn oft finden Projekte vereinzelt an konkreten Standorten statt und sind dabei an das Engagement einzelner Lehrer*innen oder Multiplikator*innen geknüpft.
2. Durch den begrenzten Förderrahmen von Projekten mangelt es an Nachhaltigkeit und Kontinuität (vgl. Könnecke 2012:178).
Wie sich in den drei aufgeführten Problemen zeigt, kann der theoretischen Forderung nach Abbau von Hegemonien in der kulturellen Bildung praktisch bisher nicht vollständig Rechnung getragen werden. Wir möchten im Folgenden auf den diesbezüglichen musikpädagogischen Diskurs eingehen, um dann einen Versuch zu wagen, unter Einbezug einer kultursoziologischen Perspektive den Kulturbegriff für den Bildungsdiskurs fassbar zu umreißen. Dazu werden wir zunächst mit Hilfe der von Andreas Reckwitz herausgearbeiteten Kulturalisierungsformen der Gegenwart einen Orientierungsrahmen für den Bereich der kulturellen Praxen in der Kulturellen Bildung entwickeln und daran anschließend Entwicklungspotenziale für die (schulische) Musikpädagogik aufzeigen. Abschließend möchten wir in Form einer Utopie einen möglichen Bezugspunkt zum Weiterdenken anbieten.
Musikpädagogischer Diskurs
Diskussionen um hegemoniale Strukturen im Unterricht werden auch im musikpädagogischen Diskurs geführt. Ausschlaggebende Bezugspunkte dieser Diskussion sind die Arbeiten von Dorothee Barth und Olivier Blanchard. Barths Auseinandersetzung mit dem Kulturbegriff bezieht sich auf die inter-, trans- bzw. multikulturelle Musikpädagogik. Sie spricht dabei der Definition des Kulturbegriffs Relevanz zu, da ein unreflektiertes Kulturverständnis in Abwertung, Stigmatisierung und Ausgrenzung umschlagen könnte (vgl. Barth 2000:45). Während sie die Ansicht vertritt, interkulturelle Musikpädagogik sei normative Theorie des kulturellen Respekts, also „alle Kulturen“ gleichberechtigt und gleichwertig nebeneinanderzustellen (ebd.:187), identifiziert Olivier Blanchard eine eurozentristische Position innerhalb des Feldes interkultureller Musikpädagogik. Er kritisiert, dass diese gleichberechtigte Nebeneinanderstellung nur durch ein Subjekt geschehen könnte, das außerhalb jeglicher Kulturen stünde. Dieses Subjekt kann jedoch in Realität nicht existieren, da sich kein Mensch außerhalb jeglicher kulturellen Sozialisation befinden kann (vgl. Blanchard 2018:286).
So argumentiert Barth für einen bedeutungszuweisenden Begriff von Kultur: „[...] Menschen gehören derselben Kultur [...] [an], wenn sie die Prozesse der Bedeutungsgenerierung und Bedeutungszuweisung in Bezug auf den gegenständlichen Inhalt von Urteilen oder konkrete Handlung in ihre Erscheinungsformen teilen“ (Barth 2008:166). Und wenn Bedeutungszuweisungen als ästhetische Geschmacksurteile verstanden werden, so Blanchard, wären genau diese geteilten ästhetischen Geschmacksurteile eine hinreichende Bedingung zur Bestimmung einer Kultur (vgl. Blanchard 2018:282). Um dabei jedoch nicht auf Grundlage einer kulturellen Essenz bzw. Standortgebundenheit erneut hegemonial vorzugehen, müsste eine differenzierte Unterscheidung zwischen „musikalisch-ästhetischem“ Geschmacksurteil und nicht-ästhetischen Faktoren festgehalten werden (vgl. Blanchard 2018:282).
Blanchard konstatiert, dass im schulisch-musikpädagogischen Umgang „fremde [...] Kulturen“ (Blanchard 2019:95) anhand von musikalischen Objekten beschrieben würden, die der eigenen eurozentristischen Perspektive hinsichtlich Tonhöhe, Klangdauer, harmonischem Gerüst etc. entsprechen, gegebenenfalls aber dem vorliegenden musikalischen Gegenstand nicht gerecht werden, womit letztendlich nicht mehr Offenheit und Verständnis für andere Kulturen gelernt werden. Stattdessen wird gelernt, warum etwas als andere Kultur (im Verhältnis zur eigenen) definiert wird (vgl. ebd.:288).
Auf dieser Basis kann in der Musikpädagogik, verstanden als eigenes kulturelles System, kulturelle Diversität nicht mehr als ein Nebeneinander gesehen werden. Stattdessen wäre die Kommunikation zwischen Kulturen ein hegemonialer Prozess der Herstellung einer gemeinsamen Wissensordnung (Blanchard 2018:287). Somit ist die Musikpädagogik selbst die hegemoniale Wissensordnung, auf deren Basis Unterscheidungen vorgenommen werden, solange ihr der übergeordnete Blick fehlt.
Daniel Prantl (2020) zeigt in seinem Beitrag zur Überlagerung kultureller Bruchstücke im Musikunterricht, wie eine praxeologische Perspektive auf Kultur (nach Reckwitz) eine solche veränderte Blickrichtung auf Musikunterricht herbeiführen kann. Aus praxeologischer Perspektive weisen nicht Subjekte ihrer Umwelt Bedeutungen zu, sondern werden durch die Teilnahme an und Eingebundenheit in Praktiken geformt. So werden Schüler*innen beispielsweise in unterrichtlichen Praktiken zu Schüler*innen „gemacht“ und sind im Vollzug von (musikalischen) Praxen im Musikunterricht (neben Musiker*innen) immer auch Schüler*innen. Der Vollzug einer musikalischen Praxis im Musikunterricht wäre durch die Überlagerung mit Bruchstücken der schulischen Praxis (beispielsweise der schlichten Anwesenheit einer Vielzahl von Tischen und Stühlen, die zunächst zur Seite geräumt werden müssten) immer auch eine schulische Praxis. Die Ausarbeitungen von Reckwitz sind hier Bezugspunkt für diesen praxeologischen Diskurs. Darüber hinaus und auf praxeologischer Grundlage hat er eine kultursoziologische Gegenwartsanalyse hervorgebracht, die im Folgenden zur Betrachtung der Problematik herangezogen wird.
Kulturalisierung
Reckwitz identifiziert in der aktuellen Gesellschaft, die er als Gesellschaft der Spätmoderne bezeichnet, eine Tendenz zur Singularisierung (Reckwitz 2019/2021). Singularisierung bedeutet in diesem Zusammenhang das Hervorheben von etwas als unaustauschbar und besonders. Durch Singularisierung spricht man einem Gegenstand, einem Ereignis, einer Person etc. den Wert zu, Kultur im engeren Sinne zu sein. Die Unterscheidung zwischen Kultur im engeren und im weiteren Sinne vollzieht sich nach Reckwitz durch die Zugehörigkeit zum Kulturellen im Allgemeinen (Kultur im weiteren Sinne), sodass „gewissermaßen alles Kultur“ ist (Reckwitz 2019:32), und zur „Kultursphäre“ (Kultur im engeren Sinne).
Grenzen der Kultursphäre definieren sich dadurch, dass etwas valorisiert, ihm also Wert zugesprochen wird (ebd.:33). Singularisierung (als Form der Valorisierung) zeigt sich auch in den zwei sich gegenüberstehenden Kulturalisierungsformen, die Reckwitz Kulturalisierung I und Kulturalisierung II nennt. Kulturalisierung I, die „Hyperkultur“ (ebd.:36), beschreibt die Singularisierung des Individuums. Sie schlägt sich etwa im gewählten Lebensstil als Konglomerat unterschiedlichster Bereiche der Kultur im engeren und im weiteren Sinne nieder. Durch eine möglichst diverse und unverwechselbare Zusammenstellung verschiedener kultureller Praxen im eigenen Lebensstil tritt das Individuum als Singulär und (der Logik der Singularisierung folgend) damit als wertvoll hervor. Ein Beispiel hierfür wäre die klavierspielende und Metal-hörende Qi-Gong-Lehrerin, die am Wochenende U-Bahnen mit Graffiti besprüht. Demgegenüber beschreibt die Kulturalisierung II, der „Kulturessenzialismus“ (ebd.:42), die Singularisierung eines Kollektivs durch eine Singularisierung nach innen und eine Abgrenzung nach außen. Letzteres geschieht durch Rationalisierung und Entvalorisierung des Kollektivaußens. Das singularisierte Kollektiv gilt beim Kulturessenzialismus als Referenzpunkt der Kultur und Verhaltensspielraum der Individuen.
Während diese beiden Kulturalisierungsformen den spätmodernen Blick auf den Gegenstand der Kultur gleichermaßen prägen, so erscheinen sie dennoch als ungeeignete Blickwinkel für die Suche nach dem Kulturbegriff im Bildungsdiskurs. Würde man den Kulturbegriff aus einer kulturessenzialistischen Perspektive begreifen, würde der Fokus dessen, was Gegenstand Kultureller Bildung sein kann, sich auf die jeweilige Perspektive aus dem singularisierten Kollektiv heraus verengen. Das würde nicht nur eine Einschränkung, sondern auch eine hegemoniale Logik bei der Auswahl der Kulturellen Bildungsinhalte zur Folge haben.
Während der hegemoniale Fokus beim Kulturessenzialismus vergleichsweise deutlich zu erkennen ist, scheint die Hyperkultur zunächst eine große Offenheit mit sich zu bringen, die der Forderung nach „allen möglichen musikalischen Praxen“ (Krupp-Schleußner/Lehmann-Wermser 2018:215) gerecht werden könnte. Die schier unüberschaubare Vielfalt der möglichen Inhalte Kultureller Bildung würde jedoch in der Praxis eines Auswahlmechanismus bedürfen, der mit großer Wahrscheinlichkeit einer Marktlogik folgen würde. Subjekte mit höherem ökonomischem, kulturellem oder sozialem Kapital (vgl. Bourdieu 1987) könnten durch ihr Konsumverhalten oder ihre Multiplikator*innenstellung über die Auswahl Kultureller Bildungsinhalte entscheiden, was wiederum eine hegemoniale Struktur stärken würde.
Die folgende Grafik stellt das hier beschriebene Problem dar. Durch einen sich sukzessive erweiternden Bereich dessen, wozu Kulturelle Bildung Zugang schaffen soll (da immer mehr kulturelle Praxen in diese eingeschlossen werden), erweitert sich auch der Kreis derjenigen, für die der Zugang „gelegt“ werden muss. Wenn jede*r an jeder kulturellen (Alltags-) Praxis partizipieren können soll, so ist auch die Gruppe derjenigen, die in Bezug auf den einen oder anderen Bereich Barrieren überschreiten müssen, ansteigend. Im Prinzip geschieht hier auf Ebene Kultureller Bildung das, was Hartmut Rosa als dynamische Stabilisierung auf der gesellschaftlich, strukturellen Ebene beschreibt und auf der kulturellen Ebene mit dem Prinzip einer unablässigen Reichweitenvergrößerung erklärt (Rosa 2005; 2016; 2018; 2021). Es bräuchte zahlreiche Multiplikator*innen und würde auf einen überschaubaren Aufwand hinauslaufen, dessen Ziel in seiner Sinnhaftigkeit noch hinterfragt werden müsste.
Aber müsste jede*r zumindest die Möglichkeit haben, wirklich zu allem Zugang zu erlangen? Und wo endet dieses „Alles“? Gerade letztere Frage zielt wieder auf die Außengrenze des Kulturellen in Kultureller Bildung ab. Und hier wartet Reckwitz noch mit einer dritten Form der Kulturalisierung auf: Kulturalisierung III, der neue Kulturuniversalismus. Dieser soll nicht elitistisch oder ethnozentristisch gedacht werden, sondern als fortwährender Aushandlungsprozess dessen, was für alle, unabhängig von Gruppenzugehörigkeiten, als wertvoll gilt. Hier schließt sich der Kreis der Suche nach dem, was als Kultur in Kultureller Bildung verstanden werden könnte. Kultur bedeutet demnach Aushandlung. Aufgabe der Kulturellen Bildung in schulischen Kontexten und außerhalb dieser wäre es, das zugänglich zu machen, was in gemeinsamer Aushandlung als kulturell wertvoll in Erscheinung tritt. Diese Aushandlung kann dann nicht nur innerhalb der Politik, Wissenschaft oder nur in der (Schul-)Praxis geschehen. Vielmehr wäre ein Austausch zwischen diesen Ebenen notwendig, sodass ein erstrebenswertes Teilziel die Stärkung des Wissenstransfers und die Förderung der Partizipation aller an diesem Diskurs wäre.
Was tun? Transfer in den musikpädagogischen Diskurs – Konsequenzen für die (schulische) Musikpädagogik
Wie wir durch unseren Problemaufriss und die Studien von Buchborn et al. (2021/i.D.) dargelegt haben, befolgen Lehrpläne allgemeinbildender Schulen des Fachs Musik implizite Priorisierungen hinsichtlich musikalischer Gegenstände, die im Unterricht verhandelt werden sollen. Auch der Zugang zum Studium ist durch hegemoniale Strukturen geprägt. Von Bewerber*innen wie Absolvent*innen wird jedoch grundsätzlich stilistische Vielfalt und Flexibilität gefordert, wenn es um Ermöglichung von Teilhabe an allen Praxen geht. Durch die limitierten Studienangebote haben Lehrende für die Schule aber von vornherein nur einen kleinen Ausschnitt musikalischer Gegenwartskultur kennenlernen können, welchen sie später im Unterricht vermutlich eher fokussieren werden.
Für den Transfer zurück in die musikpädagogische Diskurs- und Unterrichtspraxis schließt sich nun die Frage an: Was tun? Wagt man angesichts der oben beschriebenen Problematik ein utopisches Gedankenspiel, so lässt sich aus den Studien zur Problematik der Curricula und Strukturen innerhalb der formalen, musikalischen Bildungseinrichtungen der Vorschlag eines Open-Source-Curriculums ableiten. Gedacht sei dies als eine sich stetig fortschreibende, gemeinsame Aushandlung wechselnder, zufällig ausgewählter Expert*innengruppen unter Einbezug von Schüler*innen, Lehrer*innen, Wissenschaftler*innen etc., welche je für einen definierten Zeitraum gemeinsam an diesem Projekt arbeiten. Ziel wäre es, durch die ständige Aktualisierung immer die gerade relevanten Musikpraxen abzubilden sowie einen jeweils angemessenen Umgang mit diesen Praxen. Durch die gemischte Zusammensetzung des Expert*innengremiums könnten sowohl historische als auch aktuelle Praxen und nicht-eurozentristische Praxen adäquat abgebildet werden.
Eine musikdidaktische Überlegung zum Umgang mit dieser Problematik bietet Christopher Wallbaums Idee, nach welcher nicht mehr „die Kulturen“ oder „die Musikstile“ an sich als Gegenstand des Musikunterrichts verhandelt werden, sondern deren inhärente Praktiken extrahiert und von den Beteiligten zu eigenen „Schulmusikpraxen“ gemacht werden. Dieser Ansatz, Musikpraxen erfahren und vergleichen, kurz Mev, soll über ästhetische Praxis hinaus auch musikkulturelle Orientierungskompetenz vermitteln. Mev füllt verschiedene „Körbe“ mit vielfältigen, musikalischen und musikbezogenen Kulturtechniken, aus welchen sich der Unterrichtsinhalt generiert. Im einzelnen Korb befinden sich dann Techniken und Qualitäten mit Familienähnlichkeit (vgl. Wallbaum 2013:34). Ziel ist es, erfüllende Musikpraxen aus den Körben zu gestalten, die als gemeinsame Erfahrungsgrundlage dienen, auf welcher sich wiederum Vergleiche dieser Schulmusiken vornehmen sowie verallgemeinernde Fragen aufwerfen und beantworten ließen (ebd., vgl. Abbildung 3).
Die Körbe aus Praktiken einer bestimmten Praxis geben eine gewisse Eingrenzung von gegebenen Mitteln vor. Auf der horizontalen Ebene betrachtet, können im Unterricht eine Reihe verschiedener Musikpraxen gestaltet und vollzogen werden. Für einen Lehrplan nach dieser Konzeption wäre die Vorgabe sinnvoll, dass Schüler*innen im Laufe ihrer Schulzeit aus jedem Korb eine Mindestzahl von Musiken praktiziert haben sollten. Die gemeinsame Aushandlung und Verständigung über den jeweils nächsten Korb führt nach Wallbaum dazu, dass vergleichend schon erfahrene Musikpraxen herangezogen werden, um die Eigenheiten jedes Korbes zu befragen. Allerdings ist nicht geklärt, nach welchen Kriterien Körbe bestückt oder unterschieden werden können, wenn die Anzahl zwar überschaubar sein, jedoch auch Praktiken aller Arten musikalischer Praxis Platz bieten soll (vgl. Wallbaum 2018).
Das Modell von Mev bietet nach Wallbaum einen Lösungsansatz für das Problem, dass einzelne Musikkulturen im Unterricht nicht einfach nachvollzogen werden können, da der Richtigkeitsaspekt schnell der ästhetisch erfüllten Wahrnehmung im Wege stehen kann und auch keine universal kulturübergreifenden Urphänomene kulturunabhängig praktizierbar sind (vgl. Wallbaum 2013). Damit stellt es eine attraktive Option für einen antihegemonialen Zugang zu kulturellen Praxen dar, löst jedoch nicht das Problem der Auswahl, dem wir uns in diesem Text gestellt haben. Denn nach wie vor müsste entschieden werden, welche Praktiken aus welchen Praxen aus den Körben genommen und in den Unterricht gebracht werden sollten.
Diesem Problem könnte, über den Vorschlag des Open-Source-Curriculums hinaus und vielleicht weniger utopisch, eine regelmäßige Überarbeitung von Studiengängen hin zu demokratischeren Strukturen und die Erweiterungen von instrumentalen Hauptfächern nachhaltig zu veränderten musikalischen Praxen innerhalb des Systems Musikhochschule und Schule führen. Auch in der Forschung ist es letztlich notwendig, den Blick stets zu weiten und die Kommunikation in und zwischen Praxisfeldern voranzutreiben. In jüngster Zeit sind derartige Ansätze bereits zu beobachten. Beispielhaft sei zum einen auf das Projekt „Witra Kubi (Wissenstransfer in der kulturellen Bildung)“ verwiesen, welches mit mehreren Veranstaltungsformaten diesen Austausch speziell in der kulturellen Bildung fördert (vgl. Unterberg 2020). Zum anderen sei das Projekt „MOkuB (Musikvereine als Orte kultureller Bildung)“ erwähnt, welches sich speziell mit der Rolle von Musikvereinen in ländlichen Regionen für die Musikalisch-Kulturelle Bildung befasst und dabei besonderen Wert auf die Vernetzung im und mit dem Forschungsfeld legt (vgl. Lessing 2021).
Fazit
„Im Plural zu existieren wird auch heißen, jenes Wissen ernst zu nehmen, das als weniger wertvoll gilt, nur weil es hinzugekommen ist. In der schulischen Bildung ist dieses Wissen, sind diese Perspektiven bislang unterrepräsentiert. Die Literatur, Kunst- und Kulturgeschichte nicht nur der europäischen, sondern auch der außereuropäischen Gesellschaften, wird in den Bildungseinrichtungen erstaunlich vernachlässigt. Dieser enge schulische Kanon ist den Anforderungen einer globalisierten Welt und der Lebenswirklichkeit einer Einwanderungsgesellschaft nicht ausreichend nachgekommen.“ (Emcke 2016:205)
Was Carolin Emcke hier aus publizistischer Sicht beschreibt, streift großflächig unser aufgeworfenes Problem: Die Auswahlkriterien für Inhalte kultureller Bildung sind noch an zu vielen und teils versteckten Stellen hegemonial. Hegemonialität entsteht zwischen Lehrer*innenautorität und der Alltagswelt der Schüler*innen, zwischen verschiedenen Stilistiken und Instrumenten im Rahmen des Hauptfachs für das Lehramtsstudium, im Lehramtsstudium durch eine stilistische Gewichtung der angebotenen Lehrveranstaltungen, durch eine implizite Hierarchisierung notationsgebundener Musik in den Curricula, durch eine eurozentristische Blickrichtung auf nicht-eurozentristische Musikpraxen, durch eine leuchtturmartige Förderung von Projekten Kultureller Bildung zur Kompensation benannter Problematiken und nicht zuletzt durch einen mangelnden Austausch zwischen Wissenschaftsfeld und Praxisfeld.
Auf Grundlage unserer oben entfalteten Überlegungen unter Einbezug der kultursoziologischen Perspektive von Reckwitz lässt sich schließen: Der Begriff „Kultur“ in der Kulturellen Bildung ist kein Gegenstand, sondern ein Diskurs. Dieser Diskurs muss in der Theorie und in der Praxis und v.a. zwischen diesen stattfinden.
Die Überlegung zu einem dynamischen Open-Source-Curriculum weist zwar eine ferne, utopische Dimension auf, was sich aber als Konsequenz ableiten lässt, ist die Fokussierung auf kommunikative Aushandlungsprozesse in jeder kleinen alltäglichen Handlung innerhalb des Rahmens Kulturelle Bildung, sei es im Dienste der Wissenschaft oder der Praxis. Somit wäre es auch Aufgabe von Forschenden, „nicht hochkulturelle“ Bereiche anzuerkennen und sie als gleichberechtigte Praxen in den Diskurs miteinzubeziehen. Der Kulturbegriff in der kulturellen Bildung darf sich öffnen und braucht dafür einen stetigen, kommunikativen Wissenstransfer zwischen Praxis und Wissenschaft. Dieser sollte hegemoniesensibel, inklusiv und generationenübergreifend stattfinden. Am Schluss unserer Überlegungen stehen deshalb Fragen, die die Frage „Was tun?“ auffächern: Wie kann das gelingen? Welche Plattformen können wir nutzen? Wie kann dafür sensibilisiert werden? In welchen Alltagshandlungen kann jede*r Einzelne für sich damit beginnen, sensibel und mutig diese Aushandlung anzuregen?