Überforderung, Überforschung, Überlagerung... Versuch über die Grenzen der Wirksamkeit kultureller Bildung
Der Preis der heutigen Konjunktur kultureller Bildung ist eine fürsorgliche Belagerung durch unterschiedliche Akteure. Noch ist es unklar, welche Motivationen – neben den öffentlich geäußerten – letztlich jeweils dahinter stehen. Doch könnte es sein, dass das vielfältige neue Interesse dem Arbeitsfeld weniger zuträglich ist, als man es sich erhofft.
Neben der naheliegenden Überlegung, ob das Interesse lange genug anhält, so dass es zu einer Stabilisierung des Feldes führt, oder ob die geschürten Hoffnungen nicht doch bald enttäuscht werden, könnten einige weitere, eher grundsätzliche Überlegungen zu den Problemen, die die neue Konjunktur mit sich bringt, nützlich sein. Allerdings handelt es sich um vorläufige Überlegungen, die oft spekulativ und möglicherweise eher pessimistisch sind. Ich habe sie in drei Abschnitte aufgeteilt: Überforderung, Überforschung, Überlagerung. Was diese – vielleicht nicht immer geschickt gewählten – Stichworte jeweils bedeuten, erschließt sich im Text.
Überforderung
„Kultur" und „Bildung" sind im heutigen Verständnis zwei zusammengehörige Begriffe, zwei Seiten derselben Medaille. Sinnvoll und einleuchtend ist die Aussage (so etwa bereits Adorno oder auch H. Nohl), dass Bildung die subjektive Seite von Kultur und Kultur die objektive Seite von Bildung sei. Ist Kultur die Gesamtheit dessen, wie der Mensch die Welt zu seiner macht und dabei gleichermaßen sich und die Welt gestaltet, so kann man Bildung als den je subjektiven Anteil an diesem Prozess verstehen. Damit sind zugleich wichtige (gemeinsame) Bestimmungsmomente genannt: Tätigkeit und Aktivität, der Zusammenhang von Welt- und Selbstverhältnissen, dass Prozesshafte. Soweit, so gut.
Beide Begriffe lassen sich zudem anthropologisch begründeten: Der Mensch ist ein kulturell verfasstes Wesen (etwa auf der Grundlage von Ernst Cassirer oder Helmut Plessner; vergleiche auch Fuchs 2008). Bildung meint dann – verstanden als Entwicklung eines bewussten Verhältnisses zu sich, zu anderen, zur sozialen, gegenständlichen und kulturellen Umwelt und zur Zeit (Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft) – die Ausformulierung und Ausdifferenzierung einer anthropologischen Mitgift. In diesem Verständnis lassen sich etwa Subjektbegriff (der den Akzent auf die Handlungsfähigkeit und Intentionalität des Einzelnen legt, Fuchs 2012), der Personenbegriff (Person als reflektiertes Selbst, als Trägerin von Rechten und Pflichten, Weigand 2004), das autonome Individuum (das im sozialen Kontext seine Individualität ausprägt, Gerhardt 2000) in ihrem gemeinsamen Kern verstehen.
So harmonisch also in einer systematischen Perspektive die beiden Begriffe Kultur und Bildung, zusammen passen, so zeigt ein historischer Zugriff jedoch, dass ihre Entwicklungsverläufe verschieden sind und der beschriebene enge Zusammenhang recht jung ist, nämlich nicht älter als etwa 200 Jahre.
Der Kulturbegriff hat eine lange Traditionslinie, wobei man die Geburtsstunde auf die Parallelisierung von cultura agri und cultura animi durch Cicero festlegen kann: Es geht um die Pflege des Geistes, also um seine Kultivierung, die in Analogie zur Landwirtschaft gesehen werden soll. Es geht also Achtsamkeit und Planung, um Wachsen und um Schutz, es geht um einen erhofften Ertrag als Teil der Sicherung der Zukunft. Allerdings verschwand dann der Kulturbegriff etliche Jahrhunderte aus der öffentlichen Diskussion, bis er nach einem Zwischenspiel im 17. Jahrhundert (Thomasius, Pufendorf) schließlich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts (wie Moses Mendelssohn sagt: zusammen mit Bildung und Aufklärung als Neuankömmling in der deutschen Sprache) zu einem zentralen Begriff im Diskurs der Intellektuellen dieser Zeit wird. Hierbei spielt insbesondere Herder eine wichtige Rolle, der ihn zugleich als Pluralitätsbegriff (Kulturen) verwendete, um die verschiedenen menschlichen Lebensformen auf der Erde als gleichwertige zu erfassen. Rund um die Jahrhundertwende 1800 wurde dann der Bezug zu den Künsten und zur Bildung hergestellt, wobei insbesondere Schiller und sein Freund Wilhelm von Humboldt eine zentrale Rolle spielen. Bildung und Kultur wurden bis tief ins 19. Jahrhundert dann oft synonym verwendet. (Fuchs 2008b, Bollenbeck 1994)
Ganz anders war die Geschichte des Bildungsbegriffs (aus einer Fülle von Darstellungen siehe beispielsweise Benner/Brüggen2010, Vierhaus 1972). Der Wortbestandteil Bild in diesem Begriff war durchaus ernst gemeint und ist aufschlussreich bei der Verwendung des Bildungsbegriffs bis in die heutigen Tage: Es geht nämlich um das Bild Gottes (imago dei), das der Mensch gemäß der Bibel darstellt. Viele religiöse Assoziationen sind damit verbunden, die bis heute eine Rolle spielen, etwa die creatio ex nihilo, die Schöpfung aus dem Nichts, die für viele die aktuelle Wertigkeit von Kreativität ausmacht. Für Goethe war Bildung der „Adelsschlag des Bürgers“, und in der Tat waren die bildungstheoretischen Überlegungen gerade von Schiller und Humboldt aufs engste mit politischen Erwägungen und mit der neuen neuen Rolle des Bürgers in einer sich konstituierenden bürgerlichen Gesellschaft verbunden (Liberalismus). So enthält der – erst viel später publizierte – Text des jungen Humboldt (1999) über die „Grenzen der Wirksamkeit des Staates“, bei dem ich mit meinem Untertitel offensichtlich eine Anleihe gemacht habe, wichtige Bestimmungen des Bildungsbegriffs: Es geht um die wechselseitige Erschließung von Mensch und Welt, es geht darum, dass der Mensch so viel Welt in sich aufnehme, wie er kann, es geht um die alte Idee, dass der Mensch werde, was er ist. Und all diese Überlegungen waren eingebunden in eine politische Vision. Denn viele Akteure teilten die Überzeugung, dass – insbesondere nach dem Jakobinerterror der Französischen Revolution – nur eine Reform der richtige Weg einer Gesellschaftsveränderung sei, wobei diese Gesellschaftsreform durch die Bildung des Bürgers durchgesetzt werden solle.
Genau hier liegt dann auch der entscheidende Übergang vom Aufklärungsdenken zum Denken des Neuhumanismus, so wie es in den 1795 veröffentlichten „Briefen zur ästhetischen Erziehung“ von Friedrich Schiller (1959) seine Grundlegung erfuhr. Aus der politischen Vision des Sturm- und Drang-Dichters wurde eine (bloß) geistig-ästhetische Reform, die durch ästhetische Bildung bewirkt werden soll. Der Mensch verwirklicht sich nicht mehr über die politische Tat, sondern er gewinnt eine (bloß noch) innere Freiheit in einer ästhetisch verstandenen Kultur. Die kurze Liaison von Kunst, Kultur, Bildung und Politik wurde quasi aufgebrochen und Letztere – so der deutsche Sonderweg im 19. Jahrhundert – von den ersten drei abgespalten:
„Das Bildungsideal konzipiert… die Menschheit nur im Individuum und schmälert den Weltbezug des Bildungssubjekts, auch wenn es vom autonomen Individuum verlangt, die Welt sich selbst einzuverwandeln. Es geht davon aus, dass in jedem Menschen die Anlage zum idealen Menschen zu finden ist, doch überspringt es dabei sozusagen den Citoyen wie den Wirtschaftsbürger. Mit ihm lassen sich Arbeit und Gesellschaft nicht denken, obwohl es sich auf die Arbeitsteilung, auf die Abrichtung des Menschen zur Nützlichkeit für den absolutistischen Maschinenstaat oder die bürgerlichen Gewerbe kritisch bezieht.“ (Bollenbeck 1994:171).
Diese Abspaltung setzte sich im 19. Jahrhundert fort und erhielt eine sprachlich fulminante, politisch aber katastrophale Grundlegung in den „Betrachtungen eines Unpolitischen“ von Thomas Mann (1990) im Kontext des Ersten Weltkrieges. Alle Probleme mit dem Bildungsbegriff finden sich in dieser grundlegenden Arbeit: nicht nur die Trennung des geistigen Menschen von der Politik (Politik ist ein schmutziges Geschäft), auch die Abwendung von dem Alltag und den alltäglichen Bemühungen um das Überleben (Wirtschaft, Technik). Die politische Unfähigkeit des Bürgertums bekam hier höhere Weihen und eine höchstinstanzliche Legitimation. Auch der nationalistische Größenwahn, das übersteigerte Selbstwertgefühl verbunden mit dem Gefühl, zu kurz gekommen zu sein, die politische, schon legendäre Verspätung der deutschen Nation: Brilliant hat Helmut Plessner (1974) eine Bilanz dieser unseligen geistesgeschichtlichen Entwicklung gezogen.
Bis in unsere Tage finden sich solche Gedanken, etwa in Verbindung mit der Idee eines Kulturstaates, die letztlich auf Hegel und Fichte zurückgeht und die aufs engste mit der letztlich nichtdemokratischen Dominanz des Staates im Protestantismus verbunden ist. Die Idee eines Kulturstaates ist in dieser Form in keinem anderen westlichen Land zu finden und löst – gerade in der demokratischen angelsächsischen Tradition, in der die Gesellschaft eine sehr viel größere Rolle als der Staat spielt – vollständiges Unverständnis aus.
Das Bürgertum hat heute an Bedeutung verloren. In soziologischer Hinsicht ist es die Pluralisierung der Lebensstile, die zu seiner Bedeutungslosigkeit geführt hat. Und dort, wo es noch existiert, braucht es offenbar nicht mehr die Medien des 19. Jahrhunderts zur Entwicklung und Stärkung einer eigenen Identität. Und genau für diese Zwecke brauchte allerdings das Bürgertum die bis heute existierende kulturelle Infrastruktur an Theatern, Opernhäusern, Museen etc. und ein dazugehöriges Verständnis von Kunst als autonome Kunst (Nipperdey 1990).
Dieses religiös und politisch imprägnierte Konzept von Bildung, die über eine entsprechend verstandene (ästhetische) Kultur entwickelt werden soll, führte allerdings nicht zu der von Humboldt beschriebenen allseitig entwickelten Persönlichkeit, sondern letztlich zu dem Untertan der wilhelminischen Gesellschaft (so der berühmte Roman von Heinrich Mann) und einer Gruppe sich als Geistesaristokratie verstehenden Mandarine (Ringer 1983), die eine äußerst problematische Rolle in der Gesellschaft und speziell auch in der Pädagogik gespielt hat. Die Trägerschicht war das Bildungsbürgertum, das durchaus eine gewisse Definitions- und Deutungsmacht in der Wilhelminischen und später der Weimarer Gesellschaft hatte und beanspruchte. Dieser enge Zusammenhang einer bestimmten Auffassung von Religion, von Innerlichkeit, von Politikfeindschaft, von Alltagsabwehr, von Staatshuldigung: Sie wird nur mühsam überdeckt durch die Versuche seit 200 Jahren, beide Begriffe in – ursprünglich durchaus vorhandener – emanzipatorischer Absicht zu retten. (etwa H.-J. Heydorn 1970). Bollenbeck beschreibt den Glanz und das Elend dieses deutschen Deutungsmuster „Bildung und Kultur“ und kommt zu dem Fazit:
„Mit der erledigten Geschichte des Deutungsmusters muss die Idee der „Bildung“ und „Kultur“ noch nicht erledigt sein. Wer sich freilich heute auf deren emphatisch-genuinen Sinn beruft, der wirkt altzopfig und nostalgisch. Das Konzept kann nicht gerettet werden, selbst wenn man es gegen seine Verwendungsgeschichte aufpoliert.“ (Bollenbeck 1994:312)
Man macht sich also vielleicht das Leben unnötig schwer mit diesen beiden Begriffen, da auch im internationalen Kontext eine pädagogisch-politische Kommunikation mit beiden Begriffen nur schwer möglich ist: Sie sind aufgrund ihrer starken ideologischen und historischen Belastung schlichtweg nicht übersetzbar.
Vor diesem Hintergrund war der damalige Ansatz des Bundesjugendkuratoriums, mit dem Begriff der Lebenskompetenz einen Ersatz zu finden, durchaus einleuchtend (Münchmeier 2002). Denn möglicherweise braucht man doch eine längere Zeit, bis der problematische geistige Hintergrund der beiden Begriffe aufgearbeitet ist, so dass man sie wieder für die Beschreibung einer emanzipatorischen Persönlichkeits- und Gesellschaftsentwicklung verwenden kann. Die Frage ist, ob es alternative Begriffe gibt, die Vergleichbares leisten können.
Vielleicht steckt in der Antwort auf diese Frage der Schlüssel für die Lösung des Problems, dass das unbewusste kollektive Gedächtnis bei „Bildung“ und „Kultur“ immer wieder zurückliegende und eigentlich überwundene Ziele und Ambitionen mobilisiert. Man muss sehen, dass der deutsche geistige Sonderweg eines Zusammenhangs von Kultur, Staat, Bildung, Bürger, Weltgeltung und Überlegenheit im 19. Jahrhundert auf politischer Ebene zu einem zumindest autoritären und undemokratischen Regime nach dem anderen geführt hat, wobei der erste Weltkrieg fast eine unvermeidbare Konsequenz war, dass schließlich das distanzierte Verhältnis der „Geistesaristokratie“ zur ersten deutschen Demokratie bei vielen Mandarinen der geistigen Welt legitimiert wurde durch diesen von ihnen nie aufgearbeiteten problematischen Zusammenhang, was schließlich auch den Boden mit bereitet hat für ein barbarisches Mörderregime. Die Geschichte der beiden Leitkategorien ist daher zumindest ambivalent zu nennen (Bollenbeck 1994 spricht von „Glanz und Elend“). Nötig sind daher Begrifflichkeiten, die weniger ambitioniert daherkommen, die zwar die Entwicklung der Persönlichkeit durch ästhetische Praxis erfassen, ohne in totalitäre Weltverbesserungs- oder sogar -machtideologien abzugleiten. Notwendig wäre daher auch, sich sehr viel intensiver mit historischen und theoretischen Fragen in diesen Kontext zu befassen. Damit komme ich zu dem zweiten Teil.
Überforschung
Es ist mir bislang noch kein besserer Begriff für die Bezeichnung des Phänomens eingefallen, dass mit der derzeitigen Konjunktur kultureller Bildung auch eine erhebliche Konjunktur ihrer Erforschung einhergeht. Nun ist Forschung natürlich nichts Schlechtes, sie ist sogar wesentlich für die Verwissenschaftlichung und Professionalisierung eines Feldes. Allerdings ist Forschung per se auch nichts uneingeschränkt Positives, sie ist kein Wert an sich. Man erinnere sich, dass auch die schrecklichsten Möglichkeiten, sich und die Welt zu zerstören, auf Forschung beruhen. Es ist also stets nach Interessen, Zielen, Methoden, Akteuren, Auftraggebern, Ergebnissen und ihrer Nutzung zu fragen. So ist zu fragen, was erforscht wird – und was die Forschung nicht erfasst. Versuchen wir eine erste vorläufige Annäherung.
Über Interessen, über die Frage von Macht, Einfluss und Deutungsrecht wird zurzeit im aufblühenden Forschungskontext überhaupt nicht gesprochen: Die derzeitige Forschungseuphorie ist zumindest politisch blind. Sie will bestenfalls eine Dienstleistungsfunktion für Auftraggeber erfüllen und stellt sich ohne weiteres Nachdenken in den Kontext einer „evidenzbasierten Politik“. Politik, so ist zu erinnern, heißt Steuerung, so dass die derzeitige Forschung eine Form von Politikunterstützung ist, ohne sich dies freilich einzugestehen und zu reflektieren. Dies darf man durchaus technokratisch nennen. Als „evidenzbasiert“ wird jedoch nicht jede Form von Forschung bewertet. So fallen die oben angesprochenen Fragestellungen einer historischen und theoretischen Forschung fast völlig unter den Tisch: Es besteht offensichtlich kein Interesse an der Analyse von Herkunft und Tragweite der Grundbegriffe, zumindest werden solche Forschungen in den nun aufgelegten Forschungsprogrammen nicht unterstützt. Im Hinblick auf die Forschungsmethoden wird das Spektrum nämlich erheblich eingeschränkt auf erfahrungswissenschaftliche Methoden, wobei auch hier quantitative empirische Methoden eindeutig den Vorrang vor qualitativen Methoden haben. Das Grundproblem besteht hierbei darin, dass bekanntlich der Forschungsgegenstand durch die zur Verfügung stehenden und angewandten Methoden konstituiert wird: „Bildung“ ist das, was durch die angewandten Methoden gemessen werden kann. Eine inzwischen angewachsene Diskussion rund um die Methodenprobleme bei PISA zeigt dies. Die Auswahl der Methoden wird jedoch von den Auftraggebern in den Ausschreibungen festgelegt. Die Forschungslandschaft ist also erneut politisch blind, da auch dies kaum diskutiert, sondern als gesetzt hingenommen wird.
Halten wir fest: Forschung ist nicht wertfrei. Sie ist dies erst recht dann nicht, wenn sie sich als Teil einer Evidenzbasiertheit von Politik versteht, wobei sie lediglich eine Zulieferungsfunktion an Instanzen hat, die dann die Verwertung und Anwendung für die Steuerung eines Feldes nach Zielen übernehmen, die nicht immer klar sind, in jedem Fall jedoch nicht mit und in der Forschung diskutiert wurden.
Zur Handlungslogik der derzeitigen Forschung gehört auch, dass recht pauschal über kulturelle oder – lieber noch – über ästhetische Bildung verhandelt wird. Schon der Übergang in der Begrifflichkeit ist nicht unwichtig, denn die Reflexionsbemühungen um kulturelle Bildung in den letzten Jahrzehnten und die damit verbundenen Praxis haben seit den 1970er Jahren im Rahmen einer neu konstituierten Kulturpädagogik die politische und gesellschaftliche Dimension der ästhetischen Praxis stets mitgedacht. Dies auszuklammern zu Gunsten einer (bloß noch) „ästhetischen Bildung“ bedeutet, sich kategorial der Notwendigkeit zu entheben, die komplizierte und problematische Wirkungsgeschichte der Begrifflichkeiten und des Praxisfeldes überhaupt erst in den Blick zu nehmen.
Zudem ist eine gewisse Undifferenziertheit festzustellen. Viele der Forscher kommen aus dem schulischen Kontext und haben den Unterschied der Kontexte schulisch/außerschulisch nicht im Blick. Es geht nur um eine ästhetische Praxis ohne Berücksichtigung der institutionellen Rahmung. Damit wird zum einen der Schleiermachersche Grundsatz, dass die Verhältnisse erziehen, ignoriert, es wird zudem automatisch die dominierende Schulperspektive auf jede ästhetische Praxis innerhalb und außerhalb der Schule angewandt. Die Schule ist jedoch – anders als Jugendarbeit – in Deutschland ganz selbstverständlich fest in der Hand des Staates, so dass hier klammheimlich das etablierte staatliche Steuerungsmodell auch auf einen bislang staatsfernen Bereich übertragen wird. In anderen mitteleuropäischen Ländern ist es nicht immer der Staat, der in den Steuerungsgremien der Schule mitwirkt, sondern oft genug gesellschaftliche Organisationen. Da sich dies jedoch kaum in Zukunft ändern lassen wird, ist es umso wichtiger, Bildungs- und Erziehungsbereiche zu haben, in denen andere Steuerungsideen praktiziert werden. So ist es im Bereich der Jugendhilfe sogar ausdrücklich erwünscht, dass es Träger mit unterschiedlichen weltanschaulichen Überzeugungen gibt, damit die Jugendlichen ihre eigene Wahl treffen können (Prinzip Freiwilligkeit). Zudem spielen Partizipation und demokratisches Handeln, Subjektorientierung, Lebensweltorientierung, Stärkenorientierung etc. eine ganz andere Rolle, als dies im System Schule möglich ist. All dies hat entscheidenden Einfluss auf das Verständnis von Pädagogik, wobei es nicht um Kategorie schlechter/besser geht, sondern um die Verschiedenheit des pädagogischen Umgangs.
Die Konzentration auf die unmittelbaren personalen Wirkungen einer ästhetischen Praxis – so relevant dies auch ist – blendet zudem eine wichtige Facette aus, die während der letzten Konjunktur kultureller Bildung in den 1970er Jahren eine wichtige Rolle gespielt hat: Kulturelle Bildung war seinerzeit so stark im Rahmen einer neuen Kulturpolitik (als Gesellschaftspolitik) betont worden, dass diese geradezu als kulturelle Bildungspolitik verstanden werden konnte. Ein hochinteressantes Faktum ist dabei, dass im Kontext der konzeptionellen Fundierung dieses Ansatzes (etwa bei Hermann Glaser) Schiller mit seinen Briefen zur ästhetischen Erziehung eine entscheidende Rolle gespielt. Es ging offensichtlich darum, den humanistischen Kern eines durch die Geschichte diskreditierten Ansatzes wiederzugewinnen. Ein erfahrungswissenschaftlicher Ansatz, der die theoretische und historische Dimension der aktuellen Konzepte vernachlässigt, kann eine solche Fragestellung erst gar nicht in den Blick nehmen.
Überlagerung
Spätestens seit P. Watzlawik wissen wir, dass man nicht nicht kommunizieren kann. Dies gilt auch für das politische Handeln: Auch das Ignorieren der politischen Dimension ist letztlich Politik, wie es insbesondere das Schicksal der Geistesaristokratie im letzten und vorletzten Jahrhundert gezeigt hat. Aus diesem Grunde waren die „Betrachtungen eines Unpolitischen“ von Thomas Mann ein ungemein wirksames politisches Buch, gerade weil dieses die Abkehr von der Politik propagiert hat. Dies gilt natürlich auch für die unpolitisch daherkommende heutige neue Forschungswelle. Leider hat auch das existierende Praxisfeld bestimmte Denkfiguren leichtfertig übernommen, die durchaus problematisch sind. Eine dieser problematischen Formulierungen ist etwa die Rede von einer „Vermessung des Feldes“, denn spätestens nach dem schönen Buch von D. Kehlmann weiß man, dass es durchaus gravierende Unterschiede zwischen verschiedenen Formen einer „Vermessung“ gibt. Eigentlich sollte uns Alexander von Humboldt näher stehen als Gauß, weil Ersterer seine Welterfassung durch sinnliches Erleben, durch eine zumindest eine aisthetische Praxis versucht hat.
Geht man davon aus, dass tatsächlich das primäre Ziel aller Aktivitäten rund um kulturelle Bildung darin besteht, zu einer guten Entwicklung der Persönlichkeit beizutragen, so stellt dies einen nicht frei davon, andere Wirkungserwartungen zumindest in den Blick zu nehmen und insgesamt die derzeitige Konjunktur kultureller Bildung auch als Spiel um Macht und Einfluss, um Drittmittel, um das Deutungsrecht, um den Gewinn öffentlicher Aufmerksamkeit zu sehen. Zudem muss zumindest die Frage gestellt werden, inwieweit die für das System Schule festgestellten gesellschaftlichen Funktionserwartungen (Legitimation, Selektion/Allokation, Sozialisation und Enkulturation) auch für kulturelle Bildungsprozesse gelten. Im Moment kann man den Eindruck einer gewissen Einengung der Forschungsperspektiven nicht völlig abweisen.
Wieso wollen wir zudem diese lebendige sinnliche Praxis ausschließlich in das Prokrustes-Bett einer Methode zwingen, die nur begrenzt dafür geeignet ist? Wo ist die politische Sensibilität früherer Jahre geblieben, als „Emanzipation“ noch ein Leitbegriff war? Wieso ordnen wir uns brav in die Reihe von bloßen Dienstleistern für Zwecke ein, die wir nicht selbst definiert haben? Wieso machen wir das Spiel der Vermessung mit, obwohl wir spätestens seit Foucault wissen (könnten), wie durch solche Vermessungsverfahren „Normalität“ produziert wird, die letztlich menschenfeindlich ist? Im BKJ-Kontext haben wir in früheren Jahren einmal beschlossen, kulturelle Bildung als soziale und zum Teil politische Bildung zu verstehen. Dies wurde vor dem Hintergrund einer durchaus problematischen Geschichte der musischen Bildung formuliert. Gerade die „autonome“ Kunst war im 19. Jahrhundert ein politisch hochwirksames Feld im Rahmen des deutschen geistigen Sonderweges, der immer seine Probleme mit den demokratischen Verhältnissen hatte. Es ging immer nur um eine Freiheit im Geistigen, es ging um Innerlichkeit, es ging um eine Freiheit der Kunst anstelle einer (zu erkämpfenden) politischen Freiheit. Wieso lassen wir es zu, dass durch ein Zurückdrängung theoretischer und historischer Forschungen zugunsten einer offensichtlich brauchbareren „evidenzorientierten“ Forschung diese Zusammenhänge vergessen werden (sollen)?