Theater als Spiel? Jenseits des ‚Als-ob‘
Abstract
In seinem Artikel Theater als Spiel, der im Rahmen des Symposiums Spieltheorie entstand, diskutiert Peter Simhandl das Spiel im Rahmen des Theaters, wobei sein Akzent insbesondere auf der spielerischen Praxis von Schauspielenden liegt. Mein Beitrag hinterfragt diese Gewichtung des Modells und plädiert dafür, Theatersituationen in ihrer Gänze, also auch und insbesondere mit Blick auf die Praxis des Publikums, als ‚Spiele‘ zu betrachten. Diskutiert werden hierbei Theoreme von Erving Goffman, der sich mit dem sozial ‚erspielten‘ Rahmen von Theatersituationen befasste und Jaques Rancière, der sich für eine Emanzipation der Position von Zuschauenden einsetzte, ebenso wie Theoreme aus dem Kontext der Kulturellen Bildung (Hentschel): Erst wenn die Teilnahmerollen der Theatersituation – Zuschauende und Theatermacher*innen – auf Augenhöhe konzipiert sind und die Aufführung selbst als ein „Drittes“ (Rancière) betrachtet wird, dessen Spielregeln gemeinsam verhandelt werden, lässt sich begreifen, weshalb Theater auch weiterhin pädagogisch höchst relevant ist.
Wiederaufnahme: Fachtexte zum Spiel neu entdeckt und befragt
Dieser Beitrag entstand vor dem Hintergrund des gemeinsam von der Bundesarbeitsgemeinschaft (BAG) Spiel & Theater und dem Profilstudiengang Theater als Soziale Kunst an der FH Dortmund initiierten Projektes Theater – Auf(s) Spiel setzen. 12 Autor*innen wurden gewonnen, die Diskursfäden des 1998 von Hans-Wolfgang Nickel und Christian Schneegass herausgegebenen Sammelbandes zur Spieltheorie wieder aufzunehmen. Neben Stefanie Husel gehören Felix Büchner, Isabel Dorn, Norma Köhler, Martina Leeker, Frank Oberhäußer, Michael Zimmermann, Dietmar Sachser, Mira Sack, Hanne Seitz, André Studt und Sören Traulsen zu den Autor*innen, die in den kommenden Wochen auf kubi-online zu einer aktuellen Auseinandersetzung und Neupositionierung beitragen und in ihren Fachbeiträgen ausloten werden, welche begrifflichen und anwendungsbezogenen Verschiebungen über die Jahrzehnte zu beobachten sind und welche Potenziale und Entfaltungsmöglichkeiten dem Spiel innewohnen.
Frühere Reflexionen des Theaters im Lichte des Spiels (und umgekehrt) arbeiten sich häufig definitorisch an einem ‚Als-ob‘-Setting ab, das sich im traditionellen Theater auf der Bühne abspielt – so geschehen im Beitrag Theater als Spiel von Peter Simhandl, veröffentlicht in „Symposium Spieltheorie“: Er modelliert die Theatersituation zwar als (kommunikative) Spielsituation, diese ist bei ihm allerdings äußerst unausgeglichen konzipiert: Man könnte sagen, das (körper-schwere, leibliche) Gewicht liegt deutlich auf der Seite der Schau-Spielenden. Ein Zitat mag dies kurz zusammenfassen: „Im Gegensatz zu seinem Partner jenseits der Rampe ist der Akteur nicht nur mit Geist und Seele, sondern auch mit seinem Leib in den Kommunikationsprozess einbezogen“ (Simhandl 1998:142); entsprechend interessiert sich Simhandl vornehmlich für das Spiel des Schauspielers, den er als ewiges, glückliches, tief involviertes doch auch unvernünftiges, ja eventuell gar asoziales Kind betrachtet:
„Im Normalfall schwindet die Neigung zum Fiktionsspiel, wenn es sein pädagogisches Ziel, die Fähigkeit zur Teilnahme am gesellschaftlichen Rollenspiel, erreicht hat. Der Schauspieler-Mensch jedoch hält an der Befriedigung des Bedürfnisses fest, seine Handlungswünsche im bewussten Rollenspiel auszuagieren. In diesem Sinne kann er als ein nicht zu Ende sozialisiertes Individuum bestimmt werden.“ (Simhandl 1998:140)
Zwar schreibt Simhandl „dem Schauspieler“ damit eine gewisse (ggf. gar pathologische) Unreife zu, andererseits stattet er ihn aber mit einer Befähigung zu einer dauernden Neujustierung seiner selbst und damit zur Selbsttherapie aus: „Indem er seine Spannungen im Spielverhalten kompensiert und seine nie ganz aufgegebenen Handlungswünsche auf der Bühne ausagiert, betreibt der Schauspieler, zumindest der von seiner Tätigkeit erfüllte, eine Art Selbsttherapie.“ (Simhandl 1998:142) Kurz, der Verfasser scheint der Position des Schauspielers sowohl ablehnend als auch fasziniert gegenüberzustehen. Hierüber verkümmern in seiner Betrachtung allerdings die Zuschauer*innen fast zur Gänze; sie sind blass, farblos, ja körperlos gezeichnet, zwar grundsätzlich Partner*innen im Spiel, doch nur ein müder Abklatsch der Schauspielenden, bzw. nur dafür da, diesen ein Auge zu leihen.
Eng an die traditionell bekannten Modelle von Huizinga und Caillois angelehnt, bestimmt Simhandl weiterhin das Theater als Teil einer spezifischen Unterart von Spielen, nämlich als „Fiktions“-, ‚Als-ob‘- bzw. „Rollen-Spiel“ – und er geht davon aus, dass die ‚erwachsene‘, ‚reife‘ Spielart solcher Rollenspiele sich durch ein sehr klares Bewusstsein darüber auszeichnet, was jeweils als ‚Spiel‘ (bzw. als dessen fiktiver Inhalt) und was als ‚Ernst‘ zu gelten habe, was gemeint sei und was nicht etc.
„Hier soll [die Rede sein vom…] sogenannten ‚Fiktionsspiel‘. Dieses beruht auf der Nachahmung der Realität, überschreitet diese jedoch kraft des Vorstellungsvermögens und der Phantasie; seine ausgereifte Form findet es im Rollenspiel. Dieses schult eine Fähigkeit, die für die allgemeine Sozialisation unerläßlich und für das Theater konstitutiv ist: das Verhalten unter den Bedingungen des ‚Als ob‘ und die Möglichkeit, dieses vom realen Verhalten zu unterscheiden.“ (Simhandl 1998:38)
Gerade in dieser klaren Abgrenzung einer fiktiven ‚Als-ob‘-Welt des Rollenspiels sieht Simhandl die Chance, frei (i.S.v. konsequenzbefreit) bestimmte (soziale Rollen-) Konstellationen durchzuspielen. Bezogen auf meinen ersten Kritikpunkt – der starken Gewichtung des Modells auf Seite der Schauspielenden – wird deutlich, warum bei einer solcherart modellierten Theater-Spiel-Situation eigentlich nur der/die Schauspielende ein wirklich interessantes Spiel mit ggf. sogar „therapeutischen“ Chancen durchlebt: Denn nur er/sie darf sich in diese (klar vom sonstigen Ernst abgegrenzte) Fiktion zumindest körperlich involvieren, während der (körperlos) Zuschauende das ‚Als-ob‘ lediglich mental ‚durchspielt‘ und eben nicht durchlebt. Hierbei taucht fast zwangsläufig auch ein paradoxales Beschreibungsproblem auf: Denn bei etwas genauerem Hinsehen wird klar, dass Schauspieler*innen in einem üblichen Stadttheater-Setting per definitionem (Huizingas u.a.) gar nicht als Spieler*innen betrachtet werden können, da sie in ihrem Tun ja ihren Beruf ausüben – also beileibe nicht „frei“ handeln. Doch dies sei nur am Rande bemerkt.
Auf die beschriebene Art – wenn ‚das Spiel‘ also fast ausschließlich im Zusammenhang mit dem Rollen- oder ‚Als-ob‘-Spiel gedacht wird, das in traditionell strukturierten Theatersituationen auf der Bühne von Schauspielenden dargeboten wird, verkennt man das in meinen Augen eigentlich interessante Spielmoment am Theater-Setting; ich meine damit das, was Max Herrmann das „sociale Spiel“ nannte: Dass Menschen gemeinsam und zur Freude zusammenkommen, um die „Wirklichkeit nachzubilden“:
„Ebenso wie es Drama ohne Theater gibt, so gibt es auch Theater ohne Drama. Das Th[eater-] Element [ist,] besonders auffällig in seinen ersten Entwicklungsstücken, (z.B. den Vorkünsten der griechischen Völker) ein sociales Spiel. Ein Spiel ist es, ein Genießen des ganzen Volkes oder einer ganzen Menge an Nachbildung der Wirklichkeit aus gemeinsamer Freude daran. Zu dieser gemeinsamen Freude gehört der Charakter des Festgenusses, das lyrisch-musikalische Element des Theaters. (...) Alle können mitsingen.“ (Mitschrift zu einer Vorlesung von Herrmann 1918, in: Corssen 1998:283)
In seiner – das Theater als Gegenstand einer dezidierten Theater- und nicht mehr Dramen-) Wissenschaft herauspräparierenden – Vorlesung legt Herrmann in der Definition des Gegenstandes also besonderen Wert darauf, das ‚Spiel‘ im Theater auch und vor allem auf Seiten des Publikums zu verorten. Das, was Herrmann an der fraglichen Kunstform als „Theater“ (und eben nicht als „Drama“) verstanden wissen will, ist das spielerische Miteinander, der gemeinsame Spaß und das „mittun“ (bzw. „mitsingen“) wollen und können, auch und gerade der zuschauenden Teilnehmer*innen der Aufführungssituation. Weniger festlich und enthusiastisch formuliert, ließe sich konstatieren, dass Menschen im („socialen“) Theater-Spiel zusammenkommen, um zu verhandeln, was auf welche Art gemeinsam ‚spielbar‘ wird, so dass im Idealfalle auch alle bereit wären „mitzusingen“.
Gerade für einen theaterpädagogischen Diskurs erscheint mir die Modellierung der Theatersituation als „sociales Spiel“ aller Teilnehmenden besonders wertvoll. So ließe sich denn auch das einseitig gewichtete Bild vom Theater, wie es Simhandl zeichnet, als dezidiert gegensätzlich zum Ansatz ästhetischer Bildung verstehen, wie ihn beispielsweise Ulrike Hentschel vertritt und im Aufsatz „Theaterspielen als ästhetische Bildung“ beschreibt. Denn anders als Simhandl (und Vertreter eines Ansatzes „theatraler Bildung“, wie Hentschel ihn im genannten Aufsatz kritisiert (vgl. Hentschel 2012:68-69)) interessiert sich ästhetische Bildung im Theaterspiel für viel mehr als nur für das Ausprobieren unterschiedlicher Rollen durch schauspielende Akteur*innen; vielmehr werden auch und gerade die rezeptiven Praktiken, die in Theatersituationen möglich werden, in ihrer spielerischen Experimentalität betont: „Neben Selbstdistanzierung könnte Theaterspielen damit auch Prozesse der Weltdistanzierung einleiten, könnte zum Forschungs- und Erkenntnisinstrument für gesellschaftliche Inszenierungs- und Aufführungspraxis werden.“ (Hentschel 2012:67)
Dies kann in besonderem Maße für Theaterformate gelten, die in ihrer praktischen Gestaltung vom Paradigma des dramatischen Illusions- und Guckkastentheaters Abstand genommen haben; denn gerade im Rahmen der Entwicklung einer „post-dramatischen“ Ästhetik (vgl. Lehmann 2001) entstehen auch im dezidiert pädagogischen Kontext inzwischen zahlreiche „biographische und ortsspezifische Projekte, Walk Acts, Performances, Live Art, theatrale Interventionen und Installationen, partizipative Aktionen“ (Hentschel 2012:68). Anstatt auf eine klare konzeptionelle und räumliche Trennung, die dem illusionistischen ‚Als-ob‘-Spiel von Schauspieler*innen vor einem zuallererst zusehenden Publikum dienen würde, setzen entsprechende Formate also zunehmend auf Settings, die das „sociale Spiel“ des Theaters gestalten, herausfordern, in Frage stellen und damit zum Thema machen:
„Gemeinsames Kennzeichen dieser Aufführungspraxis ist es, die ästhetische Distanz, die Distanz zwischen Kunst und sozialer Realität zu befragen, dabei gleichzeitig die Mechanismen von Repräsentation zu verhandeln und aufzudecken, also Darstellung als Darstellung zu thematisieren. Dadurch wird die Differenzerfahrung für Produzenten und Rezipienten [Hervorhebung SH] radikalisiert und bietet ein Potenzial für theaterpädagogische Arbeitsformen mit dem Ziel ästhetischer Bildung.“
(Hentschel 2012:68)
Wie aber ließe sich die Theatersituation entsprechend theoretisch modellieren? Auf eine Weise, die a) einem nicht mehr dramatisch-illusionistischen Theater gerecht wird (wie man es heute sehr viel häufiger erleben kann als noch zur Zeit des Symposions Spieltheorie) und die b) insbesondere für die Belange und Interessen einer der ästhetischen Bildung verpflichteten Theaterpädagogik interessant wird? Einen entsprechenden Versuch möchte ich im Folgenden machen und vorschlagen, Theaterbegegnungen in ihrer Gänze als Spiel zu betrachten, in dem zuallererst die teilnehmende Position der „Zuschauer*innen“ bzw. „des Publikums“ als die der „Spieler*innen“ gedacht wird. Ich möchte also auch die Position (bzw. Teilnehmer*innenrolle oder Teilnahme-Status – vgl. Erving Goffman in „Redeweisen“, Goffman/Knoblauch 2017:37ff) zunächst als genuin aktiv und körperlich involviert kennzeichnen und sie somit ‚unter den Schirm‘ des Spielbegriffs ziehen. So sollen auch die vornehmlich rezipierenden Situationsteilnehmer*innen im Theater in den Fokus eines spiel- und theaterpädagogischen Vokabulars gebracht werden, das sich praktisch mit der kreativen Weltenbildung, den prozesshaften und bildungsorientierten Aspekten des Theaters auseinandersetzt. Hierfür zitiere und reflektiere ich die Thesen Jaques Rancières, die dieser in Der emanzipierte Zuschauer entwickelt (Org. 2008; hier zitiert nach der deutschen Ausgabe von 2015. Zu einer theaterwissenschaftlichen Reflexion einer als Spielsituation verstandenen Theatersituation vgl. auch meinen Beitrag zum Thema „Spieltheorien“ im „Handbuch Theater- und Tanzwissenschaft“, das voraussichtlich Ende 2022 im Nomos-Verlag erscheinen wird, herausgeben von Beate Hochholdinger-Reiterer, Christina Thurner und Julia Wehren.)
Für ein „emanzipiertes“ Theater-Spiel-Modell
Nun scheint der Bezug auf Rancières vielzitierten Text meiner obigen Ankündigung zuwider zu laufen, ein Spielmodell gerade für nicht mehr dramatische Theaterformen etablieren zu wollen. Denn in Der emanzipierte Zuschauer beschreibt Jaques Rancière, dass das Bild eines passiven und damit gewissermaßen unaufgeklärten Publikums sich schon seit dem Wirken Platons abzuzeichnen begonnen habe und sich bis in die Gegenwart nie produktiv aufgelöst hätte; im Gegenteil: vielmehr zeige sich gerade in (post-)modernen Kunst- und Theaterdiskursen ein problematisches Verhältnis zum Publikum. Denn meist propagierten zeitgenössische Theaterästhetiken eine Emanzipierung der Zuschauer aus deren angeblich so „passiver“ Haltung. (Zur Rezeption von Rancières „Der emanzipierte Zuschauer“ im Rahmen einer Episteme des (Theater-) Spiels vgl. auch die Argumentation im Rahmen meiner Dissertation „Grenzwerte im Spiel“ (Husel 2014:197-199)). Insofern stehen post-moderne (also auch post-dramatische) Theatermodelle bei Rancière zunächst unter dem Verdacht, das Klischee eines „passiven“ Theaterzuschauers in ihrer Kampfansage weiter zu tradieren und damit letztlich fortzuschreiben. Aus diesem Grund wird es im zitierten Text zunächst zum erklärten Ziel, das Set aus Vorannahmen, die dem entsprechenden „Rationalitätsmodell“ des Theaters bis heute zugrunde liegen, zunächst zu de- und dann zu rekonstruieren (Rancière 2015:12); dabei gelangt Rancière schließlich zu einer Re-Modellierung der Theatersituation, die auch für die vorliegende Argumentation stimmig ist: Die abendländische Philosophie begreife das Zuschauen als ein Sehen von Erscheinungen, und damit als das Gegenteil von wahrem Erkennen. Erkenntnis hingegen sei als aktive, freiheitliche, autonome Bewegung (zumindest des Geistes) konzipiert; daher erscheinen Zuschauer*innen als passive Situationsteilnehmer*innen, sie scheinen sich unterzuordnen (z.B. unter den Künstler oder unter ein ‚Werk‘), und eben nicht selbst aktiv zu handeln. Wird ein solches Theatermodell von Verfechter*innen eines emanzipatorischen Theaters geteilt, gerate es vollends zum Paradox: Dann nämlich resultiere eine Ästhetik, die Rancière als „Ja-Aber“-Theater bezeichnet, das entweder radikalerneuert oder wieder zu einem (angeblich besseren) Ursprung zurückgebracht werden soll. Solches (pseudo-)emanzipatorische „Ja-Aber“-Theater versteht sich laut Rancière als eine Vermittlung, die auf ihre eigene Aufhebung ausgerichtet ist und erinnert daher an das Paradox der pädagogischen Vermittlung: Genau wie diese reproduziere auch das „Ja-Aber“-Theater den Graben, den es zu überwinden trachte, immer wieder selbst und aufs Neue (Rancière 2015:18). In Rückgriff auf die demokratische (Anti-)Pädagogik Jean Joseph Jacotots unterbreitet Rancière darauf einen Vorschlag, um den Diskurs über das Theater zu einer Anerkennung der „Gleichheit der Intelligenzen“ (und damit auch der Gleichheit der Aktivitäten) zu bringen. Zunächst müsse hierfür ein neues Bild der Zuschauer*innen entworfen werden: Anstatt als passiv (bzw. „unwissend“) müssten diese als ebenso aktiv, als neugierig Erforschende gedacht werden wie die Künstler*innen. Rancière nennt seine reformulierte Aktivität der Zuschauer*innen eine „poetische Arbeit des Übersetzens“ (Rancière 2015:21). Der erste zentrale Schritt in der Neujustierung des situativen Modells vom Theater besteht also in einer veränderten Sicht auf den Prozess der Rezeption: Sie wird hier als aktive und kreative Tätigkeit gedacht.
Um den Umfang der vorliegenden Ausführung nicht zu strapazieren, sei hier nur am Rande bemerkt, dass eine entsprechend genuin aktive Konzeptionalisierung jedweden Wahrnehmungsprozesses auch dem entspricht, was zeitgenössische Vertreter*innen einer „Philosophie des Geistes“ bzw. des in diesem Kontext populären „enactive approach“ der Ästhetik vertreten. Als spezifisch an ästhetischer Theorie interessierter Vertreter eines „enactive approach“ wäre beispielsweise Alva Noë zu nennen, der in seinen Schriften unermüdlich das aktive ‚Erspielen‘ von Wahrnehmung beschreibt. Z.B. in Action in Perception (2006) oder in Varieties of Presence (2012).
Neben der Neubewertung des Rezipierens als einer aktiven und kreativen Tätigkeit nennt der Essay zum „emanzipierten Zuschauer“ noch ein weiteres, meines Erachtens belangreiches Argument: Um die „Gleichheit der Intelligenzen“ wie der Aktivitäten garantieren zu können, existiert in Rancières Theatermodell (ebenso wie in der dort zitierten Lehrsituation Jacotos), neben Zuschauenden und Künstler*innen eine „dritte Sache“, „die sowohl de[n] einen als auch de[n] anderen fremd ist, und auf die sie sich beziehen können.“ (Rancière 2015:25). Nun ist diese „dritte Sache“ im Modell Jacotos beispielsweise ein Buch, auf das gemeinsam durch Lehrer und Schüler Bezug genommen wird, das diese zusammen auslegen und diskutieren. Für das Theater aber muss an dieser Stelle nicht notwendigerweise von einem textuellen Bezugspunkt ausgegangen werden. So fährt Rancière fort: „[...Die] Aufführung [...] ist nicht die Übermittlung des Wissens oder des Atems vom Künstler zum Zuschauer. Sie ist eine dritte Sache [Hervorhebung SH], die niemand besitzt, und deren Sinn niemand besitzt, die sich zwischen ihnen hält[.]“ (Rancière 2015:25).
Dass die Aufführung selbst – als eine spezifisch strukturierte, kulturell vorgeformte soziale Situation der Zusammenkunft – zum „Dritten“ werden kann, auf das Teilnehmer*innen sich beziehen, erscheint mir als äußerst elegante und brauchbare These, um Theater und das dort möglich werdende „Spiel“ neu zu formulieren, auch wenn Rancière diesen Gedanken nicht weiter ausführt: Das Theatermodell des „emanzipierten Zuschauers“ lässt aktiv und explorierend wahrnehmende Zuschauer*innen und Theatermacher*innen in einer (konkreten) Aufführungssituation zusammentreffen. Die praktische Situation ihrer Begegnung wird dabei selbst zum „Dritten“, das Situationsteilnehmer*innen gemeinsam „erforschen“, dessen mögliche Interpretationsweisen sie zusammen auslegen und ggf. in Frage stellen. Auf diese Weise begriffen, lässt sich Theater – und zwar nicht nur in seinen post-dramatischen, sondern ebenso auch in seinen traditionellen Spielweisen – als ein wahrhaft „sociales Spiel“ betrachten – die Position der „wahrhaft Spielenden“ wird auf diese Weise dem Publikum, den Gästen, den Rezipierenden überantwortet.
Theatersituation als (komplexes) Spiel mit dem „socialen Spiel“
Meine bis hier geschilderten Justierungen von Theater- und Spielbegriff lassen Theatermacher*innen (Dramaturg*innen, Regisseur*innen, Schauspielende u.a. an der Produktion Beteiligte) entsprechend viel eher als ‚Spiel-Entwickler*innen‘ betrachten, während die rezipierenden Teilnehmer*innen, (das Publikum, die Gäste o.ä.) als die eigentlichen ‚Spieler*innen‘ des Theaters gedacht sind, durch deren – wie auch immer involviertes – Dabeisein sich die Theatersituation erst entfaltet. ‚Spielräume‘ etablieren sich hierbei ebenfalls erst im Spiel: So könnte man sich vorstellen, dass die Spielentwickler*innen sie vielleicht in ihren Grundzügen anlegen, dass sie aber erst durch die eigentlichen Spieler*innen ‚erspielt‘, also abgeschritten und erfahren werden. ‚Spielzeuge‘ werden vorbereitet und angeboten, doch auch sie werden erst in ihrer Nutzung (oder Nicht-Nutzung) durch die Spieler*innen Teil des Spiels; auch bietet sich an, den im Zusammenhang mit Theaterbeschreibung üblichen Begriff der Figur als ‚Spielfigur‘ weiterzudenken – einer Figur also, die selbst wenn sie eine Menge eigener Aktivität besitzt, letztlich durch die Spieler*innen navigiert wird, beispielsweise indem Rezipierende sich mit Figuren identifizieren.
In meiner Dissertation habe ich ein entsprechendes Theater-Spiel-Vokabular schon einmal erfolgreich verwendet, dort, um Aufführungen im Rahmen der post-dramatischen Inszenierung der Theaterkompanie Forced Entertainment zu analysieren (vgl. Husel 2014). Auf welche Weise aber könnte eine entsprechende Modellierung der Theatersituation auch informativ für einen theaterpädagogischen Kontext werden? Um zu dieser Frage abschließend einige Ideen zu formulieren, möchte ich zunächst kurz zusammenfassen, wie Erving Goffman in seiner späten Arbeit Forms of Talk (Org. 1981; hier zitiert in der deutschen Übersetzung von 2017, herausgegeben von Hubert Knoblauch) jedwede alltägliche kommunikative Situation, sei es ein Face-to-Face-Gespräch oder eine Podiumsdiskussion, als vielschichtiges Spiel mit unterschiedlichen Teilnahme-Rahmen (Org.: Participation Frameworks), mit hiermit zusammenhängenden Äußerungsformaten (Org.: Production Formats) und unterschiedlichsten Verweisungs- und Einbettungszusammenhängen, Zeitsprüngen, Zitaten etc. (Org.: Embeddings), beschreibt: „Wie auch Dramatiker jedes Wort auf die Bühne bringen können, so können auch wir jeden Teilnahmerahmen und jedes Produktionsformat in unseren Gesprächen verwenden.“ (Goffman/Knoblauch 2017:70) Goffman weist in genanntem Text darauf hin, dass selbst die alltäglichste Gesprächssituation, wie beispielsweise ein Routinebesuch beim Kinderarzt, recht virtuose Teilnehmer*innen erfordert (und hervorbringt): „(…) wir haben es mit der Fähigkeit geistig gewandter Sprecher zu tun, vor und zurück zu springen und dabei verschiedene Kreise am Spiel zu beteiligen.“ (Goffman 2017:71) Insofern können Übergänge zwischen ‚Als-ob‘-Handeln, konkret gemeintem Handeln, Konsequenz-behaftetem und Konsequenz-befreitem Handeln schon in jeder alltäglichen Gesprächssituation vorausgesetzt und als fließend beschrieben werden; die „Rahmen“ (hierzu vgl. Goffmann 1998), die helfen, sich sozial auf bestimmte Interpretationsweisen zu einigen, sind es ebenso. Und gerade dies scheint auch mir der grundsätzlichste Wesenszug menschlicher Kommunikation zu sein – dass sie, wenn auch meistens unbemerkt, so doch grenzenlos spielerisch improvisierend funktioniert.
Diese Betrachtung auch alltäglicher Begegnungen in Hinblick auf ihren grundsätzlich spielerischen Charakter muss nicht in einer gleichmacherischen und damit nicht mehr erhellenden Spielmetapher münden („Alles ist ein Spiel – so what?“). Denn der Fokus auf das spielerisch-aushandelnde Moment in allem menschlichen Handeln und Wahrnehmen verweist auf die Frage, wie Situationsteilnehmer*innen Situationen entstehen lassen (und vice versa). Theatersituationen würden in so einer Betrachtungsweise um ihren Charakter als Theater und damit um ihre „ästhetische“ Rahmung spielen: Teilnehmer*innen treffen zusammen und versuchen, eine Situation als „ästhetische“ bzw. als „Theater“ – d.h. „Schau-Situation“ aufrecht zu erhalten. Dies kann für die Eine gelingen, für den Anderen scheitern, je nach Kontext, Vorerfahrung, Erwartung, Vorwissen usw. Ich würde insofern dafür plädieren, Theater als „komplexes Spiel“ (im Sinne Gregory Batesons; vgl. Bateson 1983) zu verstehen – als eine Form der Metakommunikation, die sich immer (auch) dafür interessiert, ob das was stattfindet ‚noch Spiel‘ ist oder schon dabei ist, in ‚Ernst‘, (bzw. in eine nicht mehr spielerisch-experimentelle Situation) umzuschlagen:
„(…) dies führt uns zur Anerkennung einer komplexeren Form des Spiels [play]; das Spiel [game], welches nicht auf die Prämisse ‚Das ist ein Spiel‘ gegründet ist, sondern sich eher um die Frage dreht ‚Ist das Spiel?‘“ (Bateson 1983: 247)
Theatersituationen in ihrem grundsätzlich sozialen Spielcharakter und damit als „komplexe Spiele“ zu begreifen, öffnet insofern den Blick auf die Art und Weise, wie alle zusammentreffenden Akteur*innen gemeinsam Wirklichkeit gestalten und zu gestalten bereit sind. So bietet gemeinsames Spiel in und mit der Theatersituation die Chance, eine grundsätzliche soziale ‚Literacy‘ zu schulen; denn hier wird es möglich, das immer schon vorhandene spielerische Aushandeln von sozialen Wirklichkeiten gewissermaßen unter einem Brennglas zu betrachten, es auf die Bühne zu heben, experimentell damit umzugehen, damit zu spielen. Post-dramatische und performative Theaterformen wären sich im Sinne dieses Modells ihres komplexen Spiels schlicht besonders bewusst, und machten es „zum Gegenstand nicht nur [...] der Reflexion, sondern der theatralen Gestaltung selbst.“ (Lehmann 2001:171).
Entsprechend modelliert, lassen sich gemeinsam gestaltete Theater-Zusammenkünfte in ihrer Gänze als „sociale Spiele“ im Sinne Max Herrmanns ebenso wie im Sinne Erving Goffmans betrachten – seien es solche, in denen Teilnehmer*innen selbst „Theaterspielen“, solche, bei denen das Spiel darin besteht, dass gemeinsam „Theater angeschaut“ wird, doch auch alle Zwischenformen inmitten einer solchen Matrix. Erst in dieser Sichtweise wird meines Dafürhaltens der Theater- wie der Spielbegriff instruktiv auch für theaterpädagogische Praxis: denn nur, wenn das spielerische (also: das fröhlich experimentierende, das ziellos herumtollende, das gemeinschaftlich kreative) Moment der Theatersituation in all seinen Anteilen und in seiner komplexen Gestaltung begriffen wird, lässt sich verstehen, warum es überhaupt pädagogisch so sinnvoll ist, in Theatersituationen zusammenzutreffen.
Der 1995 beim Symposium: Theater – Auf(s) Spiel setzen vorgetragene und in dem von Hans-Wolfgang Nickel und Christian Schneegass 1998 herausgegebenen Sammelband Symposion Spieltheorie veröffentlichte Beitrag von Peter Simhandl: Theater als Spiel steht als Download (8,5 MB) auf kubi-online zur Verfügung.