Theater als Möglichkeitsraum spielerischer Aneignung
Abstract
Ausgehend von individuellen Erlebnismomenten des Autors in seiner Schauspielausbildung und einer Rückbesinnung auf dessen Forschungsarbeiten zur Flow-Erfahrung und zum Theaterspielflow, nähert sich Dietmar Sachser im Gegenlicht aktueller Diskurse zu „Aneignung“ und deren Kampfschauplätzen einer neuen, zeitgemäßen Befragung des Spiels und dessen Potenzial als Möglichkeitsraum. Hierbei nimmt er maßgeblich Bezug auf einen 25 Jahre zurückliegenden Textbeitrag Peter Simhandls und dessen dialektischen Spielverständnis. Sachser aktualisiert dieses und vertritt die These, dass sich Theater heute stets als ein gemeinsamer Konstruktionsprozess von Spielenden und Zusehenden ereignet, als solcher wahrgenommen, erlebt, gelesen, verstanden werden kann und verstanden werden sollte. Denn wir würden Wesentliches der Theaterkunst aufs Spiel setzen, wenn wir diese nicht als gerade ebensolche - nämlich als gemeinsames Spiel - verstünden.
Wiederaufnahme: Fachtexte zum Spiel neu entdeckt und befragt
Dieser Beitrag entstand vor dem Hintergrund des gemeinsam von der Bundesarbeitsgemeinschaft (BAG) Spiel & Theater und dem Profilstudiengang Theater als Soziale Kunst an der FH Dortmund initiierten Projektes Theater – Auf(s) Spiel setzen. 12 Autor*innen wurden gewonnen, die Diskursfäden des 1998 von Hans-Wolfgang Nickel und Christian Schneegass herausgegebenen Sammelbandes zur Spieltheorie wieder aufzunehmen. Neben Dietmar Sachser gehören Felix Büchner, Isabel Dorn, Stefanie Husel, Norma Köhler, Martina Leeker, Frank Oberhäußer, Michael Zimmermann, Mira Sack, Hanne Seitz, André Studt und Sören Traulsen zu den Autor*innen, die in den kommenden Wochen auf kubi-online zu einer aktuellen Auseinandersetzung und Neupositionierung beitragen und in ihren Fachbeiträgen ausloten werden, welche begrifflichen und anwendungsbezogenen Verschiebungen über die Jahrzehnte zu beobachten sind und welche Potenziale und Entfaltungsmöglichkeiten dem Spiel innewohnen.
„Theater – Auf’s Spiel setzen!“
Mich inspiriert dieser spannungsgeladene Arbeitstitel. Und er ist – ein viertel Jahrhundert nach dem Symposion Spieltheorie – bedeutsam für eine gegenwärtige Befragung des Spiels im dritten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts. Denn nicht nur Theater, sondern auch die ihm innewohnenden Spielmomente sind stets Ausdruck seiner Zeit.
Im Zeitraum der o.g. Tagung (1995) und der Publikation (1998) lebte ich in London und studierte an der Ecole Philippe Gaulier. Fernab und völlig ahnungslos von Berliner Diskursen warfen wir uns, eine internationale Gruppe von 20 SchauspielstudentInnen, täglich ins Spiel. Improvisierten und riskierten uns vor den kritischen Augen des Schauspielgurus, der entschieden wie kaum ein anderer in der Szene des Physischen Theaters aufs Spiel setzte. Aufs Spiel und dessen seinerseits zugeschriebene Qualitäten: entwaffnende Leichtigkeit, überspringende Sinnlichkeit, grenzenlose Frechheit, uferlose Freiheit, unergründliche Tiefe, verschwörerische Verbundenheit, schöpferische Kraft und tiefe Freude. Insbesondere letztgenannte Eigenschaft des Spiels trieb mich um und ich ging ihr fortan als „Theaterspielflow“ auf den Grund.
Im Misstrauen an das beharrliche, irreführende und weit verbreitete Narrativ des gefühligen, aus dem Leben leidend-schöpfenden Schauspielers, entstand eine Fachgrenzen übergreifende Forschungsarbeit, welche die Gegenthese vertrat: Theaterspielen bereitet Freude. Theorien des Spiels und der intrinsischen Motivation lieferten erste fundierte und weniger künstlertheoretisch-ideologisch geprägte Einsichten in einen exklusiven Erlebnismoment, den der ungarisch-amerikanische Psychologe Mihaly Csikszentmihalyi zunächst (erfolglos) als autotelische Erfahrung und später (mit weltweiter Reichweite) als Flow kennzeichnete. Letztgenannter oszillierender (mittlerweile inflationär zur Anwendung kommender) Begriff bezeichnet einen dreiphasigen, holistischen Erfahrungsmodus, der sich in unterschiedlichsten Aktivitäten einstellen kann – etwa beim Bergsteigen, in chirurgischen Operationsvorgängen oder im Schachspiel. Und der bei aller Eigenständigkeit und Unterschiedlichkeit der drei exemplarisch genannten Aktivitäten sowohl strukturelle Gemeinsamkeiten als auch vergleichbare Erlebnisqualitäten aufweist:
„I. Phase der Voraussetzungen und Bedingungen (antezedente Merkmale):
- Anforderungen und Fähigkeiten befinden sich im Gleichgewicht und liegen auf individuell-überdurchschnittlichem Niveau – die Aktivität fordert optimal heraus.
- Ein flüssiger Handlungsvollzug wird durch klar umrissene Regeln und Ziele und durch direkte Rückmeldungen gewährleistet.
Unter diesen Voraussetzungen kann die Aufmerksamkeit auf ein begrenztes Stimulusfeld zentriert, irrelevante Reize ausgeblendet und die Konzentration mühelos auf hohem Niveau aufrechterhalten werden. Auf diese Weise stellt sich eine Phase hoher Gegenwartsbezogenheit ein, die sich aus vier Erlebniskomponenten zusammensetzt.
II. Phase des Erlebens (resultierende Merkmale):
- Verschmelzen von Handlung und Bewusstsein: Handlung und Subjekt werden als Einheit erlebt – man fühlt sich nicht mehr abgehoben von einer Aktivität, sondern als „Teil eines Ganzen“, das einer inneren Logik zu folgen scheint. Alles läuft wie von selbst.
- Die Wahrnehmung der Zeit verändert sich und entspricht nicht mehr der chronometrischen Messung.
- Selbstvergessenheit: Selbstwertsteigernde und -mindernde Kognitionen werden ausgeblendet. Gleichzeitig stellt sich eine gesteigerte Wahrnehmung innerer oder äußerer Vorgänge ein.
- Man hat das Gefühl, die herausfordernde, offene Situation potentiell kontrollieren zu können. Man fühlt sich kompetent auf unsicherem Terrain.
III. Phase des Verarbeitens (folgendes Merkmal):
- Selbststeigerung: Der mit der Erfahrung verbundene Kompetenzzuwachs und das Gefühl eines persönlichkeitssteigernden Zugewinns werden in der reflexiven Beobachtung, eine herausfordernde Situation gemeistert zu haben, an die eigenen individuellen Grenzen herangekommen zu sein, wahrnehmbar.“ (…)
Ein direkter Übertrag auf das weite Feld der Schauspielkunst, in dem – neben unzähligen Performativierungsschüben, (Auto)Biographierungstendenzen, Authentizitätsbestrebungen etc. – das Spielen von Figuren nach wie vor ein zentrales Herausforderungsfeld darstellen kann, ist indes problematisch. Denn die Spielerin/der Spieler agiert aus sich, aus individueller Leiblichkeit heraus, ist gewissermaßen auf diese begrenzt und dieser ausgeliefert, erhebt diese aber eben stets zugleich in eigens gestaltender, selbstwirksamer Weise – eben selbst zum Spielgegenstand. Hieran, an dieser Vertracktheit, entzündete sich der uralte und nach wie vor virulente, heftig geführte Streit Kunstschaffender über die Echtheit der Gefühle und das Verhältnis von Nähe und Distanz.
Auf diesem hier fragmentarisch angedeuteten Weg meiner Forschungsarbeiten begegnete mir früh Peter Simhandls Perspektive „Theater als Spiel“, die ich nun – mit gewachsenem Abstand – nochmals betrachte. Deren Dreh- und Angelpunkt ist das „Fiktionsspiel“ (in Abgrenzung etwa zu entwicklungspsychologischen und sozialisationstheoretischen Spielkonzepten) und dessen auf „Nachahmung“ und „Vorstellungskraft“ gründenden Gestaltungspotenzialen. Sprachlich schärfer träfe wohl aus heutiger Sicht der Begriff der Nachgestaltung (eben stärker im aristotelischen und weniger im Platon`schen Sinne) der das Hervorbringen einer eigens gestalteten theatralen (Bühnen)Wirklichkeit betont. Denn dies ist eine der Stärken der Dialektik in Simhandls Erörterungen, nämlich DarstellerIn und ZuschauerIn ausdrücklich im gemeinsamen Spiel zu fokussieren:
Die Spielerin/der Spieler bewegt sich – sowohl in der Probe als auch im szenischen Bühnenvorgang der Aufführung – als ein die eigene Wirklichkeit gestaltendes Doppelwesen, gekonnt täuschungs- und bühnenrealitätsbewusst. Vor diesem Hintergrund habe ich Flow als Theaterspielflow spezifiziert und einen möglichen, damit verbunden schöpferischen Zustand als Synthese von Paradoxien und Ambivalenzen (Gestaltung und Entrückung, Gebundenheit und Freiheit, Grenzerfahrung und Ich-Erweiterung) beschrieben und gekennzeichnet. Verkürzt und in seiner amalgamierten Gesamtheit betrachtet ein freudvoller Zustand, den auch Simhandl in seinem Text mehrfach betont und eigens oder rekurrierend auf andere in den Griff zu bekommen versucht.
Die Zuschauerin/der Zuschauer – sowohl im Probe-, als auch im Theaterraum – spielt mit. Nicht mit darstellerischen Mitteln, wie Simhandl klärt, sondern mit Mitteln der Vorstellung. Und gerade weil er die im Spiel angestoßene theatrale Wirklichkeit als solche aufzugreifen versteht, kann er diese einer sinnlichen Weiterentwicklung und Anbindung ans Persönliche und Weltliche unterziehen.
Es ist ein sich zeitgleich vollziehendes, vielschichtiges gemeinsames Spiel, welches theatrale Wirklichkeiten hervorbringt und konstituiert. Dabei bleibt es vor allem eines: Spiel.
Kann man so sehen – muss man aber nicht. Denn die hier mitklingende „Reinheit“ des Spiels und dessen romantischer Verklärung, von der Simhandl noch stärker inspiriert zu sein scheint, ist ein Kind des 20. Jahrhunderts. Die 1920er-Jahre eines Max Reinhardt entsprechen auch in schaffensästhetischen Kampfschauplätzen nicht den heutigen 20er-Jahren. In deren Gegenlicht werde ich den eingangs erwähnten Impuls weiterführen und „Nachgestaltung“ und „Spiel“ im Kontext von „Aneignung“ problematisieren:
„Die Schutzflehenden“ (Aischylos, ca. 468/466 v. Chr. / Ausgangs- und Referenzwerk für Elfride Jelineks „Die Schutzbefohlenen“, 2013) handelt von Flüchtlingen, die übers Meer kommen und um Asyl bitten. Eine große Erzählung von trauriger, immer wiederkehrender Aktualität.
Das Stück sollte am 25. März 2019, unter der Regie von Philippe Brunet und der auf antike Stoffe spezialisierten Theatergruppe Démodocos aufgeführt werden. Dazu kam es nicht: Noch während den Arbeiten an der Inszenierung (!) an der Sorbonne Université (!) wurde der künstlerische Probenprozess (!) von antirassistischen Gruppen gestoppt. Auslöser: Das Verwenden von weißen und kupferfarbenen Masken, welche die SchauspielerInnen – ungeachtet des eigenen Geschlechts, der eigenen Hautfarbe, der eigenen Herkunft und der eigenen Identitätszuschreibung – auf der Bühne tragen. Kritikpunkt: Die Art der Darstellung befördere (!) Stereotype und deute (!) auf lybische und ägyptische Migranten hin.“ (…)
Es ließen sich mittlerweile viele ähnlich gelagerte und zu verortende Beispiele aus Proben- und Aufführungspraxen anekdotisch zu Papier bringen.
Nun unterscheiden sich die damalige Hochschule der Künste (HdK) Berlin, an der Simhandl lehrte, und meine Wirkungsstätten, die Folkwang Universität der Künste und die Evangelische Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe in einiger Hinsicht untereinander sowie durchaus auch von der Sorbonne Université Paris. Und dennoch: An allen vier Orten wird gespielt und geprobt! Die Proben, die hierin sich vollziehenden künstlerischen Schaffensprozesse, die spielerischen Suchbewegungen, die an diesen Orten stattfinden, einschließlich der zeigenden Momente der Aufführung, betrachte ich als Möglichkeitsräume der spielerischen Aneignung von und Auseinandersetzung mit Welt.
Der Terminus Aneignung ist heikel. Provoziert er heute doch zunächst stets unmittelbar den naheliegendsten Blick auf kulturelle Dimensionen sowie die damit verbundenen, heftig diskutierten Fragen hinsichtlich des Eigentums, der Machtverhältnisse und des Nutzens.
Ich verwende und beziehe den Begriff der Aneignung nun unmittelbar und ausschließlich aufs Spiel. Denn ein Theaterrahmen, der als ein temporär-konstituierender Möglichkeitsraum spielerischer Aneignung verstanden wird, entzieht sich aufgrund seiner Wesenhaftigkeit und Flüchtigkeit nicht dem Diskurs und der Kritik, wohl aber der oben angedeuteten Schlagseite von Übernahmen und Besitzergreifungen. Das Gegenteil ist idealerweise der Fall: Im Möglichkeitsraum spielerischer Aneignung wissen und teilen deren maßgeblich daran beteilige Subjekte im besten Fall stets eine großzügig-verbindende Bewusstheit von ästhetischer Konstruktion und Komposition.
Vor dem Hintergrund dieser Position schließt meine Kritik des oben skizzierten Vorgangs (gewissermaßen entlang der fünf gesetzten Exklamationszeichen, als auch bezugnehmend auf Simhandl) an: Denn welchen Beitrag kann eine derartige Unterbindung des zielorientierten, formgebenden Verfahrens des Inszenierens für das Theater leisten? Keinen! Hier wird ein fluider – und damit ständiger Veränderung unterliegender – Findungsprozess, hin zu einem ebenfalls fluiden – also sich jeden Abend anders entfaltenden – Ereignis – welches einen Möglichkeitsraum zur Auseinandersetzung und Verständigung böte – verhindert. Den Proben und die sich darin verortenden, vielfältigen und vielschichtigen Erkundungs- und Suchbewegungen wurde hier der Raum entzogen. Selbst der Raum, gegebenenfalls zu scheitern. Und dies an einem Ort – der Universität – der doch, wie nur wenige andere, in einer Output-orientierten, überhitzten und beschleunigten Welt idealerweise Geist freisetzt, einfängt, kritisch verhandelt, bearbeitet und erneut in Bezug zu Welt setzt. All dies basierend auf der Unterstellung, der Zuschauer/die Zuschauerin könne gar nicht anders, als blind in die Falle von Stereotypen und deren willfähriger Reproduktion zu tappen.
Wer so engführend argumentiert, verkennt maßgeblich Wesen und Eigensinn von Theater und Spiel. Und so scheint mir Simhandls Theater-als-Spiel-Verständnis im Zenit künstlerischer und schaffensästhetischer Diskurse von neuem Gewicht. Nämlich – und so würde ich die Gemengelage verdichten und aufs Spiel setzen wollen – Theater als Möglichkeitsraum spielerischer Aneignung zu begreifen.
Denn zweifelsohne sind die Worte, die Brunet zur Verteidigung seines Sorbonne-Desasters wählte, auf Diskurshöhe allein nicht hinreichend, aber gewiss rückbesinnlich aufs Spiel und perspektivisch möglicherweise sogar dialogförderlich:
„Das Theater ist ein Ort der Verwandlung, keine Zuflucht der Identitäten. Das Groteske hat keine Farbe. Die Konflikte unterbinden die Liebe nicht. Man nimmt den anderen auf und wird selbst im Laufe einer Aufführung zu einem anderen. Aischylos setzt die Welt maßstabsgetreu in Szene. In Antigone lasse ich die weiblichen Rollen von Männern spielen, und zwar auf altertümliche Weise. Ich singe Homer und bin nicht blind. Ich lasse die Perser in Niamey von Nigerianern spielen (so im letzten Film von Jean Rouch), meine letzte persische Königin hatte schwarze Haut und trug eine weiße Maske" (…)