Theater als Fernbeziehung? Folgefragen für eine digital-analoge Theaterpädagogik - auch jenseits der Pandemie

Artikel-Metadaten

von Thilo Grawe

Erscheinungsjahr: 2021/2021

Abstract

Welche Strategien der Versammlung und Gemeinschaftsbildung kommen bei digitalen Plattformen wie TikTok, twitch.tv und Youtube zum Einsatz? Welchen Einfluss auf Rezeptionsgewohnheiten haben die damit verbundenen Praktiken? Und was kann das Theater bzw. die Theaterpädagogik davon lernen? Thilo Grawe versucht aus seinem eigenen Medienkonsum heraus Beobachtungen und Beschreibungen zu teilen, um sich einer digitalen Kultur anzunähern und daraus Folgefragen für eine digital-analoge Theaterpädagogik zu formulieren. Auch jenseits der Pandemie.
Wichtig zu berücksichtigen ist ihm, dass die im Folgenden beschriebenen Trends digitaler Plattformen wie TikTok oder Twitsch.Tv einer Schnelllebigkeit und ständigen Aktualisierung unterliegen; sie sind im besten Fall performativ, non-linear und gegenwartsbezogen – und sie entwickeln sich durch ihre Nutzung fortwährend weiter. Gerade TikTok unternimmt kaum Versuche, ein archäologisches oder archivarisches Stöbern zu unterstützen. Sollten also bei Erscheinen dieses Beitrags einige Plattform-Trends nicht mehr wirklich aktuell sein, so bleiben es aber die im Beitrag diskutierten Fragestellungen.
Der auf der Wissensplattform KULTURELLE BILDUNG ONLINE publizierte Beitrag ist eine überarbeitete und erweiterte Fassung eines Artikels von Grawe, welchen er im Dezember 2020 für die Zeitschrift für Theaterpädagogik - Korrespondenzen, Heft 78/2021 zum Thema „Theater und Digitalität" verfasst hat.

Die Krise der Versammlung

Ich glaube, dass die globale Pandemie das Theater und die Theaterpädagogik auch deshalb herausfordert, weil sie für selbstverständlich gehaltene Verabredungen in Frage gestellt hat. Darunter verstehe ich in erster Linie die Frage nach der physischen Ko-Präsenz, Ereignishaftigkeit und Gemeinschaftsbildung. Wenn ich das zentrale Problem der Theaterpädagogik in Zeiten von Corona auf den Punkt bringen müsste, dann wäre das in etwa die Frage: Wie lässt sich Gemeinschaft erleben und gestalten, wenn wir mitunter nicht (mehr) zur selben Zeit und/oder am selben Ort zusammenkommen können?

Dass wir bei denjenigen, die sich im Theater überhaupt versammeln, nach wie vor über eine sehr exklusive Gemeinschaft sprechen, führe ich an dieser Stelle nicht weiter. Aber es gilt, so meine Beobachtung, mehr noch als sonst, über (1) asynchrone (in etwa: zeitlich versetzte) und/oder (2) asyntope (in etwa: räumlich zerstreute) Proben- und Aufführungsformate nachzudenken. Es ließe sich fragen: Müssen wesentliche Kerngedanken des Theaters, wie die gleichzeitige Anwesenheit, leibliche Ko-Präsenz, und Räumlichkeit von Aufführungen, im digitalen (und pandemischen) Zeitalter aktualisiert werden? Und weiter: Welche Muster der Gemeinschaftsbildung, Versammlung und sozialen Ko-Präsenz (vgl. Leeker 2020:37) können im analog-digitalen Theater performt werden? Wie kann Theater das neue Miteinander in analog-digitalen Räumen reflektieren, gestalten und inszenieren?

Dafür möchte ich im Rahmen dieses Artikels zunächst beispielhaft Räume der Vergemeinschaftung in ausgewählten digitalen Formaten und Medien beschreiben. Digitale Räume, die sich längst neben dem Theater etabliert haben und die in ihrer Grundstruktur selbst jedoch sehr theatral organisiert sind. Räume, die durch ihre Interfaces digitale Praktiken ermöglicht und ausgebildet haben. Ich möchte sie beschreiben, weil ich hoffe, dass sie dadurch etwas greifbarer werden für all jene, die als digital immigrants bezeichnet werden und denen sie mitunter verschlossen bleiben. Auch hoffe ich, dass sie inspirierend sein können, um für das Theater innovative analog-digitale Strategien und Praktiken der Vergemeinschaftung auszubilden.

Ute Pinkert berichtet in einem Interview, dass sie ihre Abschlussarbeit auf einer Schreibmaschine geschrieben hat (vgl. Jürke 2016). Als jemand, der 1993 geboren ist, klingt das für mich fast unvorstellbar. Auch wenn ich nicht selbstverständlich mit digitalen Medien und Hardwares aufgewachsen bin, gehöre ich zu der Zwischengeneration, die wesentliche Prozesse der  Digitalisierung (im Sinne einer technologischen Entwicklung, beispielsweise vom PC zum Laptop zum Smartphone und vom Walkman zum Mp3 Player zum Online-Streamingdienst, usw.) miterlebt hat. Ich bin es gewohnt meine Sätze, die ich für diesen Artikel formuliere, über eine Tastatur einzuspeisen – ich bin es gewohnt Passagen zu löschen, zu kopieren, anderswo einzufügen, beliebig umzustellen, sie auf Rechtschreibung überprüfen zu lassen. Ich kann sie mir vorlesen lassen, kann einzelne Stichwörter im Internet suchen und ein Algorithmus sortiert die Millionen Ergebnisse in Sekundenbruchteilen. Ich kann dort nach Synonymen Ausschau halten, um Wiederholungen zu vermeiden. Das Internet bietet mir sogar an, meinen Text durch eine AI lektorieren zu lassen. Mit wenigen Klicks könnte ich ihn in alle möglichen Sprachen übersetzen lassen. All das, was sich sonst auf dem analogen Schreibtisch versammelt hat (und noch viel mehr), hat es längst auf den digitalen Desktop geschafft und seit einiger Zeit kann ich den ganzen Schreibtisch (das Schnittlabor, das Tonstudio und die mobile Spielekonsole) auch überall hin mitnehmen – er passt sozusagen in meine Hosentasche. In digitalen Räumen kann ich als ein Avatar eintauchen und mich dort frei bewegen – ich kann meinen bürgerlichen Namen ablegen und anonym diskutieren. Mit Filtern kann ich mein Bildmaterial verändern, verschönern, verfremden, Effekte, die sonst den großen Produktionsfirmen vorbehalten waren, kann ich meist kostenlos abrufen. Meine Kamera kann Gesichter erkennen. Die sozialen Netzwerke schlagen mir sogar vor, wer auf meinen Bildern zu sehen sein könnte. Die Rückwärtssuche lässt mich ähnliche Bilder im Netz finden. Ein Foto eines Gebäudes oder eines Produkts reicht, damit mich die Suchmaschine mit entsprechenden Informationen und (Kauf-)Angeboten versorgen kann. Der Ton, den ich mit dem Handy aufnehme, kann simultan übersetzt und/oder transkribiert werden. Wenn ich keine entsprechenden Vorkehrungen treffe, taucht das, worüber ich eben noch mit jemandem gesprochen habe, im nächsten Moment als Werbeanzeige auf meinem Bildschirm auf. All das gehört für mich zur digitalen Realität. Und ohne Zweifel: Zeitgenössisches Theater findet in Zeiten solcher Digitalitäten statt (der Plural ist hier kein Versehen). Und auch die Jungen Menschen, denen ich im Rahmen meiner theaterpädagogischen Praxis gegenübertrete, sind ganz selbstverständlich in einer digitalen Kultur aufgewachsen – all diese Praktiken gehören zu ihrer Lebenswelt und ihrem Alltag. Die Frage ist jedoch: Wie geht das Theater mit der Ko-Präsenz des Digitalen um? 

Theater ist überall, es findet nur nicht immer im Theater statt

Trends, Challenges und Duetts bei Tiktok

„It took me 16 years to find out, that I am gay. TikTok knew after 2 mins.“, heißt es in einem der Kurzvideos auf meiner „for you page“ (fyp). Die fyp ist die für mich personalisierte Startseite, in die der Algorithmus das speist, was vermeintlich nur für mich erstellt worden ist – das also, was laut meinem digitalen Profil zu mir passt. Und tatsächlich: das, wovon diese Person im Video berichtet, trifft auch auf mich zu. Denn ohne dass ich es innerhalb der App irgendwo angegeben oder aufgeschrieben hätte, scheint sie zu wissen, dass ich schwul bin. Und das schon nach wenigen Stunden Nutzungsdauer – obwohl ich selbst etwa 16 Jahre gebraucht habe, um das zu verstehen. Nun schlägt sie mir Videos vor, in denen gay oder queer culture verhandelt oder präsentiert wird. Damit bin ich nicht alleine: gerade in der Pandemie berichten viele Personen, dass die Mediennutzung im Lockdown auch dazu geführt habe, sich mit dem eigenen sex und gender, also ihrem biologischen und sozialen Geschlecht auseinanderzusetzen.

Die Plattform hat meine Metadaten analysiert: sie „weiß“ bei welchen Videos ich angebe, dass ich weniger davon sehen möchte, bei welchen ich hängen bleibe, welche ich mehrmals gucke, an Freund*innen weiterleite, abspeichere; sie weiß, bei welchen Videos ich auf das Herz drücke und bei welchen Kanälen ich das Plus wegmache und wenn mir etwas gar nicht gefällt, kann ich das mit einem Click aufs Video angeben. Wir werden dir in Zukunft weniger davon zeigen, verspricht mir die App. Und ausgehend von meinem Verhalten, von der Art und Weise wie ich mit dem Interface, dem content und der Community interagiere, werden Metadaten erhoben, gesammelt und abgeglichen, um meinen Account zu profilieren. Mit diesen Daten werde ich automatisch und in Sekundenschnelle in sogenannte Filterblasen eingeteilt. Ohne dass ich es irgendwo nachlesen könnte, wurde mit diesen Daten ein Profil von mir erstellt, das fortan ausschlaggebend dafür ist, welche Videos ich sehen werde und welche nicht. Manchmal stelle ich mir vor, dass ein*e Mitarbeiter*in für mich zuständig ist und dieses Profil pflegt, aber ich weiß natürlich, dass diese Metadaten vollkommen posthuman, telemetrisch und jenseits des Interesses an meiner ökonomischen Verwertbarkeit völlig unpersönlich angelegt und verarbeitet werden.

Ich kann und muss mich eigenwillig durch dieses Netzwerk bewegen. Ohne meinen Eingriff wird ein und dasselbe Video unendlich lange wiederholt. Es ist eben nicht das lineare Fernsehprogramm, das sich vor meinen Augen abspult, sondern ein Netzwerk an Daten, durch das ich mich mit meinen Eingaben navigieren muss. Meine Rezeptionserfahrung ist also immer auch von meinem Nutzungsverhalten abhängig. Fabian Raith spricht in diesem Zusammenhang von „digitalen Dramaturgien“, die dem Publikum die Autonomie über den Rezeptionsprozess überlassen: das Erleben sei individualisiert – was Tempo, Zeitpunkt und Vollständigkeit angeht (vgl. Raith 2020). Ich kann einem spezifischen Creator folgen und dann alle seine*ihre Videos nacheinander schauen. Oder ich folge einem hashtag, um mehr zu einem bestimmten Thema zu sehen. Ich kann auch auf den verwendeten filter oder auf die Audiospur tippen, um zu einer Übersicht derjenigen Videos zu gelangen, die diesen filter bzw. diese Audio verwendet haben.

„Suchmaschinen und ihre Algorithmen sind daher Fluch und Segen zugleich, erzeugen sie doch einerseits […] Filter Bubbles […]. Andererseits aber wäre ohne sie, das heißt ohne die statistische und stochastische Vorverarbeitung, eine individuelle wie kollektive Orientierung im Big Data […] kaum noch möglich“ (Otto 2020:7). Anders gewendet: Mein Eindruck ist Ausdruck meines stark individualisierten interface. Erstens heißt das, dass eine andere Person immer auch ganz andere Videos sehen könnte, die ich niemals sehen werde. Zweitens heißt das, dass etwas, das auf meiner fyp total präsent sein kann und zu meiner Wahrnehmung der Welt beiträgt, für andere Nutzer*innen unsichtbar bleiben kann oder in ihrem Erleben von Welt keine Rolle spielt (Stichwort filter bubble). Drittens erzähle ich, sofern ich von dem content auf meiner fyp erzähle, immer auch etwas über mich. Denn meine Interaktionen mit dem interface und meine subjektiven Erzählungen davon tragen wesentlich zu meiner Subjektkonstitution bei (auch im Rahmen dieses Textes). Insbesondere in Gruppen- und Klassengemeinschaften kann das zu entsprechenden Ein- und Ausschlüssen führen. Einerseits kann daher eine fyp – und ebenso vielleicht meine YouTube Startseite, meine Browser Chronik oder mein Instagram feed – etwas sehr Intimes sein, das ich nicht ohne weiteres jemandem zeigen möchte. Andererseits trägt das Teilen bestimmter Inhalte dazu bei Beziehungen mit beispielsweise Freund*innen zu pflegen – Trends, Contents und Challenges können zu einem geteilten Vokabular werden, auf das wir auch zu einem späteren Zeitpunkt zurückgreifen können (vgl. Referentialität bei Stalder 2017). Mit jedem Teilen sage ich in etwa: Das ist mir wichtig – und ich möchte, dass du das (von mir) siehst.

Wann immer ich jetzt die App öffne, kann ich also durch meine Filterblasen surfen. Mit jeder Fingerbewegung, jedem Swipe, folgt das nächste Video. Immer tiefer kann ich eintauchen. Einige Communitys versuchen, mich herzlich zu empfangen und zum Verweilen einzuladen. Welcome to the sad oder insomniac oder messy part of TikTok, heißt es hier. Welcome to the vegan oder queer culture side of TikTok, heißt es dort. Diese Blasen scheinen sich einerseits sehr spezifiziert und auch insgesamt differenziert zu haben, andererseits gibt es auch Überlagerungen, Intersektionen und Synthesen einzelner Communities und Interessengemeinschaften. Dass ich so dezidiert angesprochen werde heißt auch, dass die Creator der Videos ein reflexives Bewusstsein darüber haben, wie stark das individuelle Erleben der Plattform durch dessen Algorithmus gesteuert wird. Als Creator können sie die Zugriffsdaten ihrer Videos und ihres Kanals auslesen und anzeigen lassen. Das Durchschnittsalter, die Herkunft und das soziale Geschlecht sind dabei wesentliche Größen. Mit diesem Zielgruppenbewusstsein erstellen sie bestimmte Videos, in der Hoffnung, auf meine fyp sortiert zu werden. Immer wieder scheint es auch darum zu gehen, ihn zu überlisten, um es auf meine fyp zu schaffen. Es ist ein Wettkampf um Aufmerksamkeit.

Denn oft entscheidet sich in wenigen Sekunden, ob ein Video bis zum Ende geguckt wird oder nicht. Dabei sind die Videos maximal 60 Sekunden lang (mittlerweile sind auch längere Videos möglich). Und auch, oder gerade weil, die einzelnen Beiträge so kurz sind, fällt es umso leichter, gleich mehrere Stunden abzutauchen. Einige Creator versuchen mich also mit entsprechenden Strategien bei der Stange zu halten. Sie beginnen ihre Videos mit direkten Ansprachen: „Warte mal kurz!“ oder „Stop scrolling!“, heißt es dann. Andere entwickeln spezifische Ansprachen: „Alle glücklich verliebten können weiter swipen…Oh, du bist ja immer noch da! Ist alles in Ordnung bei dir?“ Oft sind die Videos so angelegt, dass ich sie gleich mehrmals hintereinander anschauen soll. Besonders erstrebenswert und Ausdruck eines entsprechenden Handwerks ist der perfekte Loop, für den Dramaturgien erfunden werden müssen, deren Ende nahtlos wieder zum Anfang führt; mittlerweile gibt es sogar Videos, die Loops in Loops einbauen. Oder Informationen werden nur für einen ganz kurzen Moment eingeblendet, sodass ich das Video nochmal schauen muss, um mich zu vergewissern, ob ich das richtig verstanden oder gesehen habe. Viele der Videos funktionieren dabei als Teil des intertextuellen Netzwerkes. Sie stellen videoübergreifend zahlreiche Verlinkungen und Verknüpfungen her, die mich zu anderen Videos und Kanälen führen. Mal eint sie dasselbe Audio (das kann ein Ausschnitt aus einem meist populären Song oder die Tonspur eines anderen Videos sein), mal werden dieselben Bilder mit anderen Audiospuren unterlegt oder überschrieben oder mit neuen (Bewegt-)Bildern erweitert, mal Situationen variiert oder Figuren weiter erzählt.

  • Einige dieser Audios richten sich gezielt an bestimmte Situationen: „Play this when you…“ lautet ein entsprechender Trend, der mit zahlreichen Situationen durchgespielt wird. Der Teil der Unterhaltung, den du sprechen sollst wird wie beim Karaoke im Video eingeblendet.
  • Dann finden sich Videos, die mit Ausschnitten aus anderen Videos beginnen. Meist sind  es Antworten auf sogenannte Challenges. Zitiert wird der Aufruf eines anderen Creators, der*die um eine Auskunft bittet oder eine Aufgabe bzw. Handlungsanweisung stellt. „Who is someone famous that you went to high school with?“, „Zeig mir, dass du in Deutschland wohnst, ohne zu sagen, dass du in Deutschland wohnst.“, „Tell us, that you´re best friends without telling us that you´re best friends“, „Show yourself on Instagram vs. Mom´s Facebook. Die unzähligen Antworten dieser Challenges füllen von Zeit zu Zeit die fyp. Mal entwickeln die Variationen die Idee weiter, mal werden sie selbst zum Ausgangspunkt für weitere Videos. Zumindest bis auch dieser Trend schließlich wieder überholt wird. Auffällig ist, dass hier mit Handlungsanweisungen und Anlässen eines biografischen Sprechens gearbeitet wird, die sich so oder so ähnlich auch in der theaterpädagogischen und literarischen Praxis finden lassen.
  • Einige Videos enden mit dem Verweis auf Folgevideos. „Folgt für Part 2“ heißt es da, um Nutzer*innen zu einem Abo zu bewegen. Manchmal mit dem Hinweis, dass man in 24 Stunden wiederkommen soll, um zu sehen, was daraus geworden ist. Vorgänge werden (mehr oder weniger absichtlich) in die Länge gezogen, sodass sie nicht innerhalb der 60 Sekunden Beschränkung gezeigt werden können – das sind insbesondere Rezepte oder Hacks, die bei alltäglichen Problemsituationen helfen sollen. Andere Videoserien erzählen von langwierigen Projekten oder bauen einen Cliff Hanger ein. Manche verabreden sich in den Kommentarspalten: „Sagt mir Bescheid, wenn Part 2 online ist“.

TikTok erweitert seine Funktionen beständig, um Handlungsspielräume anzupassen oder neue zu eröffnen. Beispielsweise die Duett-Funktion. Damit können Videos miteinander kombiniert werden, sodass ich neben einem bestehenden Video meine neue Aufnahme ergänzen kann. Was später wie der gleichzeitige Auftritt aussieht, verschleiert also, dass die Videos nie gleichzeitig aufgenommen wurden. Diese Funktion hat zu zahlreichen Videos geführt, bei denen Personen sich bei sogenannten Reactions selbst filmen, wie sie einen bestimmten Content mit der Behauptung, dass sie den Inhalt zuvor noch nicht gesehen haben, ansehen. In anderen Duetts geht es tatsächlich darum, einen Dialog nach zu sprechen, den Originalton eines Films oder eine Serie zu Lipsynchen oder gemeinsam einen Song zu singen. Die jeweiligen Anteile werden meist farbig unterlegt als Text eingeblendet: „Du singst den grünen Part, ich den blauen“.

Wenn ich die Duett-Funktion bei einem Video benutze, das selbst bereits ein Duett ist, wird mein Video wiederum neben den beiden Videoframes ergänzt. Setzt man diese Praktik fort, ergibt sich eine Art Mosaik, bei dem jeder Beitrag dem Gesamtbild etwas hinzugefügt hat. Das bemerkenswerteste Projekt, das sich aus den eben beschriebenen Praktiken und Phänomenen dieser Plattform entwickelt hat, ist das Online-Musical zum Disney Film „Ratatouille“. Es ist schwer, den Anfang dieses Projektes auszumachen – der Disney Film hatte schon zuvor für den ein oder anderen Trend gesorgt. Dann im August 2020: Emily Jacobsen (@e-jaccs) erfindet spontan eine Melodie und eine erste Textzeile, die die Ratte aus dem Film besingt. Die Melodie wird zum Ohrwurm, wird von anderen User*innen mit anderen Bildern unterlegt oder neu gesummt. Später wird sie von einem Sounddesigner und Komponisten professionalisiert und wieder in den Umlauf gebracht. Diverse Wiederholungen, Variationen, Iterationen später hat sich eine ganze Community konstituiert, die sicherlich auch aus der globalen Situation der häuslichen Quarantäne heraus das gemeinsame Ziel formuliert, ein Musical zu entwickeln. Mit dem Schriftzug „My submission to the ratatouille“ überschrieben und unter den hashtags #ratatouille #ratatouillemusical versammeln sich Beiträge aus den verschiedensten Künsten und Professionen. Es werden Ideen für weitere Songs und Dialoge, Kostüm-, Puppen- und Bühnenentwürfe und Choreografien vorgeschlagen und im quasi peer-to-peer-review durch Duett-Funktionen und Algorithmen verifiziert oder verworfen, weitergesponnen und zusammengefügt. Es kommt wie es kommen muss: Nachrichtensender werden auf dieses Treiben aufmerksam, berichten darüber, bis sich schließlich Disney einschaltet. Statt einer Copyright-Klage wird angekündigt, dass man nun an der tatsächlichen Umsetzung für den Broadway arbeitet und einige Creator für die weitere Kollaboration eingeladen hätte. Andere Stars und Promis werden hinzugezogen und zum Jahreswechsel wird das Musical als Benefizveranstaltung gestreamt. Und so führt die Unterhaltungsplattform innerhalb weniger Wochen die enormen, spontanen und mitunter skurrilen Synergien vor, die das Internet zwischen Menschen auf der ganzen Welt schaffen kann.

Viele dieser Videos sind, wie sich unschwer an meinen Beschreibungen ablesen lässt, in englischer Sprache verfasst. Das heißt nicht, dass sie zwangsläufig alle aus dem angloamerikanischen Sprachraum stammen – vielmehr scheint das Englische die verbindende Sprache über Ländergrenzen hinweg zu sein. Zumindest für eine bestimmte Alters- und Zielgruppe, die sich geografisch nicht eindeutig verorten lässt. Auch einige deutsche Creator veröffentlichen ihre Videos auf Englisch um Teil dieser globalen Community zu werden. Auch zeigt das, dass Gruppen, die einen gemeinsamen Bedeutungshorizont teilen, nicht mehr zwangsläufig in der eigenen Nachbarschaft angesiedelt sind. Zu den digitalen Praktiken gehört es, dass sie eine Globalisierung ermöglicht haben, die sich auch auf die miteinander geteilten Erfahrungen und in das private Umfeld niederschlagen. Gerade für queere Personen war das Internet schon lange der Ort, der wesentlich zur Identitätsbildung beigetragen hat und diejenigen Kontakte herstellt, die einem im lokalen Umfeld zu fehlen scheinen.

Viele Praktiken, auch das kann man an meinen Beschreibungen ablesen, werden mit englischen Vokabeln und Ausdrücken verbunden, für die es z.T. keine deutschen Entsprechungen gibt – und die als solche in den Sprachgebrauch vieler deutscher Jugendkulturen eingeflossen sind. Sicherlich kann man vielen dieser Videos vorwerfen, dass sie bloße Unterhaltung seien. Eine Zeit lang wurde dem Algorithmus auch vorgeworfen, dass er diskriminierend sei – und das war er tatsächlich. Er war tatsächlich so programmiert, dass er bestimmte Marginalisierungen und Diskriminierungen perpetuiert hat, indem er eine bekannte Norm (weiß, männlich, heterosexuell) bevorzugt und andere Inhalte unsichtbar gemacht hat (vgl. Wolf 2020; Lobe 2021). Seit den Vorwürfen wurden diese programmierten Filter, so meine Wahrnehmung, durchlässiger - auch wenn eine kritische Überprüfung diesbezüglich aussteht. TikTok kann (auch wenn das durch die Filterblasen z.T. nicht sichtbar wird) eine Plattform sein, die dadurch gekennzeichnet ist, dass sie marginalisierten Communitys einen Raum für ihre Gemeinschaftlichkeit bietet, nicht nur, aber auch durch entsprechende Alltagsnähe. Und das Verrückte: Hier kann jede*r berühmt werden – es ist nur völlig intransparent, wann und wie das passiert. Und wenn es mal soweit sein sollte, dann kann es morgen bereits wieder vorbei sein, denn gesehen werden, das wollen sie alle – und neue Videos werden im Sekundentakt eingespeist.

Live-Chats und Aufmerksamkeitsökonomie bei Twitch.Tv

„@Jankos, please can you stay till midnight?“ wird der erfolgreiche polnische E-Sportler Jankos an Silvester 2020 gefragt, während etwa 12 Tausend Personen seinem Stream auf Twitch.tv folgen. Jankos ist für professionelle E-Sport Teams bei Europa- und Weltturnieren angetreten. In YouTube Videos zeigt er die Gaming-Wohnung, in der das ganze Team unterkommt und gemeinsam trainiert. Beim Streaming-Anbieter Twitch.tv lässt er die Fans an seinem Training teilhaben. Er verbringt mit dem Live-Chat die Wartezeit zwischen den Spielen, beantwortet Fragen, die über den Chat an ihn gerichtet werden, teilt Insider-Wissen und Spieletipps mit seinen Abonnent*innen und Zuschauer*innen. Wer kleine (Echt-)Geldbeträge spendet, kann kurze Textnachrichten im Live-Stream vorlesen lassen. Die Botschaften werden dort eingeblendet und automatisch von einer Computerstimme vorgelesen, sodass alle es mitbekommen. Viele Beiträge gehen im Chat unter, weil dort tausende User*innen gleichzeitig schreiben können, manche Spammen und anders als bei den Meisterschaften, gibt es hier keine Chat-Moderator*innen, die Nachrichten löschen oder Teilnehmer*innen blockieren können. Viele schreiben hier belanglose Kommentare, oft wird dasselbe geschrieben, manchmal werden sogenannte Emotes oder kanalspezifische Kürzel geteilt. Über die Spendenfunktion kann in dieser Flut etwas Aufmerksamkeit, sozusagen ein kleines Spotlight, erkauft werden. Wenn der Streamer darauf nicht eingeht, kommt Protest im Chat auf, schließlich sei er den jeweiligen Spender*innen gegenüber verpflichtet, im Gegenzug auch etwas Aufmerksamkeit zu schenken. Die Aufmerksamkeit der 12 Tausend Personen jedenfalls richtet sich, wie an vielen anderen Abenden, auf den Streamer – er scheint hier für alle im Mittelpunkt zu stehen. Es ist ein Ritual für sie – sie kommen oft hier her und zwischen Turnieren streamt Jankos fast jeden Tag. Sie sind hier, um etwas von ihm mitzubekommen, um an seiner Performance im game und vielleicht auch an seinem Alltag teilzuhaben. Sie wollen dabei sein, wenn er im match abliefert, grandios scheitert, oder Informationen leakt (aus Versehen veröffentlicht) – sie wollen möglichst nah dran sein. Dennoch bleibt es seine Entscheidung, wen er für einen Moment auf seine Bühne einlädt, wem er seine Aufmerksamkeit schenkt und wie lange die Bühne heute geöffnet bleiben wird.

„@Jankos, can you please leave the stream open? You will make money, and we won´t have to be alone!“, schreibt jemand, als er sagt, dass er den Stream spätestens um 22:30 Uhr beenden wird. Doch was heißt eigentlich 22:30 Uhr? Die Zuschauer*innen stammen aus verschiedenen Teilen der Welt, leben in unterschiedlichen Zeitzonen. Für einige hat der neue Tag und in diesem Fall das neue Jahr bereits begonnen, andere haben noch einige Stunden vor sich. Und trotzdem formulieren sie plötzlich den Wunsch, beisammen bleiben zu wollen – schließlich wollen sie an diesem ehemals besonderen Abend, den sie vielleicht erstmals mit entsprechenden Kontaktbeschränkungen erleben, nicht alleine sein. Streaming wird hier auch als performative Praktik kenntlich: nur solange dieser technische Vorgang durchgeführt wird, kann auch der digitale Raum, den er simuliert und konstituiert, aufrechterhalten werden. In Anbetracht der Gefahr, dass dieser Stream bald beendet wird, verabreden sich einige im Chat, um in andere Räume zu wechseln und dort zusammenzubleiben – auch ohne denjenigen, der sie an diesem Abend zusammengebracht hat.

Der Live-Chat, den diese Plattform jedem Stream zur Seite stellt, scheint durch und durch auch ein sozialer Ort zu sein. Ein Ort, an dem es jedoch, obwohl er zu großen Teilen schriftbasiert ist, weniger darum geht, konkrete Verhandlungen sprachlich miteinander auszutragen. Mehr noch scheint es (auch) darum zu gehen, überhaupt darin aufzutauchen, sichtbar zu werden, wenn auch nur für einen kurzen Augenblick. Es geht gewissermaßen darum, sich hier einzuschreiben: „Ich war hier!“. Allein während ich diesen Artikel schreibe, beherbergt Twitch gerade 4,5 Mio. Zuschauer*innen auf etwa 190 Tausend Kanälen. Und zu vielen dieser Kanäle gehört wiederum eine entsprechende Community. Wobei einzelne User*innen durchaus auch in mehreren Kanälen unterwegs sein können. Die Kategorien, die auf Twitch vertreten sind, sind dabei längst über E-Sport und Let´s Play-Kanäle, die sich nach Franchises und Games ordnen lassen, hinausgewachsen. An ihre Seite gesellen sich weitere Kanäle von Just Chatting, Musik & Konzerte, Talkshows & Podcasts bis Essen. Ausschnitte dieses Silvesterabends mit Jankos begegnen mir später übrigens auch auf meiner YouTube Startseite. Auf Twitch.tv erhält Jankos bzw. das E-Sport Team, bei dem er angestellt ist, die entsprechenden Einnahmen für das Streaming. Es ist durch Werbeanzeigen und Sponsoring finanziert und wird mit den Abos der Zuschauer*innen auch entsprechend monetarisiert und ökonomisch verwertbar. Die Zusammenschnitte auf verschiedenen YouTube Kanälen öffnen Zweit-Verwertungszyklen, generieren dort weitere Views und Clicks.

Echtzeit, serielles Erzählen und Intimität bei DRUCK

Die Jugendserie DRUCK wird regelmäßig online veröffentlicht, hat derzeit (März 2021) etwa vierhunderttausend Abonnent*innen, 115 Millionen Aufrufe und folgt dem norwegischen Originalkonzept der Serie „SKAM“. Unter ihrem Video heißt es:

„DRUCK - Die Serie wird die ganze Woche über erzählt. Wir veröffentlichen Inhalte dann, wenn sie passieren. Das Schulende mittags um halb eins, die Party abends um zehn – ihr seid immer dabei! Jeden Freitag gibt es dann die komplette Woche nochmal als Folge - mit zusätzlichen und brandneuen Inhalten! Aber DRUCK läuft nicht nur auf YouTube! Auf Instagram und Telegram findet ihr weitere spannende Inhalte! So könnt ihr die Mädels und Jungs von DRUCK rund um die Uhr in ihrem Alltag begleiten. Liebe, Freundschaft und die eigene Identität – das ist DRUCK. Deine Serie - in Echtzeit, immer dann, wenn etwas passiert.“

Die Funk-Serie Druck hat eine YouTube Premiere angesetzt. Die Plattform bietet mir an, eine Erinnerung einzurichten. Die neue Folge erscheint immer freitagabends, das kenne ich bereits von den vorherigen Staffeln, aber weil Neujahr auf einen Freitag fällt, erscheint die neue Folge bereits kurz vor Mitternacht. Wenn ich die Live-Premiere verfolge, dann wird in der Folge auf das neue Jahr angestoßen, sobald auch bei mir der Countdown abgelaufen ist. Drei Aspekte möchte ich hier herausstellen – das Narrativ der Echtzeit, das serielle Erzählen und die Inszenierung von Intimität – die eng miteinander verknüpft sind.

Unter Echtzeit verstehe ich den Modus ihrer Veröffentlichung. Die erzählte Zeit überlagert sich so mit meinem eigenen Alltagserleben. Das Ziel ist es, die Illusion einer Gleichzeitigkeit herzustellen – eben „immer dann, wenn etwas passiert“.  Wenn ich zur Arbeit fahre, sind die Protagonist*innen auf dem Weg zur Schule; wenn ich wach im Bett liege und nicht schlafen kann, findet vermeintlich zur selben Zeit in der Serie ein Filmabend statt, den ich mir angucken kann. Wenn sich die CA$HQUEENS am Montag für Freitag verabreden, dann muss auch ich bis Freitag warten, um endlich mitzuerleben, was bei der Party passiert – wenn Fatou auf eine Nachricht von ihrem Schwarm wartet, dann muss auch ich warten, bis endlich eine neue Benachrichtigung kommt. Gleichwohl handelt es sich immer um bereits vorproduzierte Versatzstücke, sogenannte Clips, die trotz ihrer Improvisationsanteile immer einem konzipierten und verabredeten Drehbuch folgen. Sie werden strategisch ausgewählt und zeitversetzt veröffentlicht. Friedrich Kirschner weist diesbezüglich insbesondere auf Potentiale des seriellen Erzählens hin. „[D]urch gemeinsames, geteiltes Wissen über einen langen Zeitraum kann man ebenso eine Beziehung zu Figuren aufbauen, sie mit der eigenen Lebensrealität abgleichen und mit Freund/innen diskutieren, wie durch die uns [Theatermacher*innen, Anm. d. V] naheliegende Verdichtung einer dramatischen Situation innerhalb weniger Stunden“ (Kirschner 2020:72). Während im Theater oft dramatischen Verdichtungen erzählt werden, sind es im Internet die kurzen Clips, Fragmente und Ausschnitte, die für sich allein, oder auch aneinandergereiht, die Erzählung ausmachen. Muss sich das Theater also im Gegenzug stärker an der Einheit von Raum und Zeit orientieren – Situationen und Momente aushalten?

Ohne Frage - diese zeitliche Zerstreuung kenne ich auch von linearen Serien, die in vergangenen Jahrzehnten fürs Fernsehen produziert und dort wöchentlich ausgestrahlt worden sind. Dass es Neuigkeiten, gibt erfahre ich in diesem Fall jedoch nicht erst in der nächsten Folge oder in der Programmzeitschrift, sondern sogleich auf mehreren Kanälen – diese Serie schreibt sich gewissermaßen vielfach in meinen Alltag ein. Bei Instagram kann ich zwischen den Folgen neue Postings, Bilder und Kommentare sehen, Verlinkungen und Stories entdecken; bei Telegram bekomme ich einen Einblick in tagesaktuelle Chatverläufe der Protagonist*innen und YouTube erinnert mich daran, dass gerade ein neuer Clip veröffentlicht wurde. Ob Kieu My sich nach dem Kuss an Silvester endlich gemeldet hat, wird beispielsweise auch in WhatsApp Verläufen unter den CA$HQUEENS verhandelt, die ich voyeuristisch mitlesen kann. Ein programmierter Bot, den ich bei dem Messenger Telegramm abonnieren kann, sendet mir entsprechende Screenshots dieser Unterhaltungen automatisch zu. Und zuletzt hat jede Figur der Serie noch einen Instagram-Account, den sie regelmäßig bespielt. Und da, endlich: Kiew My hat erstmals ein Foto von Fatou geliked – und vielen Followern ist das gleich aufgefallen; sie kommentieren das neue Foto, machen darauf aufmerksam, hypen sich gegenseitig und hoffen, dass es mit den beiden vielleicht doch noch was wird. Einige sprechen Fatou sogar Mut zu, sie solle sich doch nochmal bei Kiew My melden. Obwohl die Figuren eigentlich nie auf solche direkten Nachrichten antworten, scheint dennoch die Motivation vorhanden zu sein, Kontakt aufnehmen zu wollen. Es zeugt von dem Wunsch, mit diesen Figuren, die ihre Zuschauer*innen vermeintlich so nah an ihrem Leben teilhaben lassen, auch interagieren zu wollen. Die Illusion von Echtzeit und das Eindringen in meinen Alltag mithilfe der vielen Plattformen, die ich auch mit meinen sogenannten echten Freunden täglich nutze, inszenieren dabei eine Intimität, eine Art Fern-Nähe. Erzählt wird vom Fortlauf der Geschichten somit immer multimedial und vor allem: aus verschiedenen Perspektiven. Wenn diese Figuren etwas menschliches gewinnen, dann gerade durch ihre alltäglichen Sorgen, Hoffnungen und Ängste, die sie mit mir teilen. Diese Strategien erzeugen eine Immersion: sie verwischen Grenzen zwischen öffentlich und privat, zwischen live und digital. Selbst wenn zwischen mir und den Figuren immer ein Screen bleiben wird, so fühlt es sich vielleicht für einen Moment so an, als könnten wir wirklich befreundet sein – als hätte mein Zuspruch, mein Kommentar unter diesem Post, eine tatsächliche Auswirkung auf den Verlauf der Geschichte. Und selbst wenn Fatou nicht auf meinen Instagramm-Kommentar antworten wird, so versammelt sich in den Kommentarspalten bei YouTube, im Live-Chat am Freitag und unter allen Beiträgen der Figuren dieser Staffel doch eine eigendynamische Community, die gemeinsam mit mir verhandeln will, wie es weitergehen könnte. Diese Community kann sich ganz offensichtlich mit den Figuren und Geschichten identifizieren. Und schon werde ich eingeladen, mich einer Fan-Gruppe anzuschließen.

Während ich die erste Variante dieses Textes schreibe, werde ich an die Premiere erinnert. Die Benachrichtigung taucht auf meinem Display auf und ich schalte ein. Den Namen für das Live-Ereignis hat sich das Internet beim Theater geliehen. Was in der heutigen Folge passieren wird steht aber schon lange fest, es folgt einem Drehbuch, ist abgedreht, aufgezeichnet, verarbeitet und geschnitten worden. Live ist nur der chat und die Tatsache, dass ich nicht vorspulen kann – für 25 Minuten werden alle Zuschauer*innen gleichgeschaltet und schauen gemeinsam. Später kann ich die Folge wieder nach Belieben wiederholen, vor- und zurückspulen und pausieren, wie ich es gewohnt bin. Der Live-Chat der heutigen Folge hat einen Puls, könnte man sagen. „Druck – Die Serie“ mischt selbst mit: „Hey liebe Community! Zeit für Folge 5 ❤️ Wir hoffen, ihr seid auch schon so hyped wie wir“ schreiben sie zu Beginn der neuen Folge in den Chat und auch während der Folge kommentieren sie, was passiert, stellen Fragen und mischen sich unter die Community. Während seines Ruhepulses flattert jede Sekunde etwa ein Kommentar herein. Doch als sich am Ende der Folge, und damit am Ende vieler Missverständnisse und zwei Wochen Liebeskummer, die ich miterleben konnte, Fatou und Kiew My endlich wieder küssen, überschlagen sich die Kommentare im Chat. Ich kann förmlich sehen, wie die Herzen der Community höherschlagen. Und gleichzeitig wissen alle, dass die Staffel damit noch nicht beendet ist. Der Kuss ist nicht das Ende der Geschichte – fünf weitere Folgen, fünf weitere Wochen werden wir Fatou begleiten, bevor in der nächsten Staffel die nächste Person aus dem fiktiven Freundeskreis im Mittelpunkt stehen wird. Bis dahin kann noch viel passieren. Was das sein könnte, darüber wird in den Kommentarspalten bereits gemunkelt. Die Entscheidung jedoch wird beim Produktionsteam bleiben. Update: Mittlerweile haben die Fans dazu beigetragen, dass die Serie eine Folgestaffel erhalten hat. Wenige Tage bevor ich die Aktualisierung dieses Textes beginne, wird deren Fortsetzung groß angekündigt – mittlerweile wurde die erste Folge veröffentlicht. Gab es das schonmal an einem Theater, dass das Publikum derart in die Programmplanung eingegriffen und einen Folgeteil eingefordert hat – Faust III by popular demand?

Beziehungspflege für ein Theater der Zukunft

Was ich beschrieben habe sind nur kleine Ausschnitte dessen, was ich derzeit an zeitgemäßen künstlerisch-ästhetischen Ausdrucksformen beobachte. Es sind Ausdrucksformen, die gerade auch für Kinder und Jugendliche zur alltäglichen Lebensrealität gehören. Leben findet heute unausweichlich im Kontext von Suchmaschinen, sozialen Netzwerken und mobilen Daten statt, selbst wenn ich mich deren Nutzung zu entziehen versuche. Das „Aufgreifen zeitgemäßer künstlerisch-ästhetischer, analog-digitaler Ausdrucksformen“ identifiziert Susanne Keuchel als eines der wesentlichen Herausforderungen und „Handlungsfelder der Kulturellen Bildung im postdigitalen Zeitalter“ (Keuchel 2020:o.S.). Keuchel weiter: „Wenn Kulturelle Bildung den Anspruch der Lebensweltorientiertheit für junge Menschen aufrechterhalten möchte, gilt es nicht nur analoge jugendkulturelle Ausdrucksformen in den Blick zu nehmen, sondern auch zeitgenmäße analog-digitale“ (ebd.). Es gilt dabei jedoch auch anzuerkennen - so möchte ich hinzufügen -, dass diese Strukturen niemals rein technisch, sondern immer auch sozial und politisch sind. Das Web 2.0 zeichnet sich insbesondere durch gemeinschaftliches Arbeiten, Partizipation, Prozessualisierung, Interaktion (vgl. Lai/Turban 2008:388) aus. Will das Theater bei diesen sozialen und politischen Aushandlungen der neuen Kultur(en) des Zusammenlebens (weiter) mitspielen, gilt es das, was unter Theater verstanden wird, kritisch zu hinterfragen. Für diese Reflexion des Theaters lassen sich aus meinen Beschreibungen einige Fragen nach dem Publikum, der Rahmung, der Ereignishaftigkeit, den Ästhetiken und Arbeitsweisen ableiten, die es für jedes Theatervorhaben zu beantworten gilt:

  • Welche Beziehung will das Theater mit seinem Publikum eingehen? Und wo ist dieses Publikum verortet? Muss sich das Theater standortspezifischer mit seinem Publikum beschäftigen? Wie könnten diese Beziehungen auch über Distanzen hinweg oder über längere Zeit gepflegt werden? Wie gelingt es, sie wechselseitig, verlässlich und interessant zu gestalten, trotz der großen Konkurrenz im Internet? Und in welchem Verhältnis steht das Theater zu seiner ökonomisch vereinnahmten Konkurrenz im Netz?
  • Wie kann das Theater mit der Gewohnheit eines individualisierten Erlebens und Medienkonsums umgehen? Was heißt Erleben im Theater, wenn jede Person gewohnt ist, anderswo das Tempo, den Zeitpunkt und die Vollständigkeit mitzubestimmen? Welche Metadaten erhebt das Theater eigentlich über seine Zuschauer*innen, um zu entscheiden, was sie interessieren könnte? Was heißt es, heutzutage ganze Personengruppen mit gänzlich unterschiedlichen „for you pages" (fyp), Vorlieben und Seherfahrungen, in einen Raum zu setzen (das kann auch ein digitaler sein)? Was für eine Aufführung muss das sein, der sie dann gemeinsam folgen wollen, ohne einfach um- oder ausschalten zu können?
  • Wie kann das Zusammentreffen zum Ausnahmezustand werden, für den sich das Warten gelohnt hat? Wie lassen sich diese stark individualisierten Personen vergemeinschaften? Was muss in diesem Raum passieren, damit es zur Differenzerfahrung, zum sozialen Ereignis und zum tatsächlichen Erlebnis werden kann?
  • Welche Räume müssen vor oder hinter eine Aufführung geschaltet sein, um Austausch, Feedback und soziale Interaktion zu ermöglichen? Und wie würden sich Inszenierungen verändern, wenn sie diese intersozialen Räume von Beginn an mitdenken würden? Welche Handlungsmacht über das Erleben und die Erzählung kann und will das Theater dabei abgeben? Welche Möglichkeiten könnten Strategien des kollaborativen Storytelling oder der seriellen Erzählung eröffnen? Wann beginnt eine digitale Aufführung und wann endet sie? Welche Beziehung könnte ein Publikum zu den Figuren einer Inszenierung (und vielleicht auch zu den Menschen am Theater) aufbauen – auch aus der Ferne oder eben über längere Zeit und Episoden hinweg?
  • Wann findet dieser Raum statt, in dem die Aufführung geteilt wird, und wie lange bleibt er als solcher bestehen? Wird es ein Raum sein, in dem alle gleichzeitig etwas erleben oder kann er zeitlich versetzt betreten und wieder verlassen werden? Wie veränderbar ist dieser Raum und welche Zugangsbarrieren sind mit ihm verbunden? Wie ortsspezifisch und lokal sind diese Räume gedacht? Welche performativen Situationen werden in diesen entworfen und gestaltet, um neue Formen des Zusammenlebens zu suchen, zu probieren oder zu reflektieren? Und welche asynchronen und asyntopen Strategien werden dabei eingesetzt? Wer kommt dort überhaupt zusammen (und wer nicht)?

Wenn ich nach Tipps für Fernbeziehungen suche, dann schlägt das Internet mir vor, nach langen Trennungsphasen vielleicht erstmal mit einem Spaziergang oder einem Kaffee oder Tee zu starten. Damit eine Fernbeziehung funktioniert, gelte es sich einander anzunähern. Vielleicht müssen dafür neue Rituale erfunden werden, damit das Theater trotz Fernbeziehung mit seinem Publikum im Kontakt bleiben kann. Oder anders: Wenn ich als Theaterpädagoge mit dem Jungen Publikum in Kontakt bleiben möchte, dann muss Theater auch als Fernbeziehung gelingen.

Nach meinem professionellen Selbstverständnis zählt als ein wichtiger Schritt dazu, die Arbeit im Theater und insbesondere diejenige mit Jungem Publikum, immer auch als eine Beziehungspflege und gemeinsam geteilte Lebenszeit anzusehen. In der theaterpädagogischen Praxis „wird eine Spielleitung, selbst wenn sie immer wieder besondere Verantwortung und Entscheidungsbefugnisse hat, zum Teil der Gemeinschaft“ (Wartemann 2013). Und diese Gemeinschaft funktioniert dann, wenn Zusammenarbeit auf Augenhöhe stattfindet. Ein wichtiger Ausgangspunkt dafür ist für mich, die digitalen jugendkulturellen Ausdrucksformen als dezidiert künstlerisch-ästhetische und soziale Praxen anzuerkennen und beispielsweise den Kindern und Jugendlichen, die damit alltäglich umgehen (ob rezipierend oder produzierend), mit entsprechendem Interesse gegenüberzutreten.

Um diese Beziehung jedoch nicht einseitig zu gestalten, darf ich dabei die eigenen (Un-)Gewohnheiten, Praktiken und (Des-)Interessen nicht versteckt halten, sondern sollte sie im Sinne eines Austausches offenlegen und mit den Teilnehmer*innen besprechen. In dieser Beziehung sollte es also für beide Seiten genug Zeit geben, um sich kennenzulernen; und gleichzeitig könnte das Theater (und die Frage bleibt, was genau das eigentlich ist und sein könnte) ja das verbindende Element sein. Hier gemeinsam zu experimentieren, indem in Workshops, Angeboten und Projekten zeitgemäße künstlerisch-ästhetische, analog-digitale Ausdrucksformen aufgegriffen, ausprobiert, kombiniert, variiert und reflektiert werden, ist eine reizvolle Angelegenheit. Ich suche damit nach Möglichkeiten, um Theater auch mit digitalen Tools zu ermöglichen, zu verstärken oder gar herauszufordern. Gerne, indem ich die technischen Geräte, die die Teilnehmer*innen größtenteils ohnehin immer dabeihaben, in die Aufgabenstellungen, Settings, Scores und Versuchsaufbauten auf der Bühne einsetze – aber auch, indem ich den klassischen Theaterraum verlasse.
Bei Workshops sage ich oft:

„Ich habe nicht vor mit Euch Schauspiel zu machen – es wird hier keinen Text geben, den ihr auswendig lernen sollt. Stattdessen versuchen wir herauszufinden, wie wir in Anbetracht der kurzen Zeit, die wir hier gemeinsam verbringen werden, irgendwie Theater machen können. Und was das eigentlich bedeutet.“ Im Lockdown war diese Ansage eine etwas andere – da war ich sozusagen gezwungen zu sagen: „Gerade weil wir uns heute nicht im Theater versammeln dürfen, müssen wir hier im digitalen Raum irgendwie zusammenzukommen. Und wer weiß - vielleicht ist das, was wir heute tun werden, vielleicht doch ein bisschen wie: Theater?!“

Mit dem Spielclub des JES habe ich mich dann online getroffen. In Videokonferenzen, in Chatverläufen und Sprachnachrichten, bei Spaziergängen mit dem Mobiltelefon oder in gemeinsamen Online-Dokumenten haben wir versucht, Geschichten (anders) zu erzählen, Handlungsanweisungen füreinander zu formulieren und Performance-Miniaturen aufzuführen. Aber ehrlicher Weise ging es auch darum, einfach im Kontakt zu bleiben – in der Hoffnung, dass man sich irgendwann einmal wiedersehen würde. Immerhin war das der Grund, warum wir überhaupt zusammengefunden haben.

Verwendete Literatur

 

Verwendete Internetquellen

Anmerkungen

Der auf der Wissensplattform KULTURELLE BILDUNG ONLINE publizierte Beitrag "Theater als Fernbeziehung" ist die überarbeitete und erweiterte Fassung eines Artikels, der erstmals im Dezember 2020 für die Zeitschrift für Theaterpädagogik - Korrespondenzen, Heft 78/2021 zum Thema "Theater und Digitalität" verfasst wurde. Der Autor weist darauf hin, dass es ein Ausdruck der Schnelllebigkeit der Plattformen ist, dass die Trends, die darin beschrieben sind, schon nach kurzer Zeit nicht mehr wirklich aktuell sind. Kubi-online dankt den Herausgeber-Fachverbänden der ZfTP und den Heftmoderatoren Simone Boles und Wolfgang Sting, für die digitale Freigabe der Artikeltexte in Heft 78.

Zitieren

Gerne dürfen Sie aus diesem Artikel zitieren. Folgende Angaben sind zusammenhängend mit dem Zitat zu nennen:

Thilo Grawe (2021/2021): Theater als Fernbeziehung? Folgefragen für eine digital-analoge Theaterpädagogik - auch jenseits der Pandemie. In: KULTURELLE BILDUNG ONLINE: https://www.kubi-online.de/index.php/artikel/theater-fernbeziehung-folgefragen-digital-analoge-theaterpaedagogik-auch-jenseits-pandemie (letzter Zugriff am 16.07.2024).

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Dieser Artikel wurde dauerhaft referenzier- und zitierbar gesichert unter https://doi.org/10.25529/bmg2-3y63.

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