Tanzen ist Macht? Tanz und seine Rolle in Transformationsprozessen der Republik Mali
Die Rolle von Künstler*innen und Kulturvermittler*innen in gesellschaftlichen Transformationsprozessen in der Region Westafrikas – Beiträge eines Seminars am Institut für Kulturpolitik der Universität Hildesheim
Abstract
Gesellschaftliche Transformationsprozesse werden von zivilgesellschaftlichen Akteur*innen beeinflusst. Unter dieser Prämisse untersucht der Artikel die Rolle von Kulturarbeit in der Republik Mali. Im Zentrum der Analyse steht dabei ein Interview mit der Tänzerin und Choreographin Fatoumata Bagayoko, die sich für die Rechte von Mädchen und Frauen engagiert und sich gegen weibliche Genitalverstümmelung einsetzt. Inwieweit ist es der Künstlerin möglich, als ‚Agentin der Transformation‘ zu wirken? Vier Kategorien – Darstellung, Dialog, Sensibilisierung und Empowerment – werden vorgeschlagen, mit denen die „aktive gesellschaftspolitische Teilhabe am Transformationsprozess“ (Lettau 2020:179) der Künstlerin beschrieben werden kann.
Die Tänzerin stellt Themen geschlechtsspezifischer Gewalt künstlerisch dar. Diese Darstellung erfolgt immer im Rahmen dialogischer Prozesse, sei es während des Schaffensprozesses selbst oder im Kontext der Präsentation. Dies führt zu einer Sensibilisierung der Rezipient*innen für Themen, die den weiblichen Körper betreffen. Gleichzeitig finden Empowerment-Prozesse statt: Über die eigene Selbstermächtigung ermöglicht Fatoumata Bagayoko Anderen mit auf diesen Weg zu gehen. Transformationen sind folglich auf individueller und gesellschaftlicher Ebene zu beobachten.
Einleitung
Transformation, verstanden als „Wechsel der konstitutiven Formbestimmtheiten gesellschaftlicher Re- und Neuproduktion“ (Kollmorgen 2006:18) stellt einen bewusst vorangetriebenen Prozess dar, der das Bewusstsein für Missstände bei einzelnen Akteur*innen voraussetzt. Die Art und Weise, wie sich Gesellschaft konstituiert, miteinander kommuniziert und (Gesprächs-)Kulturen immer wieder neu ausgehandelt werden, ist stark mitgeprägt von zivilgesellschaftlichen Akteur*innen, zu denen auch Künstler*innen zählen:
„Der Ansatz der Zivilgesellschaft kann dann als eine analytische Anstrengung beschrieben werden, die Gesellschaft wieder in die Untersuchung politischer Transformationen einzubringen. […] Der analytische Fokus auf zivilgesellschaftliche Akteure und Aktivistennetzwerke als wichtige Träger (agents) der Transformationen und deren Interaktion mit dem Staat und den Eliten [besitzt] das Potenzial, unser Verständnis der Mechanismen und Prozesse politischen Wandels zu verändern.“ (Ekiert 2015:203)
Das Ziel des folgenden Artikels ist es, diesen Ansatz nachzuverfolgen und ihn in Bezug auf gesellschaftliche Transformationsprozesse am Beispiel der Republik Mali fruchtbar zu machen. Ein Interview mit der malischen Künstlerin Fatoumata Bagayoko soll dazu ausgewertet werden, um ihre Rolle in diesem Transformationsprozess näher zu beleuchten. Die Tänzerin setzt sich für die Rechte von Mädchen und Frauen in Mali ein und engagiert sich gegen weibliche Genitalverstümmelung. Dass diese traditionelle Praxis nicht nur in Mali, sondern weltweit ein Problem darstellt, hat nicht zuletzt noch einmal die „Erklärung zum internationalen Tag der Nulltoleranz gegenüber der Genitalverstümmelung bei Frauen und Mädchen“ (Guterres 2021) vom 06. Februar 2021 seitens der Vereinten Nationen gezeigt: „Wir müssen diese Stimmen [junger Menschen] verstärken und ihnen helfen, sich für Veränderungen und für ihre Rechte einzusetzen.“ (Guterres 2021) Der folgende Artikel stellt den Versuch dar, die Herangehensweise von Fatoumata Bagayoko genauer zu beschreiben:
„Kulturaktivisten definieren ihr Handeln selbst als aktive gesellschaftspolitische Teilhabe am Transformationsprozess. Somit können sie sowohl Akteure als auch Träger des Transformationsprozesses sein, agieren aber nicht als direkte politische Akteure.“ (Lettau 2020:179)
Es gilt zu untersuchen inwiefern diese Schlussfolgerungen von Meike Lettau auch Gültigkeit für den hier zu untersuchenden Kontext beanspruchen können. Dazu gilt es zunächst die Künstlerin Fatoumata Bagayoko vorzustellen und ein Interview mit ihr, das am 13.01.2021 online geführt wurde, nach Kategorien zu analysieren und die Ergebnisse anschließend als Schlussfolgerung zusammenzuführen. Die Kategorien wurden mithilfe eines abduktiven Verfahrens gewonnen, sie entstanden in der Auseinandersetzung mit dem Interviewtext sowie den diesem Artikel zugrundeliegenden Theorien, die in den jeweiligen Kapiteln kurz vorgestellt werden. Der begrenzte Umfang dieses Artikels führt dazu, dass kein umfassendes Bild von Transformationsprozessen in Mali gezeichnet werden kann. Das Beispiel Fatoumata Bagayoko (FB) ermöglicht dennoch eine Annäherung an solche Transformationsprozesse und die Rolle, die einzelne kulturelle Akteur*innen in ihnen spielen können.
Zwischen Erbe und Ermächtigung
„Mein persönlicher Kampf besteht stets darin, die Rechte der Frauen zu verteidigen.“ (FB 2021:#00:01:05#) – dieses Leitmotiv bewegt sich durch die künstlerische Praxis und die Kulturarbeit der Tänzerin und Choreographin Fatoumata Bagayoko. Sowohl auf als auch hinter der Bühne befragt die Künstlerin – in Mali aufgewachsen und wohnhaft – ihre Identität und ihre Rechte als Frau in patriarchalen Strukturen zwischen Unterdrückung und Emanzipation. Auch ihr Tanztheater-Solo „Fatou, t'as tout fait“ („Fatou, du hast alles getan“, Anm. d. Verf.) verhandelt das Frau sein in den Traditionen der Geschlechterdiskriminierung, wenn Bagayoko die Gewaltpraxis der weiblichen Genitalverstümmelung und die damit verbundenen Folgen für die jungen Mädchen und Frauen darstellt (FB 2021:#00:16:51#). Die Tänzerin nimmt auf der Bühne zwei Perspektiven ein. Zum einen verkörpert sie ihre persönliche Erfahrung und Auseinandersetzung, denn bereits im Säuglingsalter wurde sie selbst beschnitten (FB 2021:#00:14:18#). Zum anderen tritt sie in die Rolle einer Botschafterin und steht stellvertretend für alle (betroffenen) Frauen in Mali: Bagayoko berichtet von ihren Recherchen in den Dörfern, den unterschiedlichen Praktiken der Genitalverstümmelung und bezeugt das Leid und den Schmerz der jungen Mädchen (FB 2021:#00:14:18#).
So wie auf inhaltlicher Ebene Tradition und Gegenwart immerzu aneinander reiben, greifen in Bagayokos Stücken auf ästhetischer Ebene traditioneller und zeitgenössischer Tanz ineinander. Denn um den Spagat der Generationen und Geschlechter zu vermitteln, hat die Absolventin des Institut National des Arts Bamako (vgl. ZEF 2021) eine eigene Tanzsprache gefunden: Es ist die Ambiguität zwischen traditionellem und zeitgenössischem Tanz, in der sich die Choreographin stetig bewegt und die auch über ihre künstlerische Praxis hinaus geht. Fatoumata Bagayoko ist eine Kulturvermittlerin im doppelten Sinne: Neben ihren choreographischen Arbeiten gibt sie als Leiterin der Organisation Jiriladon Tanzkurse für junge Mädchen und initiiert Projekte im Rahmen der Kulturellen Bildung (vgl. Les Rencontres à l’Échelle) – stets im Interesse, die Rechte der Frauen zu verteidigen.
Inwiefern finden ihre Intentionen Resonanz in der Gesellschaft? Inwieweit ist es der Künstlerin möglich, als eine Agentin der Transformation zu wirken?
Darstellung
Kunst ist Ausdruck unserer Realität, kann Dokumentation der Vergangenheit und Gegenwart sein. Auch für Fatoumata Bagayoko ist Tanz ein künstlerisches Mittel, um die Aktualität, die sie umgibt, abzubilden. Um in den politisch sehr angespannten Verhältnissen und Zuständen der Geschlechterungleichheit auf die marginalisierte Position der Frauen (FB 2021:#00:01:05#) aufmerksam zu machen, rückt die Tänzerin die Diskriminierung von Frauen in den Fokus ihrer künstlerischen Auseinandersetzung: „Da wollte ich ein Augenmerk auf die Frau legen.” (FB 2021:#00:01:05#). Der Begriff „Darstellung“ erscheint hier als sinnvolle Kategorie, um den Ansatz von Bagayoko analytisch zu fassen. Sie beleuchtet den Stellenwert aller Frauen, aber sie erzählt insbesondere auch von ihrer eigenen Position als diskriminierte Frau und als Betroffene der Genitalverstümmelung. Ihre künstlerisch-ästhetische Formsprache ist der Tanz. Tanz sei für sie ein non-verbales Werkzeug, das es ihr ermögliche, ihrer eigenen Erfahrung mit der Gewaltpraxis Ausdruck zu verleihen: „Ich suchte nach einem Weg, einem Werkzeug, mit dem ich mich ausdrücken kann, ohne zu sprechen. Ich habe, also, ich habe Dinge erlebt, die für mich sehr, sehr schrecklich waren und ich war nicht bereit, verbal darüber zu sprechen.“ (FB 2021:#00:06:43#). Wenn die Choreographin auf einer ersten Ebene das Erlebte in Gesten ihrer Tanzsprache übersetzt, kann daraus eine Selbst-Bewältigungsstrategie abgelesen werden: „Ich suchte nach einem Weg, wie ich diese Bilder in meinen Körper übertragen und vermitteln konnte.“ (FB 2021:#00:13:03#) Die persönliche Implikation wird besonders deutlich, wenn Bagayoko ihr Empfinden im Moment der Aufführung beschreibt: „Jedes Mal, wenn ich spiele, weine ich. Jedes Mal, wenn ich auf der Bühne stehe, fühle ich alles, was ich in dem Dorf gesehen habe.“ (FB 2021:#00:15:28#)
Auf einer zweiten Ebene findet eine Übertragung, ein Transfer-Prozess nach außen statt: Die persönlichen Bilder werden zu Bildern auf der Bühne und damit an ein Publikum vermittelt. Die Künstlerin erweitert hier die gestische Formsprache um den Einbezug weiterer ästhetischer Mittel: Requisiten und Objekte untermauern die theatrale Darstellung (FB 2021:#00:16:51# und #00:33:49#). Diese Objekte können eine repräsentative oder beschreibende Funktion haben: „Die kleinen Beutel sind da, um all die Verluste zu zeigen, all die Mädchen, die vor meinen Augen beschnitten wurden. All diese Beutel repräsentierten diese Mädchen.“ (FB 2021:#00:16:51#). Darüber hinaus transportieren die künstlerischen Mittel eine Botschaft und dienen als Mittel der Einfühlung: „Wenn ich das abschneide, gibt es ... hast du das Gefühl, dass es Blut ist.“ (FB 2021:#00:34:14#) Bagayoko betont die Bedeutung dieser ästhetischen Übertragung indes so: „damit die Botschaft ankommt“ (FB 2021:#00:38:60#).
Dialog
„Sie müssen es verstehen“ (FB 2021:#00:14:56#) ist im Grunde die Prämisse, die dem künstlerischen Schaffen von Bagayoko zugrunde zu liegen scheint, wenn es um die Rezipient*innen ihrer Kunst geht. Eine dialogische Anlage ihrer Kunst beschreibt sie schon in Bezug auf den Kreationsprozess: „Ich schreibe es erst auf, also wenn ich zum Beispiel sage: Ich mag es nicht, wenn man mir das antut, dann schreibe ich das in meiner Muttersprache auf und übersetze es dann in Bewegungen.“ (FB 2021:#00:22:34#) Der Tanz wird hier begriffen als Übersetzung einer verbalen in eine körperlich-künstlerische Aussage. In einer ihrer Inszenierungen bezieht Bagayoko eine Schauspielerin mit ein, um ein Verständnis ihrer Aussagen sicherzustellen: „Ich mache Tanz und Text. Weil es Leute gibt, die [...] die Bewegungssprache nicht verstehen, aber die Stimme hören, [...] Die Schauspielerin, sie schaut sich an, was ich mache und dann erkläre ich den Inhalt. Und auf dieser Grundlage wird sie dann selbst einen Text schreiben.“ (FB 2021:#00:21:07#) Die Übermittlung der Aussage steht im Mittelpunkt nicht nur des Schaffensprozesses, sondern auch der Veranstaltungen selbst. Im Anschluss an Tanzvorführungen in ländlichen Räumen gibt es immer eine Diskussion mit den Zuschauer*innen: „Wir fangen mit der Performance an und danach nehmen wir die Mikrofone. Wir fragen: Was habt ihr verstanden? Und sie beginnen [sic!] zu antworten: Wir haben das gesehen, wir haben das gesehen, wir haben das gesehen.“ (FB 2021:#00:44:16#)
Die verschiedenen Aspekte eines Dialoges fasst der Germanist Johannes Schwitalla zusammen. Hier sollen drei dieser Aspekte herausgegriffen werden, die Überschneidungen mit der künstlerischen Praxis von Bagayoko aufweisen. Schwitalla bezeichnet Dialoge als „‚joint productions‘ of participants in each of their aspects“ (Schwitalla 2017:19) und betont die Notwendigkeit von „cooperation“ oder sogar „collusion“, was ein zumindest implizites, gemeinsames Ziel voraussetzt zur Realisierung echter Dialoge. Das wird besonders deutlich, wenn Bagayoko beschreibt, wie sie die Voraussetzungen für ihren Auftritt in einem Dorf schafft, indem sie vorab das Gespräch mit dem „chef du village“ (Dorfvorsteher, Anm.d.Verf.) (FB 2021:#00:42:52#) sucht, um ihm das Format und ihr Ansinnen zu erklären. Damit schafft sie erst die Bedingungen, die einen offenen Dialog ermöglichen: „Und auch hier hat er [der Dorfvorsteher] gesagt: ‚Ja, wenn es das ist, sind wir einverstanden.‘ Wir sind also nicht direkt zu ihnen gegangen und haben ihnen gesagt, was ihr macht, das ist nicht gut, hört auf damit.“ (FB 2021:#00:44:04#)
Die zweite These von Schwitalla: „The operations of dialogue-organization are performed differently in different cultures and subcultures“ (Schwitalla 2017:23f.) - wird durch die Besonderheiten deutlich, die Bagayoko in Bezug auf das Veranstaltungsformat in ländlichen Räumen beschreibt: „Sie sehen also, dass wir das Publikum um uns herum haben, so wie wir es bei Veranstaltungen machen, auf dem Land. Die Bühnensituation ist also im Kreis.“ (FB 2021:#0038:06#) Diese Anpassung an die Gegebenheiten erlauben einen Dialog, in einem an die Rezipient*innen angepassten Format.
Die dritte These verweist auf einen Aspekt der Kulturarbeit von Bagayoko, der in Bezug auf den gesellschaftlichen Transformationsprozess wohl als der zentrale betrachtet werden kann: „Dialogues are frames in which members of a community constitute the social order to be accepted as normal.“ (Schwitalla 2017:26) Indem Bagayoko über weibliche Genitalverstümmelung spricht, das Leid der Frauen und Mädchen künstlerisch, visuell und verbal sichtbar macht, wird vieles sagbar, worüber sonst nie oder nur konfrontativ gesprochen werden würde. Die Stimmung nach einer Performance beschreibt sie folgendermaßen: „Es war intimer, gemeinschaftlicher. Also, das war eine gute gemeinsame Diskussion [...] und niemand beschimpfte sich gegenseitig.“ (FB 2021:#00:45:53#) Ein Dialog, sei er künstlerisch oder verbal, verändert Gesprächskulturen und fördert dadurch Transformation.
Sensibilisierung
Wie wird das oben beschriebene Dialogangebot auf Seiten der Rezipient*innen aufgefasst? Welchen Einfluss, welche Bedeutung hat es? Fatoumata Bagayoko findet darauf folgende Antworten: „Wie beispielsweise in den Krieg zu ziehen, ohne sich umzudrehen, zu drängen, zu hinterfragen: Warum tun wir das alles? Ist es nicht an der Zeit, zur Wahrheit zurückzukehren und den sozialen Zusammenhalt zu stärken, den wir früher hatten?" (FB 2021:#00:02:49#) Demnach hinterfrage der künstlerische Prozess gesellschaftliche Zustände und rege gleichzeitig zu einer aktiven (Selbst-)Befragung der Gesellschaft an. Bagayoko geht an dieser Stelle noch einen Schritt weiter, indem sie der Kunst die Rolle einer (Wieder-)Herstellung der sozialen Kohäsion zuweist.
Dieser Ansatz kann unter der Kategorie der Sensibilisierung zusammengefasst werden. Diese findet über die künstlerisch-ästhetische Auseinandersetzung statt. Im Rahmen ihrer Kulturarbeit informiert die Choreographin über die Folgen der Genitalverstümmelung (Zu den Folgen vgl. auch Köbach /Ruf-Leuschner/Elbert 2018) und schafft Bewusstsein: „ein Bewusstsein für das, was sie gerade tun, dass das nicht gut ist für die Mädchen. Das belastet die Psyche“ (FB 2021:#00:14:18#). Vor allen Dingen ihr sehr persönlicher Zugang, die Offenheit der Künstlerin über ihre eigene Vergangenheit und Erfahrung intensiviert den Prozess der Sensibilisierung: „Wenn ich also über meine Erlebnisse spreche, dann ist es das, was ihr Bewusstsein beeinflusst – ohne jedoch, das, was ihr mir angetan habt, ist nicht in Ordnung.“ (FB 2021:#00:40:24#) Kulturarbeit hat an dieser Stelle eine informative sowie eine aufklärende Funktion. Einen Schwerpunkt ihrer Arbeit setzt Bagayoko auf dem Land. Die Beschneidungspraktiken finden hier hinter verschlossener Tür statt. Aufgrund der weitgehenden Tabuisierung (vgl. Gruber /Kulik /Binder 2005:9) herrscht ein genereller Mangel an Informationen und Aufklärung zu der Praktik der Beschneidung, es fehlt außerdem an Angeboten der Aufarbeitung für die Betroffenen. Insbesondere in den Dörfern Malis, dort wo die Genitalverstümmelung besonders verwurzelt ist und in den unterschiedlichsten Traditionen ausgeführt wird, ist es ihr Anliegen, ein Umdenken der Bevölkerung anzustoßen (FB 2021:#00:14:56#). Bagayoko erwartet von der ästhetischen Rezeptionserfahrung darüber hinaus das Ableiten einer konkreten Handlungsstrategie, also eine Adaption in die eigene Lebensrealität: „Wenn man sich die Bühne ansieht [...] Sie entscheiden sich, sie werden sagen: Ah, das ist richtig, was wir tun, ist nicht gut. Nun ist es soweit, jetzt eine Entscheidung zu treffen, etwas zu ändern, es nicht mehr zu tun.“ (FB 2021:#00:16:51#) Der künstlerische Prozess unterstützt die Reflexion von Gewohnheiten und der Tradition und sensibilisiert so für die Möglichkeit einer gesellschaftlichen Transformation. Dies passiere insbesondere über Einfühlung und Nachempfinden (FB 2021:#00:40:24#), woraus schließlich Verständnis resultiere: „Und da siehst du, dass sie es verstehen und sich in deine Rolle hineinversetzen.“ (FB 2021:#00:41:35#)
Empowerment
„Ich habe es euch gerade ohne Tränen erzählt. Wenn ich es mit Leuten teile, beruhigt es mich.
Es gibt mir mehr Vertrauen in, zu mir.“
Fatoumata Bagayoko
Empowerment als „Entwicklungsprozesse in der Dimension der Zeit, in deren Verlauf Menschen die Kraft gewinnen, derer sie bedürfen, um ein nach eigenen Maßstäben ‚besseres Leben‘ zu leben“ (Herriger 2010:13) wird mit dem oberen Zitat von Bagayoko pointiert zusammengefasst: Sie beschreibt ihren Weg zum Tanz als prozesshafte Entwicklung von Vertrauen und Zutrauen in die eigenen Empfindungen, verbunden mit einem Selbstvertrauen, das auch den Umgang mit diesen Empfindungen eine gewisse Souveränität verleiht. Im obigen Zitat aus dem Interview stellt sich das auf individueller Ebene als „Möglichkeit, mich auszudrücken“ (FB 2021:#00:06:30#) dar und greift so eine Dimension von Empowerment auf, die der Soziologe Norbert Herriger als „Definition im reflexiven Wortsinn“ (Herriger 2010:16) beschreibt. Bagayoko beschreibt ihre Kunst als Möglichkeit, die eigenen Erfahrungen zu bewältigen und über sie sprechen zu können: „Jetzt muss ich [...] einen Weg finden, mein Schweigen zu brechen.“ (FB 2021:#00:06:30#) Deutlich wird hier jene reflexive Dimension von Empowerment, die „einen selbstinitiierten und eigengesteuerten Prozess der (Wieder-)Herstellung von Lebenssouveränität“ (Herriger 2010:16) umschreibt. Dieser Prozess mündet in dem Willen, auch andere Frauen auf diesem Weg zu begleiten. Bagayoko beschreibt an anderer Stelle positive Entwicklungen bei anderen Frauen nach ihren Tanzvorstellungen auf dem Land: „Zum ersten Mal sprachen sie mit uns über ihre Probleme. Sie sich nicht einmal trauten, ihrem Ehemann oder einem Familienmitglied davon zu erzählen.“ (FB 2021:#00:46:29#) Dies ist eine Facette von Empowerment, die Herriger als „transitiv“ bezeichnet und das Handlungsziel umfasst „Menschen vielfältige Vorräte von Ressourcen für ein gelingendes Lebensmanagement zur Verfügung zu stellen.“ (Herriger 2010:17). Schließlich wird als dritte Erweiterung auch die gesellschaftliche Dimension solcher Empowerment-Strategien deutlich. Bagayoko spricht ebenfalls über ein WhatsApp-Netzwerk, das verschiedene Frauen zusammenführt und ihnen gemeinschaftliche Organisation und Absprachen ermöglicht: „Nur gemeinsam kann man verschiedene Dinge entwickeln. So haben das auch die Frauen verstanden. Und es hat wirklich begonnen sich auszubreiten.“ (FB 2021:#00:48:11#) Die gesellschaftliche Bedeutung dieses Satzes verweist auf die lebensweltliche Dimension von Empowerment mit dem Ziel, auf eine „gelingende Mikro-Politik des Alltags“ (Herriger 2010:15) hinzuwirken und ein selbstbestimmtes Leben als Frau führen zu können.
Ein solcher Dreischritt lässt auch die Rolle von Bagayoko als Agentin von Transformation deutlich werden: Über die eigene Selbstermächtigung ermöglicht sie Anderen mit auf diesen Weg zu gehen, was zu Netzwerken des Wandels führen kann. Transformationen sind hier auf individueller und gesellschaftlicher Ebene zu beobachten. In Bezug auf die Definitionen von Herriger bleibt lediglich die genuin politische Dimension von Empowerment außen vor, was mit der Stoßrichtung der Kunst von Bagayoko zu tun haben mag: Angestrebt wird (zumindest im ersten Schritt) keine „Umverteilung von politischer Macht“ (Herriger 2010:14), sondern eine Sensibilisierung der Menschen für die Lage der Frauen im Allgemeinen und für das Problem der Genitalverstümmelung im Speziellen.
Schlussfolgerungen und Kategoriensynthese
Wie in den vorhergehenden Abschnitten gezeigt werden konnte, ist selbst in Bezug auf eine einzelne Künstlerin ihre Rolle als „Agentin der Transformation“ sehr vielschichtig. Fatoumata Bagayoko greift aus persönlicher, aber auch gesellschaftlicher Relevanz das Thema der Genitalverstümmelung auf und stellt es künstlerisch dar. Diese Darstellung erfolgt immer im Rahmen dialogischer Prozesse, sei es während des Schaffensprozesses selbst oder bei den Aufführungsformaten. Der Effekt der Darstellung und der künstlerisch-dialogischen Auseinandersetzung mit einem Thema, das in dieser Form sonst nicht thematisiert wird, führt zu einer Sensibilisierung der Rezipient*innen. Diese Sensibilisierung ist es, die einen wichtigen Beitrag zu den Transformationsprozessen der Gesellschaft in Mali leistet. Dieser zur Ermöglichung von Transformation führende Prozess hat selbst aber schon einen Wert an sich: An jeder der genannten Stationen findet Empowerment statt. Zu Beginn ist es die Ermächtigung Bagayokos selbst, im weiteren Verlauf auch die (Selbst-)Ermächtigung der Rezipient*innen. Sensibilisierung und Empowerment scheinen also die gesellschaftlichen Transformationen in Mali zu ermöglichen. Eine solche gesellschaftliche Transformation wird sich notwendigerweise auf die malische Gesellschaft auswirken und dann wieder aufgegriffen werden können: „Wenn man jetzt über diese Praxis spricht, ohne Angst zu haben oder verängstigt zu sein, würde ich sagen, dass es Veränderungen gegeben hat.“ (FB 2021:#00:45:29#)
Eine Betrachtung des Zusammenhangs zwischen Gesellschaft und Kunst in Mali lohnt also auch in einem langfristigeren und umfassenderen Sinn als es dieser Artikel leisten konnte. Künstlerische Schaffensprozesse tragen selbst zur gesellschaftlichen Transformation bei, bilden sie aber auch zeitgleich ab.