Tanz und Kulturelle Bildung
Tanz ist eine nonverbale Darstellungs- und Ausdrucksform des Menschen, in deren Zentrum die subjektive ästhetische Inszenierung des Körpers und eine Formung der Bewegung in Raum und Zeit stehen. Die Erscheinungsformen und Funktionen des Tanzes sind geprägt von ihrem jeweiligen geschichtlichen und soziokulturellen Umfeld. Daher spiegeln die verschiedenen traditionellen Tanzformen und stilistischen Spielarten des zeitgenössischen Tanzes ein jeweils eigenes Verständnis von Körperlichkeit und Bewegung wider, das sich in unterschiedlichen ästhetischen Idealen, Normen und Praktiken äußert. Verschiedene Tanzstile beinhalten und zeigen daher immer auch kollektive oder individuelle Wahrnehmungs- und Umgangsweisen mit dem Körper; und sie können den Zeitgeist und die Lebensgefühle einer Generation erfahrbar werden lassen. Die heutigen jugendkulturellen Tanzstile wie auch der Rock’n’Roll der 1950er und 1960er Jahre sind hierzu anschauliche Beispiele.
Tanz ist wie alle Bewegungskünste selbstreferentiell – auf sich selbst bezogen: Er ist nicht unmittelbar zweckgebunden und weist über das Alltägliche und Reale hinaus. Der Wert liegt im Vollzug und in der Erlebnishaftigkeit selbst begründet. Nach Leopold Klepacki (2008) stellen Tanzformen selbst bereits Leitbilder dar für ganz unterschiedliche Motivationen des Tanzens. Schließlich ist das aktive Tanzengagement immer auch verknüpft mit Orten, Anlässen und settingspezifischen Inszenierungs- und Vermittlungsformen. In seiner bildungstheoretischen Standortbestimmung beschreibt Klepacki das „Tanzen als Bewegungskunst im Zwischenraum von Leibpoesie und Körpertraining“ und macht dabei deutlich, dass „der Tanz vor allem eine habituelle Transformation der Tanzenden selbst bewirkt“ (Klepacki 2008:151).
„Jeder Mensch ist ein Tänzer“ (R. v. Laban): Tanz als ästhetisch-expressives Bildungsmedium
Als künstlerische und erlebnisbezogene körperliche Ausdrucksform fokussiert der Tanz vor allem den Prozess der ästhetischen Erfahrung und Kultivierung des Körpers mit seinem sensorischen Reichtum und seinem Bewegungspotential zum Entdecken und Erproben neuer „Möglichkeitsräume“ des kreativen und künstlerischen Selbstausdrucks. Als ästhetisch symbolische Bewegungsform ist Tanz nicht nur wegen seiner Bezüge und strukturellen Analogien zu anderen Ausdrucksmedien (Musik, Darstellende Kunst, Theater, Bildende Kunst, Film, neue Medien etc.) ein bedeutsamer bildungsrelevanter Inhalt geworden. Entwicklungspsychologie und Neurowissenschaften bestätigen zunehmend die Erkenntnis, dass im Körper und in der Bewegung die Wurzel allen Lernens liegt. Unter diesem anthropologisch-pädagogischen Blickwinkel verweisen Jörg Bietz und Brigitte Heusinger (2010:60) darauf, dass Bewegung sowohl eine grundlegende Artikulationsform unserer Leiblichkeit darstellt, durch welche die Gliederung und Gestaltung der Mensch-Welt-Relation geschieht, als auch gleichzeitig eine Ausdrucksform, in welcher unsere Leiblichkeit bzw. das jeweilige Mensch-Welt-Verhältnis repräsentiert und performativ zur Schau gestellt wird. Tanz macht die Expressivität des Körpers und der Bewegung selbst zum Thema und schafft eigene poetische und symbolische Formenwelten, die sich zugleich auf individuelle und soziokulturelle Lebenswelten beziehen können und etwas über diese zeigen. Tanz stellt in diesem Sinn ein Mittel der Erkenntnisgewinnung und eine kulturelle Wissensform dar, in der gleichsam synästhetisch grundlegende Ordnungsstrukturen, Fähigkeiten und Fertigkeiten vermittelt werden, die das tanzende Subjekt innerhalb des jeweiligen Tanzkontextes aufbaut und entwickelt. Dabei erlebt sich das tanzende Subjekt mit anderen in Beziehung und in der Gruppe.
Das dem „Ich“ zugrunde liegende Körper- und Selbstkonzept konstituiert sich ganz wesentlich aus Prozessen des Ausgestaltens und Nachvollziehens solcher bewegungsmäßiger dynamisch-zeitlicher, räumlicher oder sozialer Ordnungen, die sich im Tanz in stilistischen und qualitativen Bewegungsmerkmalen und -konfigurationen manifestieren. So bieten die verschiedenen tanzkulturellen Ausprägungsformen und Körpersprachen vielerlei Ansatzpunkte zur Erprobung des eigenen Körpers hinsichtlich seiner Funktions- und Ausdrucksweisen, zur Erfahrung seiner Möglichkeiten und Grenzen. Und nicht zuletzt ist der Tanz eine Gelegenheit zum Ausagieren von Energien oder Gefühlen, Gedanken, Vorstellungen, inneren Einstellungen oder Erinnerungen, die auch ohne Worte in Bewegung „versetzt“ und „umgesetzt“ werden können. Innerhalb des tänzerischen Arbeitsprozesses können solche im Alltag häufig un- und vorbewussten Erfahrungen mit der Ebene des reflexiven Bewusstseins verknüpft werden.
Bietz und Heusinger (2010:61) heben zwei Momente des tänzerischen Formungsprozesses hervor: Durch die Performativität des Körpers und seiner Bewegungen werden im Tanz neue Wirklichkeiten hervorgebracht. Damit kann eine Objektivierung der realen Lebenswelt erfolgen und des weiteren eine Distanzierung, beispielsweise durch die Konfrontation mit Überraschendem, Ungewohntem, Verfremdetem und Fiktivem. Darüber hinaus finden im Tanz eine Dramatisierung des alltäglichen Bewegungsverhaltens und eine Intensivierung von lebensweltlichen Stilisierungen statt, die sich beispielsweise in der tänzerischen Ausgestaltung zuspitzen und in der Vervollkommnung ästhetischer und normativer Prinzipien artikulieren können. Die Erzeugung von Brüchen, Differenzen und Verdichtungen schafft Irritation, regt zum Nachdenken an und führt zu subjektiven Sinnzuschreibungen oder kollektiv geteilten Auslegungen.
Den Vorgang des poietischen Gestaltens von Weltbezügen durch das tanzende Individuum beschreibt Bietz (2005:90) als einen Prozess der symbolischen Formung, in dem gewissermaßen „Sinn und Sinnliches verknüpft“ und damit „sinnlichem Eindruck ein sinnhafter Ausdruck“ gegeben wird. Das kann gerade für Jugendliche in der Phase der Selbstfindung eine wichtige und unterstützende Erfahrung sein. Im sozialphilosophischen Mimesis-Konzept sieht der Sportwissenschaftler und Anthropologe eine geeignete Folie, um die kulturelle Verankerung des Bewegens und Tanzens zu beleuchten: Die mimetische Aneignung von kulturell vorgeformten Bewegungsstrukturen, das Sich-ähnlich-Machen, Nachvollziehen, Nach- und Umgestalten einer äußeren Form sowie das Nachahmen eines tänzerischen Vorbilds ist ebenfalls als ein aktiver Prozess der Produktion und Neugestaltung zu betrachten, in der eine Re-Codierung, Angleichung und Synthese zwischen den Strukturen von „innen“ und „außen“ erfolgt, in der Auseinandersetzung mit den Widerständigkeiten bereits leiblich verankerter habitueller Strukturen und ausgebildeter Bewegungsschemata. In Zusammenhang mit dem sozialen und bewegungskulturellen Feld entwickelt das tanzende Individuum so einen Habitus, den wir als ein System von Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsmustern betrachten können, in dem implizit körperlich-sinnliches, kinetisches und kinästhetisch vermitteltes dynamisches Wissen enthalten ist (Brandstetter 2007:87), mit den immanent vermittelten sozialen Bezügen, Ritualen und tradierten Symbolen oder Sinnbedeutungen. Das Gefühl von Fremdheit oder Vertrautheit beim Erlernen einer Tanzkultur hängt mit dem inkorporierten Habitus des tanzenden Subjekts zusammen. Daher kann die zeitgenössische, häufig multikulturelle und transkulturelle Praxis des Tanzes auch ein Modell sein für eine ganzheitliche „leibliche“ Erfahrungsbildung und körperliche Reflexivität, bei der das tanzende Subjekt durch die immanenten Vorgänge des Aufbaus, der Irritation und der Neuordnung sowie der Differenzierung von Körper- und Bewegungsstrukturen in einen Dialog mit seinen „inneren“ Dispositionen und „äußeren“ Weltsichten tritt. Vor allem in der symbolischen Mehrdeutigkeit, in den Brechungen und Ambivalenzen liegen die Attraktivität und Relevanz, welche die Bewegungskunst des Tanzes als kulturell-ästhetischer Bildungsinhalt in unserer heutigen Zeit besitzt.
Tanz im Rahmen der Kulturellen Bildung
(Inter-)Kulturelle Bildungsprozesse im Handlungsfeld des Tanzes bewegen sich häufig zwischen der Auseinandersetzung mit traditionellen und zeitgenössischen Tanzformen und dem kreativen Schaffen innovativer und subjektiv stimmiger Ausdrucksformen. Entscheidend ist dabei ihr Bezug zur jeweiligen Lebenswelt der AkteurInnen. Daher liegen in der Einbettung und adressatengerechten Gestaltung der Bildungsangebote ebenfalls entscheidende didaktische Kriterien. In der Vermittlung des Tanzes als eines kulturellen Bildungsangebots verbinden sich drei Modalitäten der ästhetisch-sinnlichen Erfahrung:
>> Rezeptivität: Tanz betrachten und beobachten, d.h. aktive Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Vielfalt kultureller Manifestationen von Tanz und Tanzkunst.
>> Reflexivität: Entdecken, reaktives Erleben, Versprachlichen und Reflektieren des Neuen, Befremdlichen oder Ungewöhnlichen als Voraussetzung für die Entwicklung der eigenen schöpferischen Ausdrucksfähigkeit durch und mit dem Körper.
>> Performative Erfahrungen in ästhetisch-gestaltenden Tanzaktivitäten: Erproben von tänzerischen Ausdrucksmöglichkeiten, Variieren bzw. Um- und Ausformen, Verknüpfen und Neu-Schaffen von Tanzstücken oder rituell-symbolischen tänzerischen Ausdrucksformen. Dieser Erfahrungsbereich beinhaltet sowohl individuelles Darstellen und Interpretieren als auch schöpferisch-gestalterisches Arbeiten.
Werden die hier aufgezählten qualitativen Modalitäten bzw. Vermittlungsdimensionen berücksichtigt, können Tänze aus allen kulturellen Bereichen (Tanzkunst, Social Dance, Ethnischer Tanz, Tanzsport etc.) exemplarisch zum Thema oder Gegenstand ästhetisch-kultureller Bildung werden, gleichgültig, ob es sich dabei um symbolisch-expressive, narrative oder abstrakte oder um spontan getanzte „offene“ oder um codifizierte, nach Regeln festgelegte Tanzformen handeln mag. Die Bildungspotentiale dieser tanzkulturellen Manifestationen lassen sich nur in ihrer Abhängigkeit vom jeweiligen Tanzverständnis, von den Zielsetzungen des jeweiligen Angebots und den gewählten Arbeits- und Vermittlungsweisen beurteilen, da diese jeweils auch eine bestimmte Auffassung vom lernenden Subjekt beinhalten.
Arbeitsmethoden
Tanzen lernen im Sinne des ästhetisch-kulturellen Bildungskonzepts beinhaltet das Entdecken neuer Erfahrungs- und „Möglichkeitsräume“ (Westphal 2009b:171; Klinge 2010:86), gleichzeitig aber auch eine Auseinandersetzung mit Tanztraditionen und Tanzkunst, mit aktuellen Tanzwelten und individuellen tänzerischen Ausdrucksweisen. Die Programme der ästhetisch-kulturellen Bildung zeichnen sich vor allem durch einen sensitiven Umgang mit dem eigenen Körper und das Kennenlernen und Erproben einer tänzerischen Bewegungsvielfalt aus. In der tanzpädagogischen Vermittlungsarbeit werden häufig erlebnisorientierte, induktive und explorative Arbeitsweisen sowie Gestaltungsaufgaben in Form von Gruppen und Einzelimprovisation eingesetzt, unter Verwendung grundlegender Bewegungsprinzipien und Kategorien der Tanzanalyse (z.B. nach dem Laban-Konzept), ebenso kompositorische Arbeitsverfahren, die vor allem auf die kreative Produktion von Tänzen ausgerichtet sind.
Wie bereits ausgeführt, liegen im leiblichen Erfahrungsprozess und in der qualitativen Erweiterung und Ausdifferenzierung des körperlichen Ausdrucks- und Bewegungspotentials wichtige Ressourcen der ästhetischen Bildung. Daher haben eine sensible, nachspürende und bewusste tänzerische Körper- und Bewegungsbildung mit dem Akzent der bewussten Artikulation von Bewegungsmustern und Aneignung von elementaren tänzerischen „Basistechniken“ und die Entwicklung grundlegender rhythmisch-musikalischer sowie gestalterischer Fähigkeiten einen hohen Stellenwert. Tanzprojekte, bei denen die Beteiligten gemeinsam eine Choreografie für ein Tanzstück entwickeln und nach einem intensiven Proben- und Arbeitsprozess zur Aufführung bringen, zeigen zumeist positive Effekte hinsichtlich der Entwicklung von personalen und sozialen Schlüsselkompetenzen sowie hinsichtlich des Selbstkonzepts der AkteurInnen.
Ein relativ neues Feld der kulturpädagogischen Arbeit liegt darin, den Zugang zur Kunstform Tanz zu erleichtern und Interesse und Neugier für diese zu wecken.
Tanz im Kontext des gesellschaftlichen Wandels
Kulturelle Bildungsangebote in der Sparte Tanz fanden sich bis vor einigen Jahren vor allem im Rahmen der außerschulischen, sozialpädagogisch betreuten oder von Vereinen organisierten Jugendarbeit und in der Erwachsenenbildung. Tanz wurde hauptsächlich als Freizeitaktivität in Sport- und Kulturvereinen gepflegt und im Rahmen der Brauchtumspflege ausgeübt (Volkstanz) oder in privatwirtschaftlichen Tanzschulen und Ballettstudios als Gesellschaftstanz bzw. als Künstlerischer Tanz unterrichtet.
Seit den 1970er Jahren hat der Tanz als künstlerische Ausdrucksform und als kulturelle Aktivität eine starke gesellschaftliche Aufwertung erfahren. Das Interesse am Tanz als Kunstform und als einer in der Freizeit ausgeübten Aktivität nahm zu, was zu einer Pluralisierung der verschiedenen Träger von organisierten tanzkulturellen Angeboten führte und gleichermaßen zu einer erheblichen inhaltlichen Diversifikation und adressatenspezifischen Ausdifferenzierung der Inszenierungsformen des Tanzangebots. Nicht nur im kulturellen Feld, sondern auch innerhalb der sportiven Fitnessbewegung hat Tanzen eine hohe Akzeptanz und vermehrte Teilhabe erfahren. Immerhin gehört das Tanzen in Deutschland zu den zehn beliebtesten und hauptsächlich in der Freizeit ausgeführten Bewegungsaktivitäten und wird von ca. 5 % der Bevölkerung ausgeübt. Rund 20 % der künstlerisch aktiven Jugendlichen sind nach der Jugend-KulturBarometer-Studie des Zentrums für Kulturforschung (2004:13) in der Kultursparte „Ballett und Tanz“ engagiert. Wenn sich auch der Anteil der Tanzaktiven in der Gesamtbevölkerung nicht wesentlich verändert haben dürfte, so können wir im Spektrum der Tanzarten und der Akteure sehr wohl einen Wandel feststellen. Neben den etablierten tradierten Tanzformen werden jugend- und alltagskulturelle Tanztrends und Tanzmoden bevorzugt, die durch die weltweite mediale Kommunikation und Vermarktung ebenso wie die zeitgenössische Tanzkunst zumeist eine internationale Beachtung und globale Verbreitung erfahren. In ihrer Ästhetik sind sie häufig eine hybride und transkulturelle Mischung aus verschiedenen bewegungskulturellen und musikalischen Stilen und soziokulturellen Einflüssen.
Im freizeitkulturellen Bereich gibt das vorhandene breite zielgruppenspezifische Angebotsspektrum dem Einzelnen heutzutage Möglichkeit und Gelegenheit, im Tanz das zu finden und auszuleben, was seiner Motivations- und Bedürfnislage entspricht, sowohl hinsichtlich der gewählten Tanzform bzw. des Tanzstils als auch im Hinblick auf den gewählten persönlichen und gestalteten Selbstausdruck.
Tanzvermittlung im Kontext schulischer Bildung
Durch die in den letzten Jahren ausgebauten schulischen Reformen zur Ganztagsschule ergaben sich tiefgreifende Veränderungen bezüglich des Settings tanzkultureller Bildungs- und Vermittlungsangebote (siehe Marie Beyeler/Livia Patrizi „Tanz – Schule – Bildung. Überlegungen auf der Erfahrungsgrundlage eines Berliner Tanz-in-Schulen-Projekts“ und Ronit Land „Tanzerfahrung und professionelle Tanzvermittlung“). Auch auf dem Gebiet des Tanzes ist die Schule für Kinder und Jugendliche zum zentralen Ort der kulturell-ästhetischen Bildung geworden.
Im Allgemeinen ist Tanz in allen Schularten und -stufen im Fachunterricht von Sport und Musik, teilweise auch im Fach Darstellendes Spiel curricular verankert. Im Rahmen dieser Fächer hat Tanz allerdings kaum eine eigenständige Bildungsrelevanz entfalten können, sondern blieb den fachdidaktischen Zielen des jeweiligen Faches untergeordnet. Nur in wenigen Modellschulen ist Tanz zu einem eigenständigen Unterrichtsfach geworden.
Im Rahmen der Ganztagsbetreuung und durch die Verschränkung von Unterrichtszeit und Freizeit in Ganztagsschulen ergaben sich seit 2005 vermehrt schulische „Freiräume“, die es TanzkünstlerInnen und Kultureinrichtungen ermöglichen, in Kooperation mit Schulen Choreografie- und Tanzprojekte durchzuführen. Die öffentliche Resonanz des Films „Rhythm is it“ über den Probenprozess des Choreografen Royston Maldoom mit SchülerInnen für das kulturelle Bildungsprojekt „Sacre du Printemps“ der Berliner Philharmoniker (2004) tat ein Übriges und verhalf den Formaten der künstlerischen Tanzvermittlung zu einem deutlichen Aufschwung. Inzwischen werden des öfteren Großprojekte mit Beteiligung verschiedener Schulen und Kultureinrichtungen realisiert (z.B. Community Dance Minden, gefördert und koordiniert durch das kommunale Kulturamt und dem „Arbeitskreis Kultur-Schule“).
Neue und wichtige Impulse gingen vor allem auch von der konzeptionellen Grundlegung und Qualitätsdiskussion innerhalb der Multiplikatorenarbeit des neu gegründeten Bundesverbands Tanz in Schulen e.V. aus, nicht nur für die tanzpädagogische Vermittlungsarbeit der TanzkünstlerInnen, sondern auch für die schulische Pädagogik.
Aktuelle Konzepte und Programme der Tanzvermittlung und Bildung in und durch Tanz
Einige der aktuellen Konzepte und adressatenspezifischen Programme zur Förderung von Tanz in Bildungs- und Kultureinrichtungen werden im Folgenden beschrieben. Sie verdeutlichen nicht nur den geschilderten strukturellen Wandel, sondern zeigen auch die Breite der tanzpädagogischen und -künstlerischen Vermittlungsarbeit im Rahmen der Kulturellen Bildung auf.
Um allen Kindern und Jugendlichen ein kulturell-ästhetisches Bildungsangebot durch Tanz zu ermöglichen und dieses nachhaltiger in das allgemeinbildende Schulwesen zu integrieren, werden Partnerschaften zwischen Kultureinrichtungen bzw. Tanzinstitutionen und Schulen durch verschiedene Modellinitiativen und Projekte unterstützt. Programme wie „Kultur macht Schule“ der Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung (BKJ) mit dem „MIXED UP“-Wettbewerb, in dessen Rahmen Tanz sowohl als künstlerische Disziplin in spartenübergreifenden Projekten als auch als eigenständige Kunstsparte vertreten ist, gehören dazu. Nach der neuesten Evaluationsstudie von Susanne Keuchel und Wolfgang Keller (2011) sind mehr als 30 % der Projekte spartenübergreifender Natur, nur 6 % der Projekte beziehen sich auf Tanz als eine eigenständige Kunstsparte. Damit rangiert die Sparte Tanz erst an vierter Stelle nach Bildender Kunst (18 %), Musik (13 %) und Theater (12 %), im Gefolge von Literatur (4 %) und Museum (3 %). Eine Ursache für diese Verteilung dürfte unter anderem im stärkeren Einfluss der in der Schule bereits etablierten Schulfächer liegen.
Mit dem Tanzfonds Partner-Vorhaben unterstützt die Kulturstiftung des Bundes Kooperationsprojekte, die eine mindestens drei Jahre andauernde Zusammenarbeit zwischen Schulen und kulturellen Einrichtungen zur Vermittlung zeitgenössischer Tanzkunst planen. Diese Fördermaßnahme möchte, an die Großinitiative Tanzplan Deutschland (2005-2010) anknüpfend, bei der ein umfangreicher Maßnahmenkatalog zur Strukturentwicklung und Stärkung des zeitgenössischen Tanzes umgesetzt wurde, insbesondere eine institutionelle Öffnung ermöglichen und darüber hinaus eine verstärkte Vermittlung von Handlungswissen über den Tanz als Kunstform erreichen. KünstlerInnen sollen nicht nur auf eine einmalige pädagogische „Stippvisite“ in die Schulen kommen, sondern SchülerInnen sollen dadurch auch Gelegenheit erhalten, deren Wirkungsstätten kennenzulernen, um beispielsweise eine gemeinsame Tanzproduktion zu erarbeiten oder im Arbeitskontext der jeweiligen Kultureinrichtung mehr über die Kunstform Tanz zu erfahren. Diese Beispiele verdeutlichen, dass Tanz im Schulbereich zunehmend auch in interdisziplinären Projekten eingebunden ist und auf die Implementierung nachhaltiger Bildungsmaßnahmen Wert gelegt wird.
Des Weiteren werden in der frühkindlichen Bildung verschiedene Modelle einer ganzheitlichen polyästhetischen Erziehung in verschiedenen Bundesländern erprobt und implementiert. Dieses Erziehungskonzept baut insbesondere auf dem integralen Zusammenwirken der Sinneswahrnehmungen auf und betont die Verbundenheit der medialen Ausdrucksformen Bild, Musik, Körper, Bewegung, Spiel und Sprache. „Singen-Bewegen-Sprechen“ ist ein in Baden-Württemberg neu initiiertes Landesförderprogramm, das im Verbund mit Musikschulen und Kindergärten, Grundschulen sowie Kindertagesstätten durchgeführt wird. In Niedersachsen wird von der Universität Hildesheim momentan ein Pilotprojekt („Zeig mal – lass hören“) erprobt, in dem KünstlerInnen der Sparten Musik, Tanz, Theater und Bildende Kunst mit Kindern am Übergang vom Kindergarten zur Grundschule arbeiten. Ziel ist es, zusätzlich zum pädagogischen Konzept der Sprachbildung und Förderung nonverbaler Ausdrucksmöglichkeiten ein Implementierungskonzept zu entwickeln, damit dieses Förderprogramm auch landesweit erfolgreich umgesetzt werden kann (vgl. Reinwand 2011b).
Generationsübergreifende Bühnenproduktionen sowie Tanztheater-Projekte für die Zielgruppe der älteren Erwachsenen, zumeist organisiert von Einrichtungen oder Trägern der Erwachsenenbildung, finden momentan ein verstärktes Interesse. Insbesondere Bildungsangebote und Formate, die Kunst- und Kulturvermittlung verbinden und so die Gelegenheit der Rezeption von aktuellen Tanzproduktionen mit einem regelmäßigen Tanztraining zur Selbsterfahrung verknüpfen, finden – zumindest in Ballungsräumen – hohen Zuspruch. Als exemplarisches Beispiel sei hier das 2011 initiierte Münchner Tanz-Kultur-Forscher-Projekt für SeniorInnen „Sinn-Stift“ von Andrea Marton genannt.
Ausblick
Unter der Perspektive einer tanzbezogenen breitenkulturellen Bildungsarbeit im Sinne des „Community Dance“-Gedankens sind in den letzten Jahren im deutschsprachigen Raum eine Menge neuer interessanter Initiativen und zielgruppenspezifischer Bildungs- und Vermittlungsformate entstanden, die Menschen aller Altersstufen anregen, sich mit der Kunstform des Tanzes zu befassen und Tanz als lebenslange Aktivität schätzen zu lernen. Diese breitenkulturelle tanzbezogene Bildungsarbeit hat in der Bundesrepublik –im Gegensatz zur Community Dance-Bewegung in England– allerdings noch keine ausreichende Organisationsstruktur, d.h. keine gemeinsame Plattform und keine zentrale fachliche Koordinierungs- und Anlaufstelle gefunden. Dennoch finden tanzkünstlerische und tanzkulturelle Aktivitäten in immer stärkerem Maße Eingang in die individuelle Lebensgestaltung der Menschen und in die „Kunst, gut zu leben“ (Shusterman 2005:189).