Subjektivierungsforschung in der Kulturellen Bildung: Künstler*innen-Subjekte zwischen Kunst, Ökonomie und Bildung

Artikel-Metadaten

von Stefan Gebhard

Erscheinungsjahr: 2022

Peer Reviewed

Abstract

Wie arbeiten Künstler*innen an Schulen? Aus einer praxistheoretischen Perspektive muss man zunächst fragen: Wie werden Künstler*innen an Schulen subjektiviert? Denn welche Handlungsräume, bildnerische oder künstlerische, Künstler*innen offen stehen, hängt davon ab, als welche sie sich in das schulische Gefüge einpassen und eingepasst werden.
Der vorliegende Beitrag erläutert die praxistheoretische Perspektive der Subjektivierungsforschung, deren Potenziale sowie aktuelle Herausforderungen. Es wird deutlich, dass der theoretischen Diskussion um Subjektivierung (bisweilen auch Subjektivation genannt) ein linguistischer Bias innewohnt, der mit praxistheoretischen Prämissen nicht vereinbar ist. Es ist daher angesagt, die räumlich-materielle Ebene in ihrer diskursiven Formation ebenso methodologisch einzufangen. Ein abschließender Blick in die Praxis zeigt die Komplexität von künstlerischen Aushandlungsprozessen im Feld Kultureller Bildung auf.

Einleitung

Seit dem Boom, der der Kulturellen Bildung spätestens post-PISA diagnostiziert (oder unterstellt) wird, sind auch immer mehr freischaffende Künstler*innen in bildenden Kontexten tätig. Während in Kultureinrichtungen etwa seit der gleichen Zeit ein educational turn (vgl. Jaschke/Sternfeld 2012) diskutiert wird, zeigt sich diese zunehmende Verflechtung von Kunst, Kunstvermittlung und Schulen u.a. an der Zunahme sogenannter Artist-in-Residence-Modelle, in denen Künstler*innen nicht nur partikular, etwa zu einzelnen Workshopterminen, an der jeweiligen Schule arbeiten, sondern dort längerfristig angestellt sind (Winderlich 2016; Berner 2020). Dieses neue Personal an Schulen steht im Fokus der Untersuchung, die der vorliegende Beitrag skizzieren soll.

Denn die Rede von „interprofessioneller Kooperation“ stellt ein anspruchsvolles, konfliktträchtiges Arbeitsfeld dar, in denen Verantwortungen, Ziele und Handlungsmuster stetig unter den verschiedenen Kooperationspartner*innen austariert werden müssen (vgl. Schlie/Willenbacher 2016). Diese Schwierigkeiten liegen nun nicht ausschließlich auf der individuellen Ebene, sondern sind bereits strukturell in den Handlungslogiken beider Felder, in Kunst und Bildung, angelegt.

Als drittes Feld des im Titel benannten Spannungsfeldes tritt nun noch die Ökonomie hinzu, die spezifische Wirkungen auf die anderen Felder zeitigt: Nicht nur scheint es Teil der „prekären Profession“ des Künstlers (Müller-Jentsch 2012:85–86) zu sein, häufig über Mehrfachbeschäftigungen (Haak 2006) – nicht zuletzt auch über Lehrtätigkeiten im weitesten Sinne (Norz 2016) – den Lebensunterhalt sichern zu müssen, darüber hinaus wirkt auch die ökonomische Frage nach der Zukunft der Arbeit in die Schulen hinein, und hierauf sollen die Künste Antworten geben können. Netzwerkgesteuerte Projektarbeiten, die eigenständige und flexible Organisation von Lernprozessen, gouvernementale Praktiken der Leistungsbewertung und Rückmeldung: dabei handelt es sich um Kompetenzen, Fähigkeiten und Einstellungen, von denen man schon länger ahnt, dass sie im Künstler geradezu prototypisch entwickelt sind, der damit unfreiwillig (vgl. Loacker 2010) zur Galionsfigur des Arbeitskraftunternehmertums wird.

Die praxistheoretische Perspektive

Der vorliegende Beitrag nimmt nun eine praxistheoretisch-subjektivierungstheoretische Perspektive ein, um abseits dieser komplexen gesellschaftlichen und bildungspolitischen Gemengelage die Arbeit von Künstler*innen in ihrem konkreten Tun zu rekonstruieren. Nicht nur vermeidet man auf diese Weise die fast schon traditionelle Überfrachtung der Künste im Rahmen quasi-religiöser Heilserwartungen (Baader 2007), vielmehr eröffnet die praxistheoretisch-subjektivierungstheoretische Perspektive die Möglichkeit, Kulturelle Bildung als (konflikthafte) Wissensordnung zu verstehen, sodass auch das Handeln von Künstler*innen an Schulen in einem nicht stillzustellenden Raum zwischen Kunst und Bildung sowie angrenzenden ökonomischen Trends (Netzwerkökonomie) verortbar wird. Zunächst ist allerdings zu klären, auf welchen theoretischen und method(olog)ischen Prämissen der vorliegende Beitrag aufbaut.

Praxistheorien sind soziologische Kulturtheorien, d.h. dass sie Sozialität, soziale Ordnung und deren Reproduktion sowie Veränderung entlang des Kulturellen, also einen spezifischen „Komplex von […] ,symbolischen Ordnungen‘“ (Reckwitz 2000:84) untersuchen. Diese symbolischen Ordnungen sedimentieren sich in sogenannten Wissensordnungen (ebd.) und diese gelten, und das grenzt die Praxistheorien von anderen Kulturtheorien ab, als nicht im Mentalen der Akteure verortet oder als in Dokumenten fixiert, sondern als im Tun der „Agenten“ verankert. Soziale Ordnung entsteht, wird aufrechterhalten und verändert durch das praktische Tun aller an einer sozialen Situation Beteiligten. „Kultur“ ist damit die Gesamtheit des Sozialen und wird von jenen Beteiligten fortwährend praktisch körperlich hervorgebracht und darin reproduziert und/oder verschoben.

Mit diesen theoretischen Setzungen grenzen sich Praxistheorien v.a. zunächst negativ von anderen Ansätzen ab: „Praxistheorien richten sich sowohl gegen objektivistische (kollektivistische, holistische, strukturalistische) als auch gegen subjektivistische (individualistische, atomistische, intentionalistische) Erklärungen des Sozialen.“ (Alkemeyer/Buschmann 2016:116) Pierre Bourdieu hat die Überwindung dieser klassischen Frontstellung über sein Konzept des Habitus versucht, das gleichermaßen die objektive wie die subjektive Seite des Sozialen beschreibbar machen sollte (Bourdieu 2015; 2017). Auf diese Weise wird der „‚impliziten‘, ‚informellen‘ Logik“ des Sozialen mehr Aufmerksamkeit geschenkt, die „den Rationalismen und Intellektualismen anderer Sozial- und Kulturtheorien entgegenstellt“ wird (Reckwitz 2003:290; Hervorh. im Orig.). Diese „negative“ Definition der Praxistheorien wird auch dort deutlich, wo mit ihnen eine Rehabilitierung zuvor marginalisierter Dimensionen des Sozialen zugeschrieben wird: Gegen die im linguistic turn implizite „Körpervergessenheit der Soziologie“ (Fischer 2017:162) rücken im Rahmen eines body turn (Gugutzer 2006) die körperliche Dimension sowie die in Artefakten eingelagerte „Materialität des Sozialen“ (Reckwitz 2003:290; Hervorh. im Orig.) wieder in den Fokus.

Für die vorliegende Untersuchung ist nun v.a. die Frage nach dem Subjekt von Interesse, da die Künstler*innen als Subjekte im Fokus der Untersuchung stehen. Darüber hinaus ermöglicht die praxistheoretische Perspektive auch neue Antworten auf solche Fragen, was eigentlich als Subjekt gilt, wie wir zu Subjekten werden und wie wir als solche auch Freiräume beanspruchen können. Ich beziehe mich hierbei v.a. auf die Arbeiten Michel Foucaults, der die Kategorie des Subjekts in verschiedenen Studien konsequent historisiert (Foucault 1974), in umfängliche Machtrelationen einbettet (Foucault 1977) und gleichzeitig Möglichkeiten der Kritik auslotet (Foucault 1992), sowie deren Deutung und sprachtheoretische Wendung bei Judith Butler (2015; 2017). Die Einsicht in die historische Kontingenz des (abendländisch-europäischen) Denkens und die darin entwickelte Deutung des Individuums als Subjekt ist dabei die Grundlage, die alle anderen Fragen erst eröffnet. Erst wenn das Subjekt nicht mehr als zeitlose Konstante, als quasi-anthropologische Prämisse gilt, erst dann können Fragen nach dem Zustandekommen (und der Versagung) des Subjektstatus Geltung beanspruchen.

Foucault beantwortet diese Frage, kurz gesagt, mit dem Verweis auf überindividuelle Normen, denen sich das Individuum unterwerfen muss, um als Subjekt anerkannt werden zu können. Dieser Prozess wird als Subjektivierung beschrieben. Während Foucault in „Überwachen und Strafen“ (Foucault 1977) dabei kaum „subjektiven‘ Handlungsspielraum zuzulassen scheint, widmet er sich in seinem Spätwerk verstärkt den Technologien des Selbst, die zwar nicht außerhalb von Machtrelationen zu denken sind, aber eine Form der Selbstregierung ermöglichen (Foucault 2000).

Butler (2015) nimmt diese machttheoretische Justierung der Subjektwerdung bei Foucault auf und verknüpft diese mit dem Althusser’schen Konzept der Anrufung: Subjektivierung geschieht dort, wo Individuen als Subjekte angerufen werden, und diese werden in der Affirmation jener Anrufung subjektiviert, d.h. zuallererst als Subjekte intelligibel: „»Subjektivation« bezeichnet den Prozeß des Unterworfenwerdens durch Macht und zugleich den Prozeß der Subjektwerdung. Ins Leben gerufen wird das Subjekt, sei es mittels Anrufung oder Interpellation im Sinne Althussers oder mittels diskursiver Produktivität im Sinne Foucaults, durch eine ursprüngliche Unterwerfung durch die Macht.“ (Butler 2015:8)

Die Frage nach der Arbeit von Künstler*innen erscheint in dieser Perspektive als Frage nach der Subjektivierung von Künstler*innen im spezifischen Kontext von Bildungseinrichtungen. Wie Schüler*innen und Lehrkräfte unterliegen auch die Kooperationspartner*innen an Schulen spezifischen Subjektivierungsprozessen. Innerhalb dieser theoretischen Modellierung geraten Künstler*innen als professionelle Akteure in den Blick, die außerhalb ihres professionell angestammten Feldes agieren. Die habituellen Prägungen, die mit der Professionalisierung in den Künsten einhergehen, werden durch schulische Wissensordnungen infrage gestellt. Diese verschiedenen Wissensordnungen driften etwa dort auseinander, wo in der Tradition des l’Art pour l’art eine Autonomie der Kunst verteidigt wird, während der Kunstunterricht die Künste als Lerngegenstand in eine funktionale Ordnung eingliedert, die einem Ziel – abstrakt formuliert: Bildung – untersteht. Diese Funktionalisierung betrifft natürlich nicht nur die Künste; Lernen findet in Schulen an Lerngegenständen statt, die als solche entweder erst entworfen werden müssen (z.B. als Arbeitsblätter), oder pädagogisch umgedeutet werden: So werden der Bergkristall im Geografieunterricht durch seine Einbettung in selbigen zum Beispielobjekt eines bestimmten Kristallisationsprozesses und der Film „M – eine Stadt sucht einen Mörder“ (1931) im Deutschunterricht zum Beispielobjekt für die Ästhetik von Parallelmontagen.

Die Relationen, die durch die schulische Wissensordnung zwischen Artefakten und menschlichen Akteuren präfiguriert werden, können nun auch für die Inter-aktion menschlicher Akteure nicht von der Hand gewiesen werden. Lehrkräfte als auch externe Kooperationspartner*innen werden mit Erwartungen, Hierarchien, Zielvorstellung konfrontiert, die spezifisch für Bildungseinrichtungen sind. Die damit einhergehenden Chancen wurden im Kontext kultureller Schulentwicklung an verschiedenen Stellen formuliert (u.a. BKJ 2017; Fuchs/Braun 2015; 2016a; 2016b; Aktaş/Gläßer 2019), seltener rücken auch Widerstände und Differenzen in den Fokus (Fuchs 2019:38–39). Unter der Prämisse, dass die Anwesenheit von Künstler*innen nicht umgehend die schulische Wissensordnung transformiert, im Gegenteil, Künstler*innen sogar als change agents in die Schulen kommen, um dort einem neoliberal geprägten Schulentwicklungsparadigma folgend diese zu optimieren, ist anzunehmen, dass die bildnerische Praxis von Künstler*innen immer auch eine Aushandlung dessen ist, was Schule „ist“ bzw. „sein soll“.

So wie individuelle Künstler*innen also schulische Wissensordnungen kurzfristig und lokal irritieren können, um mittel- und langfristig etwa an einer Veränderung der Lernkultur mitzuwirken (was im Sinne einer jeweils näher zu bestimmenden Optimierung des Schulischen passiert), kann die schulische Wissensordnung auf die Künstler*innen und deren Praxis zurückwirken; Arbeitsweisen werden an den schulischen Rahmen angepasst, womöglich wirkt sich die bildnerische Arbeit an Schulen auch auf die außerschulisch-professionelle künstlerische Arbeit aus, indem etwa der partizipative oder soziopolitische Aspekt der eigenen künstlerischen Arbeit betont wird.

Die praxistheoretischen Grundlagen und darin das Modell der Subjektivierung werfen damit nicht nur ein neues Licht auf den Bildungsprozess von Schüler*innen, sondern können auch für die Potenziale und Widersprüche sensibilisieren, die in der interprofessionellen Kooperation zwischen Künstler*innen und Lehrkräften auftauchen. Um diese theoretische Setzung für die empirische Forschung fruchtbar zu machen, ist es allerdings notwendig, Subjektivierung auch methodologisch auszuarbeiten und somit darzulegen, wie Subjektivierungsprozesse empirisch rekonstruiert werden können. Im folgenden Abschnitt beziehe ich mich dabei auf Arbeiten aus dem Kontext des DFG-Projekts as:pect, in dem die Sprachlichkeit der Anerkennung im Zentrum des Forschungsinteresses stand und im Rahmen dessen eine adressierungsanalytische Heuristik ausgearbeitet wurde.

Methodologie einer körper-/materialsensiblen adressierungsanalytischen Subjektivierungsforschung

Das vergleichsweise junge Forschungsfeld der Subjektivierungsforschung (Geimer/Amling/Bosančić 2019) hat in den letzten Jahren einige Aufmerksamkeit in der Schulpädagogik erfahren (u.a. Alkemeyer/Budde/Freist 2013; Gelhard/Alkemeyer/Ricken 2013). Darin werden praxistheoretische Prämissen der Sozialwissenschaften mit pädagogischen Fragestellungen verknüpft, die dadurch neu akzentuiert werden. Subjektivierungsforschung kann dabei nicht reibungslos in den Forschungskanon der Pädagogik eingehen, da das praxistheoretisch justierte Subjektverständnis bisweilen quer zu pädagogischen Denktraditionen liegt, in denen das Subjekt klassisch autonom, stark und als Herr seines eigenen Bildungsprozesses begriffen wird. Die aktuelle Konjunktur dieses Forschungszweiges liegt daher nicht zuletzt theoretisch in ebenjenen Strömungen begründet, die diese tradierten Kategorien – allen voran das Subjekt – kritisch hinterfragen.

Die Adressierungsanalyse, deren Verfahrensweise ich für meine Untersuchung adaptiert habe, knüpft dort an praxistheoretische Theoriebildung an, wo die Anrufung bzw. Adressierung als zentraler Mechanismus der Subjektivierung begriffen wird. Sie wurde im Rahmen des Forschungsprojekts as:pect unter den Annahmen entwickelt, Anerkennung zum einen als „(Modus der) Subjektivation“ (Balzer 2014:581) zu fassen, und diese zum anderen in verbalen Adressierungen und Re-Adressierungen zu verorten (zum Überblick: Ricken/Rose/Kuhlmann/Otzen 2017; Rose/Ricken 2018; Rose 2019). Daraus ergibt sich die Möglichkeit, die subjektivierenden Strukturmomente sozialer Interaktion als Anerkennungsprozesse qua (Re-)Adressierungen zu fassen. Neben Analysepunkten, die eher klassisch-konversationsanalytisch gelagert sind, fasst die Adressierungsanalyse die Dimensionen Normen/Wissen, Macht sowie Selbstverhältnis als differenzierte, aber miteinander verwobene Ebenen der Subjektivierung.

Wenngleich diese Form der Operationalisierung den zuvor erläuterten subjektivierungstheoretischen Überlegungen entspricht und wichtige Aspekte des Subjektivierungsprozesses einfängt, ist die alleinige Fokussierung auf das sprachliche Geschehen unbefriedigend. Die Autoren weisen dabei selbst darauf hin, dass mit ihrer Heuristik „nicht das Interaktionsgeschehen auf seine Sprachlichkeit zu reduzieren“ sei und dass die Erforschung der „materialen Kontexte“ „vor erhebliche Schwierigkeiten“ stellt und „noch weitgehend aus[steht]“ (Ricken/Rose/Kuhlmann/Otzen 2017:220, Anm. 8). Dieser Befund ist weiterhin gültig und stellt sich als dringende Frage der Pädagogik heraus, wenn man auf die Bedeutung der Materialität für das Soziale in praxistheoretischen Theorieansätzen schaut (vgl. Rabenstein 2018; Thompson/Hoffarth 2013:269). Auch wenn an dieser Stelle diese Lücke selbstverständlich nicht geschlossen werden kann, soll mit einem Rückgriff auf Foucaults Arbeiten zumindest versucht werden, ein Theorieangebot zu formulieren, das es methodologisch auszuwerten gelte.

Foucault ist seinerseits sicher nicht vorrangig als Theoretiker der Materialität zu verorten, doch bietet v.a. das Konzept des Dispositivs (Bührmann/Schneider 2008; Agamben 2008) eine Möglichkeit, die materielle Ebene im Rahmen von Subjektivierungsprozessen einzuholen, die mit der wesentlich an Foucaults Machtkonzeption aufbauenden Theorie der Subjektivierung via Anrufung/Adressierung kompatibel ist.

Der Begriff des Dispositivs findet in Foucaults Werk keine echte Definition, am häufigsten zitiert wird in diesem Zusammenhang eine ausführlichere Erörterung seines Begriffsverständnisses im Rahmen eines Interviews 1977:

„Das was ich mit diesem Begriff zu bestimmen versuche, ist erstens eine entschieden heterogene Gesamtheit, bestehend aus Diskursen, Institutionen, architektonischen Einrichtungen, reglementierenden Entscheidungen, Gesetzen, administrativen Maßnahmen, wissenschaftlichen Aussagen, philosophischen, moralischen und philanthropischen Lehrsätzen, kurz: Gesagtes ebenso wie Ungesagtes, das sind die Elemente des Dispositivs. Das Dispositiv selbst ist das Netz, das man zwischen diesen Elementen herstellen kann. Zweitens ist das, was ich im Dispositiv festhalten möchte, gerade die Natur der Verbindung, die zwischen diesen heterogenen Elementen bestehen kann. So kann irgendein Diskurs mal als Programm einer Institution, mal im Gegenteil als ein Element erscheinen, das es erlaubt, eine Praktik zu rechtfertigen oder zu verschleiern, die selbst stumm bleibt, oder er kann auch als Sekundärinterpretation dieser Praktik funktionieren und ihr Zugang zu einem neuen Rationalitätsfeld verschaffen. Kurz, zwischen diesen diskursiven oder nicht-diskursiven Elementen gibt es gleichsam ein Spiel, gibt es Positionswechsel und Veränderungen in den Funktionen, die ebenfalls sehr unterschiedlich sein können. Drittens verstehe ich unter Dispositiv eine Art – sagen wir – Gebilde, das zu einem historisch gegebenen Zeitpunkt v.a. die Funktion hat, einer dringenden Anforderung nachzukommen. Das Dispositiv hat also eine dominante strategische Funktion.“ (Foucault 2016:392–393).

Was für unseren Zusammenhang wichtig ist, ist einerseits die Einbindung der räumlich-materiellen Ebene am Beispiel der Architektur in das Netz des Dispositivs, und andererseits der Verweis auf das Spiel zwischen diskursiven und nicht-diskursiven Elementen, das die strategische Funktion des Dispositivs unterstreicht. Inwieweit die räumlich-materielle Ebene Dispositive mitkonstituiert, wird am deutlichsten sichtbar in der Stellung des Bentham’schen Panopticons, das Foucault hinsichtlich der Disziplinarmacht als „Funktionsmodell [versteht], das die Beziehungen der Macht zum Alltagsleben der Menschen definiert.“ (Foucault 1977:263) Die ausgeklügelte Architektur im Entwurf Benthams war auf bestimmte Achsen der Un-/Sichtbarkeit ausgelegt, die in ähnlicher Form auch in Kliniken oder Schulen architektonisch umgesetzt wurden. Die ebenfalls einen Teil des Dispositivs mitkonstituierende „Zusammenschaltung von Körper und Objekt“ (Foucault 1977:196) analysiert Foucault an den in der militärischen Ausbildung eingeübten komplexen Handlungsanweisungen, durch die das korrekte Präsentieren des Gewehrs möglich wird: Es handelt sich dabei um

„ein Beispiel für die instrumentelle Codierung des Körpers: Sie [die Handlungsanweisung, SG] zerlegt die Gesamthandlung in zwei parallele Reihen: Die Reihe der Körperelemente, die ins Spiel zu bringen sind (rechte Hand, linke Hand, verschiedene Finger, Knie, Auge, Ellbogen) und die Reihe der manipulierten Objektelemente (Lauf, Kerbe, Hahn, Schraube); und dann setzt er [der Körper, SG] die beiden mit Hilfe einer Reihe einfacher Gesten (stützen, beugen) in Beziehung zueinander; schließlich fixiert sie die kanonische Folge, in der jede dieser Korrelationen einen bestimmten Platz einnimmt. […] Die gesamte Berührungsfläche zwischen dem Körper und dem manipulierten Objekt wird von der Macht besetzt: die Macht bindet den Körper und das manipulierte fest aneinander und bildet den Komplex Körper/Waffe, Körper/Instrument, Körper/Maschine.“ (Foucault 1977:197)

Die Relationen, die die Macht zwischen Körpern und Objekten ausbildet, sowie die zentrale Bedeutung der Un-/Sichtbarkeit, die im Rahmen der Disziplinarmacht v.a. architektonisch sichergestellt wird, weisen bereits in dieser ersten oberflächlichen Sondierung nachdrücklich darauf hin, dass Subjektivierung theoretisch mehr als bloß ein sprachliches Geschehen ist. Die Räume und Dinge sind andererseits, diese Verkürzung muss ebenso vermieden werden, keine prädiskursiven Entitäten, noch eignet ihnen eine stabile Bedeutung. Räume und Dinge sind Teil des Subjektivierungsprozesses durch und innerhalb ihrer diskursiven Formation. Diese Perspektive wurde mit Blick auf Körper insbesondere von Judith Butler (Butler 2015; 2017; 2019) ausgearbeitet und muss v.a. hinsichtlich des „epistemologischen Status der Dinge“ (Rabenstein 2018:15) in der Schulpädagogik breiter diskutiert werden. Nehmen wir an dieser Stelle die diskursive Formation von Räumen und Dingen an, muss diese auch methodologisch fassbar werden.

Versucht man vor diesem Hintergrund das Schema der Adressierungsanalyse zu erweitern, müssen Raum und Artefakte als zwei neue Ebenen neben dem Sprachlichen verstanden werden, in denen sich Normen/Wissen, Macht und Selbstverhältnis empirisch rekonstruieren lassen. Diese Ebenen sind allerdings nicht getrennt voneinander, sondern sind miteinander verwoben unter dem Primat des Dispositivs. Welche Räume und Dinge ein Dispositiv hervorbringt und was als sagbar erscheint, ist nicht unabhängig voneinander, sondern über das Dispositiv miteinander „vernetzt“: Gewisse Artefakte, z.B. Untersuchungsinstrumente, öffnen bzw. schließen diskursive Räume (z.B. innerhalb der Humanwissenschaften), und was innerhalb des Diskurses Wahrheit beansprucht, kann sich auf den Gebrauch von Artefakten auswirken.

Zur Veranschaulichung der angedachten Erweiterung der adressierungsanalytischen Heuristik (zuerst veröffentlicht bei Kuhlmann/Ricken/Rose/Otzen 2017) zitiere ich an dieser Stelle die dort formulierten „Kernfragen“ der jeweiligen Analysedimensionen und versuche daran anschließend das Potenzial auszuweisen, das eine Erweiterung um die räumlich-materielle Ebene nach Foucaults Dispositivbegriffs bieten würde.

(1) Normen & Wissen: „Welche Wissens- und Normhorizonte werden hervorgebracht? Was kann als Erkenntnis/Fähigkeit Geltung beanspruchen?“ (ebd.)

Der Schule sind bestimmte Normhorizonte inhärent, die sich auch architektonisch-räumlich manifestieren. Dazu gehört nicht nur die Vermeidung „dunkler Ecken“ auf dem Pausenhof, sondern ebenso die Parzellierung der Schüler*innen in Klassen-, Fach- und Werkräumen. Diese sind entsprechend spezifischer Norm- und Wissensordnungen ausgestattet, was sich in der technischen Ausstattung des Raums ebenso manifestiert wie in der Anordnung der Tische und Stühle bzw. der Möglichkeit, diese Anordnung selbstständig anzupassen. Im Kontext Kultureller Bildung und der Arbeit von Künstler*innen wäre insbesondere darauf zu achten, ob und inwiefern schulische und künstlerische Wissens- und Normhorizonte miteinander konkurrieren, inwieweit künstlerische Normhorizonte in der Schule Geltung beanspruchen können oder auch inwieweit sich die Künste an der Schule abarbeiten. Zudem ist die nonverbale, vielmehr körperliche Performanz von Wissen und Fähigkeit im künstlerischen Bereich von zentraler Bedeutung, besonders anschaulich etwa im Tanz.

(2) Macht: „Welche temporären Positionen und Verhältnisse werden explizit und implizit hervorgebracht? (ebd.)

Bereits der Verweis auf die räumliche Metaphorik der Begriffe „Positionierung“ und „Relationierung“ mag ersichtlich machen, wie sehr Subjektpositionen und damit verbundene Fragen der Macht nicht nur metaphorisch, sondern immer auch räumlich zu denken sind. Nicht nur präfigurieren räumlich-materielle Arrangements spezifische Machtgefälle etwa über Sicht-Ordnungen, die Hierarchien in Kategorien der Sichtbarkeit bzw. Nicht-Sichtbarkeit übersetzen, darüber hinaus kann sich dieses Macht-„Gefälle“ auch wortwörtlich körperlich, etwa bereits im Unterschied zwischen Stehen und Sitzen, zeitigen. Im Kontext der hier vorgestellten Arbeit wäre insbesondere zu klären, wie sich Künstler*innen in den jeweils zu analysierenden Situationen in Relation zu den anderen Beteiligten setzen bzw. gesetzt werden; des Weiteren wäre es interessant herauszuarbeiten, ob bzw. inwiefern sich schulisch geprägte Positionierungen und Relationierungen (etwa hinsichtlich der Leistungsfähigkeit) in die künstlerische Arbeit übersetzen oder inwieweit dort andere Figurationen möglich werden.

(3) Selbstverhältnis: „Welche Figuren der Selbstführung/Selbsttechnologien werden explizit und implizit hervorgebracht? (ebd.)

Selbsttechnologien, wirken sie dem Begriff nach auch vermeintlich solitär, sind eng mit Räumlichkeit und Materialität verflochten. So ist nicht von der Hand zu weisen, dass die neoliberalen Technologien der Selbstoptimierung nicht ohne Schritt- und Kalorienzähler, Schlaftracker oder Körperfettwaage usw. praktiziert werden können. Und auch Fitnessstudios sind räumlich auf diese Form der Selbsttechnologie ausgelegt. Schulen dagegen, klassifiziert man sie nach wie vor als Orte der Disziplin, figurieren Technologien der Selbstüberwachung. Die Internalisierung der Fremdführung zur Selbstführung steht dabei im Vordergrund, in den zahlreicher werden Formaten der eigenständigen Leistungskontrolle entwickelt sich die Schule als Disziplinarinstitution weiter. Es ist nun anzunehmen, dass die künstlerische Wissensordnung ihrerseits spezifische Selbsttechnologien hervorbringt: Das Motiv des Künstlerlebens als „Lebensstil“ (Boheme) deutet darauf hin.  

Blick in die Praxis

Zur Konkretisierung des adressierungsanalytischen Vorgehens dient an dieser Stelle ein Ausschnitt aus einem Feldprotokoll einer teilnehmenden Beobachtung. Es handelt sich dabei um eine Situation aus dem „offenen Atelier“: Dieses findet einmal wöchentlich während der Mittagspause der Schüler*innen statt, die, pandemiebedingt, zeitversetzt für einzelne Jahrgangsstufen angesetzt ist. Nach dem Mittagessen können die Schüler*innen das Angebot freiwillig besuchen. Im Rahmen dieses Angebots bietet die Künstlerin (K1) v.a. Mal- und Zeichenprojekte an, die entweder im Rahmen eines Termins oder über mehrere Wochen bearbeitet werden. Im vorliegenden Protokoll findet sogenanntes Skateboardzeichnen statt. Dazu hat die Künstlerin eine Papierbahn (etwa 100 x 300 cm) auf dem Boden im Foyer der Schule ausgebreitet. Darüber hinaus stehen ein Skateboard sowie Bleistifte und Filzstifte in einem Holzbehälter bereit. Die Idee ist es, dass sich die interessierten Schüler*innen auf das Skateboard setzen, Schwung holen bzw. angeschoben werden und dann mit den Stiften in der Hand über die Papierbahn rollen, um darauf Linien o. Ä. zu hinterlassen. Dieses an Action-Painting erinnernde Format wird in der protokollierten Sequenz zum ersten Mal angeboten, der Protokollausschnitt stammt ungefähr aus der Mitte der Sequenz, es sind rund 30 Minuten vergangen. K1 bespricht darin mit den beiden Schüler*innen Sw1 und Sw2, wie die Papierbahn weiter gestaltet werden soll.

[…] Die ersten Versuche mit den Filzstiften sind dann auch durchaus erfolgreich, da der Filzstift auch bei geringerem Druck wesentlich mehr Farbe abgibt als ein Bleistift, v.a. bei höheren Härtegraden. Somit ergibt sich ein Bild, dass durch viele blassere Bleistiftlinien strukturiert ist, auf dem dann einzelne breitere, dunkelschwarze Filzstiftlinien hervortreten. Die gezogenen Linien lassen nach wie vor eine grundlegende Orientierung der Länge nach erkennen, und gegen Ende des Angebots stößt – jetzt K1 selbst – mit Blick auf die Papierbahn die Frage an, ob nun abschließend vielleicht noch Linien der Breite nach ergänzt werden sollten: „Wollt ihr noch ein paar Linien quer machen? Dann hätte es etwas Mathematisches, weil sich die Linien dann ganz klar überkreuzen würden“, überlegt K1 und legt dabei ihre Handkanten vor der Brust im rechten Winkel übereinander. Sie steht ein, zwei Schritte vor der Papierbahn, Sw1 und Sw2 knien direkt daran. Sie schauen auf die Papierbahn und zu K1, sie scheinen zu überlegen. K1 schaut noch einmal aufs Papier: „So hat es etwas ganz Organisches, das schon, aber der Künstler in mir würde jetzt natürlich auch gern dagegen gehen!“ Sw1 steht auf, geht einen Schritt zurück und stimmt ihr zu, relativiert dann aber umgehend: „Ja, ich würde das zwar voll gerne ausprobieren, aber ich glaube am Ende würde dann doch mein Herz bluten“ – „dein Herz bluten? So schlimm?“, fragt K1 lächelnd, Sw1 erwidert: „Ja, nein, ich glaube das fände ich ganz schlimm wenn da jetzt noch quere Linien draufkämen“. Sw2 schaut während dieses Gesprächs weiter kniend auf das Papier, sie sagt dann zögerlich: „Also ich würde es ja gerne ausprobieren, aber ich weiß nicht …“, und verstummt.

Interessant ist v.a. die diskursive und räumliche Positionierung der Beteiligten mit Relation zum Werk (der Papierbahn) als zentrales Artefakt. Die Turnorganisation erfolgt zwar außerhalb klassisch-schulischer Interaktionsschemata (vgl. Mehan 1979), K1 positioniert sich dennoch sprachlich als Leiterin, Beaufsichtigende des künstlerischen Prozesses („wollt ihr […]“), und die Schüler*innen werden von ihr als kompetente Gestalter*innen des Prozesses eingesetzt. Gleichzeitig ruft K1 Elemente eines künstlerischen Normhorizonts auf, und zwar der „mathematischen“ bzw. „organischen“ Ästhetik („Dann hätte es etwas Mathematisches […]“). Diese rezeptive Wirkungsbeschreibung positioniert K1 als Expertin für das künstlerische Metier, auch gerade weil das nötige Hintergrundwissen implizit bleibt: Was eine „mathematische“ bzw. „organische“ Ästhetik als solche charakterisiert, wird nicht thematisiert, die Schüler*innen können lediglich versuchen, aus dem vorliegenden Beispiel Rückschlüsse zu ziehen. Ihren Expertinnenstatus unterstreicht K1 später nochmals in ihrer Selbstbeschreibung („der Künstler in mir […]“). In dieser Selbstbeschreibung K1s und ihrem „inneren Künstler“ positioniert sie sich auch in einem künstlerischen Diskurs, der das Organische ablehnt zugunsten einer „mathematischen“ Ästhetik. Das Durchkreuzen der Ordnung im doppelten Sinne ruft sie als ihre „Künstlernatur“ auf.

Die beiden Schüler*innen greifen nicht auf das Vokabular K1s zurück, sondern argumentieren mit einer Art ästhetischen Emotionalität, die für sie gleichzeitig schwer zu verbalisieren zu sein scheint. Sowohl Sw1 als auch Sw2 bekunden Interesse daran, den Vorschlag von K1 auszuprobieren, demgegenüber steht aber das Risiko, das bisherige Kunstwerk durch die Querlinien zu ruinieren („am Ende würden dann doch mein Herz bluten“). Hier werden Unterschiede deutlich zwischen einer schulischen Wissensordnung, im Rahmen derer gemachte Fehler zumeist reversibel sind bzw. im Rahmen des Unterrichts aktiv korrigiert werden, und der künstlerischen Wissensordnung, zu der auch die Einmaligkeit des Produkts sowie des künstlerischen Prozesses gehört. Deutlich wird hier eine Unsicherheit im künstlerischen Arbeiten, die das bereits Geschaffte bzw. „Geschaffene“ nicht riskieren will. Auch wenn die Schüler*innen versuchen, die Selbstbeschreibung von K1 als Künstlerin für sich zu übernehmen und sich somit ebenfalls als Künstlerinnen zu positionieren, indem sie Interesse an der Idee zeigen, das Bild um Querlinien zu ergänzen, möchten sie der damit von K1 aufgerufenen und einhergehenden Norm, die das Kontern der organischen Ästhetik vorsieht, nicht erfüllen.

Sw1 und Sw2 wird zwar die Rolle der kompetenten Gesprächspartner*innen zugesprochen, darin verbleiben sie aber im Rahmen dieser Sequenz in der Schülerinnenrolle. Interessant ist dabei, dass Sw1 die Reflexionspraktik von K1 auch auf einer räumlich-materiellen Ebene versucht zu adaptieren: Sw1 steht auf, um wie K1 die Papierbahn von einer erhöhten Beobachterposition zu betrachten, um erst daraufhin ihr Urteil zu fällen. Diskursiv als Expertin und Künstlerin positioniert, nimmt K1 in dieser Situation auch räumlich eine Sonderstellung ein, die Sw1 in dieser Situation nachahmt. Sw2 dagegen verbleibt in unmittelbarer Nähe zur Papierbahn und dem künstlerischen Prozess, nichtsdestoweniger versucht sie ein Urteil zu formulieren. Die in dieser Reflexionspraxis gezeigte räumlich-materielle Komponente – man betrachtet das Werk in Ruhe, außerhalb des künstlerischen Arbeitens, mit nötigem Abstand, um einen Überblick zu erhalten – verweist ebenso auf einen künstlerischen Normhorizont, der tradierte Verfahren zur angemessenen Rezeption eines Kunstwerks bereithält.

Ein vorläufiges Fazit der Auswertung des obigen Protokollausschnitts könnte lauten, dass sich Künstler*innen als auch Schüler*innen in Praktiken (der künstlerischen Tätigkeit; der Reflexion des Prozesses) zwischen künstlerischen und schulischen Wissensordnungen bewegen, die von den Akteuren situativ aufgerufen werden. Gerade die Selbstpositionierung der Künstler*innen kann hierfür als wichtiges Vehikel gelten, da hierin diskursiv-sprachlich wie auch räumlich-materiell Differenzen zwischen konfligierenden Wissensordnungen verhandelt werden.

Fazit

Abschließend und unter Berücksichtigung der Hinweise aus der empirischen Forschung lässt sich festhalten, dass sich Kulturelle Bildung an Schulen als Spannungsfeld von Kunst und Bildung darstellt und Künstler*innen sowie Schüler*innen sich in diesem Rahmen an differierenden Wissensordnungen orientieren, die sie unter Bedingungen lokalen, situativen Handlungsdrucks selektiv in Praktiken aktualisieren und damit, stets gebrochen, reproduzieren. Die Positionierungen und Relationierungen zwischen Künstler*innen und Schüler*innen müssen nicht zwangsläufig die hierarchische Relation zwischen Lehrkraft und Schüler*in verdoppeln, gleichzeitig kommt Künstler*innen ein Expert*innenstatus zu bzw. reklamieren sie diesen für sich, der Schüler*innen gleichzeitig als Laien, als Lernende positioniert.Die rekonstruktive Subjektivierungsforschung kann somit einen Beitrag zur Erforschung kultureller Bildungspraktiken leisten, und zwar nicht nur, um Bildungsprozesse von Schüler*innen zu rekonstruieren, sondern um die Rahmenbedingungen kultureller Bildungspraxis für an Schulen engagierte Künstler*innen zu untersuchen, die sich unmittelbar auf die konkrete Bildungsarbeit auswirken. Die adressierungsanalytische Heuristik, die häufig zur Erforschung von Subjektivierungsprozessen herangezogen wird, muss weiterhin kritisch auf die Rolle von Materialität und Raum/Zeitlichkeit der Adressierungen und damit einhergehenden Subjektivierungsprozesse befragt werden. Eine Erweiterung der Analyseheuristik in dieser Hinsicht wäre nicht nur für die Kulturelle Bildung ein Gewinn.

Verwendete Literatur

  • Agamben, Giorgio (2008): Was ist ein Dispositiv? Zürich, Berlin: diaphanes.
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Stefan Gebhard (2022): Subjektivierungsforschung in der Kulturellen Bildung: Künstler*innen-Subjekte zwischen Kunst, Ökonomie und Bildung. In: KULTURELLE BILDUNG ONLINE: https://www.kubi-online.de/index.php/artikel/subjektivierungsforschung-kulturellen-bildung-kuenstler-innen-subjekte-zwischen-kunst (letzter Zugriff am 16.07.2024).

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